Liebe und Krise

Du bist nutzbar

Über die politische Neuordnung von Liebe, Familie und Beruf im Zeichen der Krise.

Wenn Ursula von der Leyen und ihre diversen Nachwuchsklone sich um den weihnachtlichen Gabentisch versammeln, wird ihr Stolz auf die in den vergangenen Jahren gegen den Widerstand konservativer Fraktionskollegen durchgesetzte »moderne Familienpolitik« groß sein. Die Bundes­ministerin muss auch keineswegs befürchten, mit den so genannten weichen Themen »Familie« und »Jugend« künftig kürzer treten zu müssen.
Gerade in ökonomischen Krisenzeiten ist Demographie schon immer ein Lieblings­thema der Deutschen gewesen. Wenn die bürgerlichen Institutionen erodieren und die Reproduktion des Lebensstandards nicht mehr gewährleistet ist, wird verstärkt an den Einzelnen in seiner vermeintlichen Naturwüchsigkeit, als Teil der Familie wie des organischen Volkskörpers, appelliert. Konsequent wird »Familie« im Jahresresümee der Ministerin nicht als Privatsache bestimmt, sondern als »Ort, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen«: Der volksdeutsche Sozialpakt kennt die Individuen gerade in ihrer Privat­sphäre ausschließlich als Staatsagenten und die zweckfreie Liebe, welche die Familienmitglieder angeblich verbindet, nur als Einübung blinder Staatsloyalität. Von der Leyens familienpolitische »Modernisierung« ist unter diesem Aspekt zu sehen.

Elternschaft als Beruf
Auf drei Themenfeldern hat sich die Ministerin als Vorkämpferin einer »Modernisierung« und »Enttraditionalisierung« christdemokratischer Familienpolitik erwiesen. Erstens förderte sie gezielt die qualifizierte Erwerbstätigkeit von Frauen und bezog verstärkt die männlichen Partner in die Kindererziehung ein. Zweitens baute sie die außerfamiliären Betreuungsmöglichkeiten aus, und drittens förderte sie den Schutz von Frauen, insbesondere von Migrantinnen, vor ehelicher Gewalt. Andere ihrer Lieblingsthemen, die so genannten Mehrgenerationenhäuser zur Förderung des »intergenerationellen Dialogs« sowie die Entdeckung der Senioren als »Zielgruppe der Zukunft«, sind mit der christlich-karitativen Ideologie ihrer Partei weit besser vereinbar.
Scheinbar hat die Ministerin mit solchen Initia­tiven vernachlässigte soziale Konfliktzonen erschlossen und dafür gesorgt, dass die CDU familien- und frauenpolitisch endlich Anschluss an die Gegenwart gefunden hat. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass von der Leyens »Modernisierungen« auf nichts anderes hinauslaufen als auf die Neudefinition von Elternschaft als Beruf – als freiwillig und mit emotionalem Eifer ausgeübter Zweitjob, den jeder demographisch verantwortungsbewusste Staatsbürger neben seiner übrigen Erwerbstätigkeit im passenden Alter abzuleisten habe.
Dass Frauen wie Männern die Möglichkeit eröffnet werden müsse, Familie und Beruf zu vereinbaren, wird in den familienpolitischen Leitlinien der Ministerin ausdrücklich mit der Notwendigkeit ausreichender Altersbezüge und der »Vermeidung von Armut« begründet, wofür es sich zunehmend als »notwendig« erweise, »dass zwei Einkommen zum Familienhaushalt beitragen«. Es geht also nicht darum, den Individuen die Möglichkeit zu geben, ihre je eigenen Vorstellungen gemeinsamen Lebens zu verwirklichen, sondern angesichts der drohenden Prekarisierung breiter Bevölkerungsschichten »Familie« erneut ganz offen als Not- und Zwangsgemeinschaft zu begreifen, die sich nun allerdings auch intern auf der Basis von »Gleichberechtigung« und »Arbeitsteilung« zu reorganisieren habe.
Schuf die bürgerliche Ehe durch Trennung zwischen männlicher Berufs- und weiblicher Haushaltstätigkeit sowie durch die Delegierung des öko­nomischen Erwerbs an den außerhalb des Hauses tätigen Mann mit der von »Empathie« und »Liebe« geprägten familiären Binnensphäre einen Raum vermeintlich zweckfreier Kommunikativität und Menschlichkeit, der durch ökonomische und sexuelle Entmündigung der Ehefrau erkauft wurde, sind heute Männer wie Frauen angehalten, jene Trennung in sich selbst noch einmal zu vollziehen. Jeder Partner hat sich gleichsam noch einmal in »Mann« und »Frau« aufzuspalten: Als qualifizierte Berufstätige steht die ideale Mutter der Zukunft auch im Erwerbsleben ihren Mann, während der ideale Papa stolz den »Hausmann« spielt und nach Büroschluss das Kochen oder Wickeln übernimmt.
