50 Jahre kubanische Revolution

Die Enkelkinder der Revolution

Am 1. Januar wird die kubanische Revolution 50. Über den Alltag zwischen Verfall und Langeweile und über eine junge Gene­ration von Künstlern und Intellektuellen, die neue Wege aus dem sozialen und kultu­rellen Stillstand suchen.

»Alamar ist eine eigene Welt, hier läuft das Leben anders als drüben in Havanna«, erklärt David Escalona und blickt aus dem 12. Stock eines heruntergekommen Plattenbaus auf sein Stadtviertel in der kubanischen Hauptstadt. Scheinbar wahl­los verteilt – als habe ein Riese einen Sack mit verblichenen Bauklötzchen ausgekippt – stehen Gruppen von pastellfarben schimmernden Plattenbauten auf dem schmalen felsigen Küstenstrei­fen. Der wird durchbrochen von Flächen mit grünen Kiefern. 120 000 Menschen leben hier in der Modellstadt der Revolution, die nie fertig gebaut wurde. »In Alamar gibt es weder einen Fried­­­hof noch eine Kirche. Unser Stadtteil ist eine charmante Unvollendete«, sagt der 24jährige Musiker und Poet und reibt sich lächelnd den dich­ten dunkelbraunen Vollbart. David fühlt sich im Marzahn Havannas zuhause und ist stolz darauf, denn diese Plattenbausiedlung ist ein kreativer Mikrokosmos. Mittendrin steckt David, der sich gerade ein eigenes kleines Musikstudio aufgebaut hat und seit acht Jahren dem Künstlerkollek­tiv Omni Zona Franca angehört. Der Gruppe gehören Bildhauer, Dichter, Maler und HipHopper an. Nicht nur in Alamar sind sie bekannt für ihre Performances über den kubanischen Alltag.
Einige davon sind legendär, wie die »Müllperfor­mance« von 1998. »Wir haben mit den Abfallbergen gespielt, die sich in Alamar auf der Straße türm­ten und nicht abgeholt wurden. Wir sind aus dem Müll auferstanden und haben so Kritik an der chaotischen Situation geübt«, erzählt Luis Eligio, einer der Gründer von Omni. Die Performan­ce endete damals auf der Polizeiwache. Dasselbe geschah bei einem weiteren Auftritt von Omni. Dabei wurden an Bushaltestellen und in den über­füllten Bussen von Alamar Gedichte vorgelesen. Die Künstler thematisierten die alltägliche Realität eines nur punktuell existierenden öffentlichen Nahverkehrs in diesem Stadtviertel. Die hat sich mittlerweile merklich gebessert. Die neuen Busse aus China bedienen die Route Alamar-Havanna in regelmäßigem Takt, und der Weg aus der »Modellstadt des Neuen Menschen«, wie Alamar einst von den Architekten aus Kuba und der Sowjetunion konzipiert wurde, ist einfacher geworden. »In Alamar sollte Che Guevaras Traum vom Neuen Menschen in Erfüllung gehen, denn hier wurden verdiente Revolutionäre, Intellektuelle, aber auch politische Flüchtlinge aus Argentinien und Chile genauso wie Sowjetfreunde angesiedelt«, erklärt Luis die Vergangenheit der heute recht heruntergekommenen Plattenbau-Vorstadt. Hier ist die Wiege des Rap Cubano, und das Kulturzentrum im Herzen Alamars ist ein Treffpunkt für den kreativen Nachwuchs aus den Plat­tenbauten. Hier haben auch die Künstler von Omni Zona Franca ihre Werkstatt. »Faktisch haben wir die Räume einfach besetzt«, erklärt Amaury Pacheco del Monte. Das aus einem guten Dutzend Frauen und Männern bestehende Kunstkollektiv agiert vollkommen unabhängig vom institutionel­len Kulturbetrieb. »Wir haben eine Tournee über die Insel organisiert, und wir waren entsetzt von dem Verfall und der weit verbreiteten Lethargie, die überall sichtbar sind«, erzählt Luis. Amaury und David pflichten ihm nickend bei. »Wir haben immer gedacht, dass der Verfall der Bausubstanz sich auf Havanna beschränkt – doch landesweit ist die Situation dieselbe«, sagt David. Er weiß ge­nau, wie es läuft, denn regelmäßig kauft er Zement für den Ausbau seines kleinen Studios. »100 Pesos kostet der Sack, und jeder Bauarbeiter schafft so viel beiseite, wie er kann«, erklärt er. Ein Grund für die schlechte Bauqualität, aber angesichts der niedrigen Löhne auch nachvollziehbar.

