Bankrott des Jahres

Der Isländer, so hat man es sich immer vorgestellt, verbringt die Zeit von Herbstanfang bis Frühlingsende und im Sommer die meiste Zeit des Tages in einem Bottich mit dampfend heißem Wasser, das beständig aus dem Erdreich sprudelt. Sitzt er einmal nicht im Bottich, fängt er Fische, schert ein Schaf oder brennt sich einen Schnaps. Geysirtouristen, die Alkoholsteuer und Björk schaffen genug Geld in die Kasse für ein passables Bildungs- und Gesundheitssystem. Unangenehme Aufgaben erledigen domestizierte Elfen.
Es war die Überraschung des Jahres, als man erfahren musste, dass in der »nordatlantischen Schweiz«, abgesehen vom Job der Elfenbeauftragten, nichts mehr sicher ist. Die Insel stehe kurz vor dem Staatsbankrott, hieß es. Früher galt eine Reise nach Island als unbezahlbar, heutzutage schicken der IWF und die Russen Weihnachtspäckchen mit Krediten drin, und jeder zweite junge Isländer plant schon, die Insel zu verlassen.
Für die noch knapp 320 000 Einwohner heißt es, den Gürtel enger zu schnallen. Das dürfte kein Problem sein, denn ein leichtes Drücken an der Plautze sind sie gewohnt. Beim Nationalsport Glíma zerrt man sich gegenseitig an den Gürteln und versucht sich dabei aus dem Gleichgewicht zu bringen. Da diese Form der körperlichen Ertüchtigung jedoch etwas aus der Mode gekommen ist, hat man noch etwas anderes gelernt: das Demonstrieren. Die für ihre äußerste Zurückhaltung bekannten Inselbewohner sind angesichts der Misswirtschaft so wütend geworden, dass sie das nun jede Woche auf dem zentralen Platz in Reykjavik tun, mit nur allmählich nachlassendem Elan. Meist werden dabei Neuwahlen gefordert, aber es waren auch bereits radikalere Forderungen wie »We want sunshine!« auf Schildern zu lesen.
Bei alledem nimmt die Militanz in erstaunlichem Maße zu. Am Donnerstag voriger Woche bewarf eine Gruppe von Leuten den prominentesten Unternehmer und ehemals reichsten Finanz­investor des Landes, Jón Ásgeir Jóhannesson, mit Schneebällen. Einer traf ihn mitten ins Gesicht.   gs