Sollte die Arbeitsteilung nicht optimal funktionieren, müssen Betreuungseinrichtungen einspringen, die das Kind »warten«, bis Mama oder Papa den Job wieder übernehmen kann. Konsequenterweise dürfen Kinderbetreuungskosten dank von der Leyen inzwischen wie Werbungskosten oder Betriebsausgaben vollständig von der Steuer abgesetzt werden: Was den Betroffenen aus pragmatisch verständlichen Gründen als familien­freundliche Maßnahme erscheinen muss, kons­tituiert »Familie« objektiv als eine Form von Berufstätigkeit und »Kinder« als bevölkerungspolitisches Gut, dessen Produktionskosten geltend gemacht und erstattet werden können. Wo reaktionäre Kritiker flächendeckender Halb- und Ganztagsbetreuung eine Bedrohung der Kernfamilie durch anonyme Erziehungsinstitutionen halluzinieren, reorganisiert sich in Wahrheit die Familie als im schlimmsten Sinne versachlichter Erziehungsbetrieb, als bevölkerungspolitischer Handlanger des Staats, der sie dafür finanziell und infrastrukturell entschädigt. Die vermeintlich zweck­freie »Liebe« der Familienmitglieder zueinander, die im bürgerlichen Familienmodell zwar auch stets Ideologie war, jedoch als solche eine gewisse Autonomie besaß, wird dabei endgültig kassiert und kommt nur noch als Funktionselement des Zwangs zum Selbsterhalt in Betracht, der »privates« wie »berufliches« Leben gleichermaßen dominiert.

»Jeder wird gebraucht«
Wenn die tendenzielle Auflösung des Modells der bürgerlichen Kleinfamilie keine emanzipatorischen Kräfte freisetzt, bedeutet dies nicht, dass »Gefühle« in den neuen Familienmodellen keine Rolle mehr spielten. Im Gegenteil fußt die Indienst­nahme der als formal gleichberechtigt gesetzten Geschlechter im Namen des demographischen Gemeinwohls gerade auf dem beharrlichen Appell an deren vermeintlich ganz persönliche Wünsche und Bedürfnisse. Jedem Einzelnen soll das Gefühl vermittelt werden, nicht etwa wegen spezifischer Fähigkeiten oder Kenntnisse, sondern als »ganzer Mensch« gebraucht zu werden. Daher die zunehmende staatliche Toleranz gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften.
»Familie existiert heutzutage in vielfältiger Form«, heißt es in von der Leyens Jahresresümee. »Unterschiedliche Lebensvorstellungen bedeuten jedoch keine Absage an das ›Modell Familie‹. (…) Eine nachhaltige Familienpolitik setzt deshalb auf Wahlfreiheit und Respekt – denn Kinder sind in allen Familienformen gleichermaßen willkommen.« Nichteheliche Partnerschaften, alleinerziehende Mütter und Väter, ja selbst die mittlerweile längst nicht mehr prinzipiell tabuisierte Schwulen­ehe (sogar Homosexuelle haben Sehnsucht nach Kindern!) sind dieser Sichtweise zufolge keine Gegenentwürfe zum »Modell Familie«, sondern dessen bloße Variationen. Es handelt sich nicht um miteinander unvereinbare Lebensentwürfe, zwischen denen womöglich ein gesellschaftlicher Konflikt entstehen könnte, sondern um gleichberechtigt nebeneinander existierende Wahlmöglichkeiten, um rein formale Differenzen. Auch familienpolitisch scheint damit jener postmoderne Kulturalismus, der statt Widersprüchen nur noch Unterschiede kennt und unter dem Vorzeichen der Gendertheorie längst die offizielle Geschlechterpolitik beherrscht, den Sieg davongetragen zu haben.