Bei der Fahrt über das Land fällt auch schnell auf, wie es um die kubanische Landwirtschaft bestellt ist. Die klapprigen, abgemagerten Kühe bleiben ge­nauso im Gedächtnis haften wie die weitläufigen Brachflächen und die wenigen Menschen, die auf den Feldern arbeiten. Selbst in den fruchtbaren Bergen und Hügeln der Sierra de Escambray, in der Nähe Trinidads, herrscht vor allem eins – Langeweile. Das bestätigt auch Mariano Hernández von der Kaffee-Kooperative Luís Lara. Sie liegt 30 Kilometer von Trinidad entfernt, aus der Region kommt ein qualitativ hochwertiger Kaffee. Von der Kooperative jedoch immer weniger, wofür Mariano letztlich den Staat verantwortlich macht. »Bei uns fehlt es an allem. Wir erhalten kaum Material, kein Werkzeug, und oftmals kom­men selbst die Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel zu spät.« Der 48jährige macht sich kei­ne Illusionen, dass es in absehbarer Zeit besser wird. »Wenn ich nicht zumindest die Lebensmittel für meine Familie auf dem Land meines Vaters anbauen würde, hätte ich kei­ne Chance, mit meinem Lohn über die Runden zu kommen«, schimpft er. 250 Peso nacional erhält er und muss doch viele Produkte wie Sham­poo, Seife oder Speiseöl, die es auf dem kubanischen Markt nur selten gibt, in der Devisen­tienda einkaufen. Dort bekommt man alles für den CUC, den konvertiblen Peso, doch Mariano erhält wie alle Kubaner seinen Lohn in Peso nacional. Eins zu 24 ist der Wechselkurs, und wer nicht genug verdient, erschließt sich andere Einkommensquellen. Mariano verkauft Lebensmittel vom Feld seines Vaters und hin und wieder einige Liter Diesel, die er abzweigt. In seiner Kooperative machen es alle so. Das ist Alltag in Kuba, und nicht nur Mariano ist genervt von den Bedingungen, unter denen er arbeiten soll. Auch von der Agrarreform der Regierung, die privaten Bauern und Land­­arbeitern rund 13 Hektar staatliches Land pro Kopf zur Nut­zung anbietet, hält er nichts.
»Wer garantiert uns denn die Belieferung mit den nötigen Produktionsmitteln, und wer garantiert uns, dass wir die Früchte unserer Arbeit auch ernten können?« fragt der Traktorist misstrauisch. Das Misstrauen hat durchaus seinen Grund, denn viele der Reformen im Agrarsektor hatten aus Sicht der Privatbauern und der Landarbeiter in der Vergangenheit einen entscheidenden Haken. Während die einen darüber klagen, dass es keine freien Märkte für landwirtschaftliche Produktionsmittel, ob Maschinen, Saatgut, Düngemittel oder Machete und Spaten, gibt, monieren die anderen die niedrigen Löhne und die fehlende Ausstattung der Genossenschaften. Ein Teufelskreis, der dazu geführt hat, dass der Schwarz­­markt für Produktionsmittel blüht, aber viele der halbstaatlichen Genossenschaften längst verödet sind.
Überschuldung, unzureichende Bestellung der Böden und Abwanderung sind in vielen Regionen der Insel ein soziales Phänomen. Nicht nur in den Provinzen, wo 2002 große Zuckerrohranbauflächen für den Anbau von Nahrungsmitteln bereitgestellt wurden, ist der Anteil von brachliegenden Flächen groß, sondern auch rund um Städte wie Matanzas oder Cardenas. Hier lebt man heute vom Tourismus, und wer kann, gibt den öden Job in der Landwirtschaft auf, um in einem Café oder Restaurant in Varadero als Kellner zu arbeiten.
Der Agrarexperte Armando Nova weiß von Genossenschaften, die kaum mehr aktive Mitglieder haben, weil diese im Service an den Hotelstränden besser verdienen. »Es liegt an der Diskre­panz zwischen den Löhnen und den Lebenshaltungskosten, dass die Jobs in der Landwirtschaft oft unattraktiv sind. Daran werden auch die jüngs­ten Reformbemühungen nichts ändern«, meint der Wissenschaftler. Als im Juli 2008 die Reform end­lich von Staatschef Raúl Castro präsentiert wurde, erhofften sich viele den großen Wurf, der die Landwirtschaft endlich wieder ertragreich machen sollte. Doch von diesem Ziel ist das Reförmchen weit entfernt. »Entsprechend schwach ist die Resonanz und die Stimmung auf dem Land«, sagt Nova. Die angestrebte Verbesserung der Lebensmittelversorgung und die Reduzierung der Importe von Reis, Weizen, Hühnerfleisch und ähnlichen Grundnahrungsmitteln beim »Klassen­feind«, den USA, werden somit kaum stattfinden. Für die Kubaner in Stadt und Land ist das keine gute Nachricht.
»Wenn der Staat die Rahmenbedingungen nicht schafft, dann kommen wir auch nicht weiter«, sagt Ramón, ein Barbier aus Havanna, lapidar. Auch der smarte Friseur mit dem modischen Kinnbart und dem schweren goldenen Amulett auf der haarigen Brust kann vom staatlichen Lohn nicht leben. Doch die fünf Friseure in dem staatlichen Salon »Arcoiris« in Havannas Calzada de Infanta haben sich arrangiert. Sie geben zwischen zehn und 40 Prozent ihres Umsatzes an den Staat ab, und der Rest wandert in die eigene Tasche. »Ganz legal«, sagt Ramón und lässt die Schere geschwind über die Haare eines Kunden rotieren. Seit den fünfziger Jahren scheint sich in dem Salon mit den ausladenden Friseursesseln kaum etwas verändert zu haben. Nur die modischen Turnschuhe der Kunden erinnern einen daran, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist. Ramón und seine Kollegen können von ihrem Job halbwegs leben, denn hier gelten längst nicht mehr die staatlichen Preise, sondern Marktpreise – nicht wenige Centavos, sondern einige Pesos werden pro Haarschnitt bereitwillig bezahlt. Man hat sich mit der doppelten Währung arrangiert und mit den latenten Widersprüchen, die sie hervorbringt. Umgerechnet 20 bis 30 CUC, auch chavitos genannt, braucht Ramón, um seine vierköpfige Familie durch­zubringen. So genau kann er das auch nicht sagen, »denn in Kuba wird eher von Tag zu Tag gelebt, und an morgen denken wir erst, wenn es hell wird«, schmunzelt Ramón und rasiert den Nacken eines Kunden penibel aus.