Nicht nur jede Familienform, sondern auch jede altersspezifisch definierbare Gruppe wird in von der Leyens Programm als potenziell mobilisierbares Bevölkerungssegment unter demographischen Artenschutz gestellt. Alte Menschen etwa sollen, wie unter der Überschrift »Aktives Alter« ausgeführt wird, künftig nicht einmal mehr nach dem Ende ihrer Erwerbstätigkeit in Ruhe gelassen und gegebenenfalls gepflegt, sondern müssen bis zum Umfallen »genutzt« werden: »Ältere Menschen sind heute gesünder, aktiver, qualifizierter und engagierter denn je. … Diese ›jungen Alten‹ zeigen zudem eine hohe Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Schon heute sind 30 Prozent von ihnen freiwillig tätig. … Dieses Potenzial gilt es im Interesse der älteren Menschen, aber auch im Interesse der gesamten Gemeinschaft zu nutzen.« Da es immer weniger lebenserhaltende Arbeitsplätze gibt und die Bürger immer weniger konsumieren können, muss die »Gesundheit« und damit die Konsumfähigkeit der Alten, die einen immer größeren Teil der Bevölkerung ausmachen und nach wie vor vergleichsweise zahlungskräftig sind, um jeden Preis bis über den ersten Herzinfarkt hinaus gesichert bleiben.
Gleichzeitig können Alte als ehrenamtlich Tätige in sozialen Berufsfeldern rekrutiert werden, um gesellschaftlich notwendige, aber nicht mehr bezahlbare Arbeiten zu erledigen. Zum Beispiel als »Leih-Oma«, die das Bewusstsein ihrer objektiven Nutzlosigkeit und die eigene soziale Einsamkeit kompensieren darf, indem sie bei anderweitig geschädigten Familien zeitweise die Rolle des emotionalen Wärmeherds übernimmt. Die Jämmerlichkeit solcher Beschäftigung lässt sich in den einschlägigen Talkshows, die sich in vieler Hinsicht als massenmediale Vorwegnahme künftiger staatlicher Sozialprojekte verstehen lassen, schon seit Jahren studieren.
Dass die unmittelbare Indienstnahme des Einzelnen durch den Staat nicht nur immer später endet, sondern auch immer früher beginnt, ist angesichts der inzwischen fast schon polizeistaatlich organisierten Auskundschaftung jugendlicher und frühkindlicher Bildungsprofile in Zeiten von Pisa nur noch eine knappe Erwähnung wert. »Jeder Jugendliche wird gebraucht«, lässt die Bundesministerin wie beim Mobilisierungsbefehl verlauten und verweist auf inzwischen mehr als 200 »Kompetenzagenturen«, die das Bildungspotenzial und soziale Engagement Jugendlicher in »sozialen Brennpunkten« in allen Phasen ihrer Entwicklung evaluieren und fördern sollen. Vom Kindergarten bis zum Gymnasium, als dessen unmittelbare Fortsetzung immer mehr die Uni­versität erscheint, wird individuelle Entwicklung ausschließlich nach dem Modell der Checkliste konzipiert, um die bevölkerungspolitische Brauchbarkeit des Nachwuchses möglichst schon im Säuglingsalter sicherzustellen. Wie es keine Greise mehr, sondern nur noch »junge Alte« geben darf, so werden Babys nur noch als künftige Erwachsene, kindliche Spiele nicht als zweckfreie Tätigkeit, sondern nur als »experimentelles Lernen« geduldet. Was mit dieser durch die neuesten Erkenntnisse aus Neurologie und Hirnforschung aufgepeppten Esoterik ausgetrieben werden soll, hat jemand wie Walter Benjamin, dessen pädagogische Schriften auf keinem Lehrplan mehr stehen, noch genau gewusst: Uralte Menschen wie junge Kinder scheren sich wenig um den Staat, der sie umklammert hält, weil sie noch nichts bzw. nicht mehr viel zu hoffen oder zu befürchten haben. Lässt man Kinder mit den pädagogischen Instrumentenkästen allein, die Erziehungstechnologen für sie ersonnen haben, spielen sie damit ihr eigenes Spiel, nicht das der anderen.

Demographie und Geschlecht
Nicht nur die optimale Züchtung und Ausbildung, sondern auch die strategisch beste Verteilung des Nachwuchses hat sich in den vergangenen Jahren als demographisches Thema herauskristallisiert. Tonangebend bei dieser Diskussion war das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung mit seinen empirisch gestützten Thesen zur »selektiven Abwanderung«: Unter den prekären Wirtschaftsbedingungen in den peripheren Regionen der neuen Bundesländer, so lautete die Diagnose, entschieden sich überproportional viele junge Frauen zur Abwanderung, so dass dort ein zunehmend auch sozial problematischer »Männerüberschuss« herrsche.
Die geschlechterspezifische Abwanderung lasse sich nicht einfach mit der hohen Arbeitslosigkeit oder dem Mangel an »frauenspezifischen Jobs« erklären, sondern habe ihre tieferen Gründe in der anderen Wertschätzung weiblicher Lohnarbeit in der ehemaligen DDR sowie im lokalen Mangel geeigneter männlicher Partner für bildungsambitionierte Frauen. Dass das alltägliche Sozialverhalten in Orten wie Magdeburg oder Anklam für Frauen auch unabhängig von ihrer Bildungsambition abschreckend sein könnte, bleibt unerwähnt.
Aufschlussreich ist die Abwanderungsdiskussion auch nicht wegen der richtigen empirischen Befunde, sondern wegen ihrer Amalgamierung von Demographie, Sozial- und Sexualpolitik. Unter Verweis auf den vermeintlichen Zusammenhang zwischen geschlechterspezifischer Abwanderung, durch »Männerüberschuss« erzeugter sexueller Frustration, hoher Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus gibt die Studie zumindest indirekt den geistig und materiell ambitionierten Frauen, die ihre potenziellen Geschlechtspartner in der Zone zurückgelassen haben, die Schuld an neonazistischer Gewalt. Weil es staatspolitische Pflicht ist, keine demographischen Kahlschlag­zonen im eigenen Territorium entstehen zu lassen, darf um keinen Preis die den empirischen Befunden doch viel angemessenere Konsequenz gezogen werden, jeden, der noch bei Verstand ist, zu ermuntern, es den Frauen gleichzutun und der deprimierenden Scholle den Rücken zu kehren. Stattdessen wird verordnet, dass »die peripheren Regionen … dringend Nachwuchs nötig haben«: »Wer die Kinder bekommt, ist dabei grundsätzlich egal, denn Kinder haben einen Wert an sich.«
Diese atemraubende Definition des Begriffs der Menschenwürde plaudert aus, was hinter der »Kinderfreundlichkeit« der modernisierten deutschen Familienpolitik insgesamt steckt: Der »Wert an sich«, den Kinder haben, ist kein individueller, sondern ein demographischer. Dieser Logik folgt auch der neue christdemokratische Familienpluralismus: Wenn die bürgerliche Kleinfamilie ihre Rolle als intimste Agentur des Staates der Binnenlogik gesellschaftlicher Entwicklung selbst zufolge nicht mehr spielen kann, muss sie eben zerfallen. Ihre Form aber hat sich in den ihr folgenden »nachbürgerlichen« Partnerschaftsformen permanent zu reproduzieren.
Deshalb wäre es leichtfertig, die ökonomisch und juristisch weitgehend realisierte »Gleichstellung« der Geschlechter als gesicherten Fortschritt und Grundbestand aller weiteren familienpolitischen Entwicklung anzusehen. So wie Demokratie hierzulande stets primär als oktroyierte soziale Verkehrsform begriffen worden ist, zu der man sich nicht aus Vernunftgründen entschieden, sondern die man als einstweilen notwendiges Übel akzeptiert hat, so ist auch die »Gleichstellung« bis heute nichts als eine familien- und geschlechterpolitisch oktroyierte Regel, hinter die der Staat, sollte es sich als nützlich erweisen, jederzeit zurückfallen kann.
Jüngst erst hat Klaus Hurrelmann, Professor für »Sozial- und Gesundheitswissenschaft« an der Universität Bielefeld, in einem mit seiner Kollegin Gudrun Quenzel verfassten Essay für die Zeit angemahnt, das von Frauen dominierte, mithin »weibliche« Erziehungssystem müsse künftig verstärkt die »typisch männlichen Eigenschaften« der vergleichsweise leistungsschwachen Jungen stärken und, »analog zur Frauenförderung«, mehr Verständnis für »männliche Absonderlichkeiten« aufbringen. So müssten Jungen in der Schule Gelegenheit erhalten, »als machtvoll und überlegen aufzutreten, den sozialen Raum um sich herum zu erobern und die besonderen Formen der männlichen Selbstbehauptung zu praktizieren«.
Sobald die Krise nicht nur Prognose, sondern Wirklichkeit geworden ist, dürfte die Nachfrage nach solch gesunder Erziehung wieder sehr schnell wachsen, um den frustrierten Männerhorden, die die Ostgebiete bevölkern, neue Tätigkeitsfelder zu eröffnen.