Viele Kubaner haben sich mit den Verhältnissen arrangiert, machen Dienst nach Vorschrift, lassen hier und da etwas mitgehen und halten die Augen offen nach Nebeneinkünften. Eine Interessengemeinschaft von Unterbezahlten, die ihren Lohn nach Kräften auf Kosten des Arbeitgebers aufbessern, hat sich in Kuba entwickelt. Das hat Spuren hinterlassen, und das einst hoch gelobte Gesundheitssystem hat genauso seine dunklen Seiten wie das Bildungssystem. Während Medikamente en gros verschwinden, gehen in den Schu­len die Lehrer aus, weil die Gehälter einfach nicht reichen. Die Ursache für den latenten Verfall sehen viele Kubaner in der doppelten Währung, die de facto die Bevölkerung in zwei Schichten teilt – in Menschen mit und ohne CUC, sprich die Kaufkräftigen und die Hungerleider.
Diesen Zustand, der längst zur Rückkehr der Un­gleichheit geführt hat, will Belinda Salas beenden. Sie ist Präsidentin der Frauenorganisation Plamur, die mit der Kampagne »Con la misma moneda« (Mit derselben Münze) für die Rückkehr zu einer Währung wirbt. Zweimal wurden 10 000 Unterschriften gesammelt, um ein Referendum gegen die doppelte Währung durchzuführen. »Doch bisher wurde auf unsere Anträge nicht geantwortet«, erklärt Salas. Für sie ist die Währungsreform der Weg aus der Dauerkrise, die das Land in die Lethargie geführt hat. Die Reform würde allerdings nur funktionieren, wenn dem Geld ausreichend Produkte gegenüberstehen, warnen Kubas Ökonomen, etwa Omar Everleny. Ein Grund, weshalb am Platz der Revolution die Krise weiter übervorsichtig verwaltet wird.

Den Nachwuchs interessiert das ohnehin kaum mehr. Viele Enkel der Revolution, wie Luis Eligio oder David Escalona, haben es sich längst abgewöhnt, auf Reformen von oben zu warten. Sie suchen nach eigenen Wegen und gehen an die Gren­zen des Erlaubten und manchmal darüber hinaus, um mehr Freiräume zu schaffen. Sie sind keine Einzelfälle, denn vor allem kulturell ist in den vergangenen Jahren einiges in Bewegung gekommen. Eine neue Generation von Raperos und HipHoppern sorgt mit kompromisslosen Texten für Kritik am eintönigen revolutionären Hier und Jetzt. Kubas Blogger erzählen Geschichten aus der kubanischen Realität und haben national und vor allem international für einiges Aufsehen gesorgt. In Havannas Kunstszene werden die inoffiziellen Projekte, die ohne staatliche Erlaubnis laufen, immer zahlreicher. In den allermeisten Fällen scheint der Staat das zu tolerieren, und die Enkel der Revolution nutzen den relativen Freiraum, um eigene Projekte zu organisieren. Für einen anderen Weg abseits der ideologischen Polarisierung plädiert eine ganze Reihe von Musikern wie Raúl Paz, Kelvis Ochoa oder Yusa, aber auch Schriftsteller, Maler und Bildhauer suchen den Dialog mit den kubanischen Kollegen im Exil, sie haben längst Netzwerke aufgebaut und engagieren sich für einen anderen Weg. »Wer, wenn nicht wir Künstler sollte sonst Tabus und Konventionen brechen?« sagt Javier Guerra und deutet wie zum Beweis auf eine der typischen kubanischen Banknoten mit Szenen aus dem revolutionären Kampf. Sie hängen in mannsgroßen Formaten in seinem Atelier, doch dort, wo normalerweise das Antlitz eines verblichenen Revolutionshelden prangt, ist ein Jugendfoto von Raúl Castro zu sehen. Das Spielen mit den Symbolen der Revolution war in Kuba lange untersagt. Künstler wie Guerra oder sein Freund Raúl Paz, der aus Frankreich nach Kuba zurückkehrte, spielen mit diesen Symbolen und wollen die Leute aufrütteln. »Die Bevölkerung muss am Wandel in Kuba teilhaben, ihn mitgestalten. Der Wandel kann nicht von oben kommen, aber dazu muss man die Leute aus ihrer Apa­thie wecken«, mahnt Paz.