Proteste gegen die Schulreform in Frankreich

Ein Rückzug mit Tücken

Seit Wochen protestieren französische Schüler gegen die geplante Schulreform. Aus Angst vor »ausufernder Gewalt« nach den Krawallen in Griechenland hat die Regierung beschlossen, die Reform zu überprüfen.

Der Bildungsminister »weicht zurück, um uns besser übers Ohr zu hauen«: Was der den Sozialdemokraten nahestehende Schülerverband Fidl offiziell erklärt, scheint bei den Protesten gegen die Bildungsreform die allgemeine Einschätzung zu sein. Am Donnerstag voriger Woche demonstrierten in ganz Frankreich rund 150 000 Oberschülerin­nen und Oberschüler. Vor allem in Lyon, wo die Polizei um die 40 Demonstrationsteilnehmer fest­nahm und ein Auto brannte, fielen die Proteste teilweise militant aus. In Paris, wo rund 10 000 Personen sich an der Demonstration beteiligten, kam es zu keinen größeren Zwischen­fällen.
Bereits in den ersten Dezembertagen hatte es militante Demonstrationen der Oberschüler gegeben. Nicht so sehr in den Metropolen wie Paris und Lyon, sondern zunächst vor allem in westfranzösischen Großstädten wie Brest, Nantes und Saint-Nazaire. In Nantes war es bereits Ende November zu größeren Protesten gekommen, nachdem Bildungsminister Xavier Darcos die zweite Etappe seiner Reform des Bildungswesens verkün­det hatte, welche die Sekundarstufe betreffen wird. Die Reform der Grundschule ist bereits im Gange, wird aber, infolge starken Protests von Eltern und Lehrern, möglicherweise noch modifiziert werden.

Am Montag voriger Woche hatte Darcos noch ei­ne Verschiebung der geplanten Reform um ein Jahr in Aussicht gestellt. Erst sollten noch weitere »Sondierungsgespräche« mit Schülerverbänden, Elternvertretungen und Lehrergewerkschaften stattfinden. Am Dienstag sprach Darcos dann nicht nur von einer Verschiebung, sondern auch davon, die Reform zu überprüfen. Am Donnerstag kündigte der Bildungsminister dann die »Generalstände des Bildungswesens« an und initiierte einen großen Kongress, um zumindest den Eindruck zu erwecken, einen Beratungsprozess in Gang zu setzen. Aber die Oberschüler sind ebenso misstrauisch wie die Gewerkschaften der Lehrer und die Elterverbände. Sie rufen inzwischen gemeinsam zu neuen Demonstrationen am 17. Janu­ar auf. Beide Stufen der Bildungsreform sind Bestandteile einer »Allgemeinen Revision der Politik der öffentlichen Hand«, die auch unter ihrem Kürzel RGPP bekannt geworden ist. Dabei geht es darum, alle Bereiche der staatlichen Politik betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskriterien zu unterstellen, um Mittel einzusparen und das staatliche Handeln so »effizienter« zu gestalten.
Seit der Wahl Nicolas Sarkozys zum Staatspräsidenten vor anderthalb Jahren ist es zur Maxime erhoben worden, jeden zweiten altersbedingten Abgang im öffentlichen Dienst nicht zu ersetzen, um so Personal einzusparen. Davon betroffen ist vor allem das öffentliche Bildungswesen, wäh­rend viele soziale Probleme massive Auswirkungen auf das Schulwesen haben. Die Schule muss diese Auswirkungen, wie psychologische Probleme der Kinder und Jugendlichen, Lern­schwie­rig­keiten, »bildungsferne« Familien, bewältigen. Nichts­destotrotz wurden im laufenden Schuljahr 11 500 Lehrerstellen eingespart, im kommenden Jahr sollen es 13 500 werden. Im Grundschulwesen wird etwa bei den Unterstützungskursen für Schü­ler mit »Lernschwierigkeiten« eingespart. Solche Kurse werden zukünftig nicht mehr in kleinen Grup­pen angeboten, sondern sollen nur noch gan­zen Schulklassen offen stehen.
Gleichzeitig soll der Fächerkanon umgestaltet werden. Bisherige Fachrichtungen des Abiturs – die geistes-, natur- oder sozialwissenschaftliche Ausrichtung – sollen zugunsten eines einheitlichen »Grundstocks« verschwinden. Die Absicht ist offenbar, in Form des »Grundstocks« das Fach­wissen aufzuwerten, das die Wirtschaft dringend nachfragt. So soll die Wirtschaftswissenschaft aus der bisherigen Verbindung mit den Sozialwis­senschaften gelöst und zum eigenständigen Pflicht­fach werden, da die Regierung die »linksgerichtete Lehrerschaft« verdächtigt, zu viel Sozialwissenschaft zu Lasten der Betriebswirtschaft zu unterrichten.
Das derzeitige Aussetzen der Reform, an der die Regierung jedoch eisern festhalten will, erklärt sich aus der Furcht davor, dass die Lage an den Schulen schnell eskalieren und sich mit dem größer werdenden, allgemeinen sozialen Unmut verbinden könnte. Dabei fürchtet die Regierung weniger die Oberschüler. Viel mehr fürchtet sie, dass beispielsweise die benachteiligte und potenziell unruhige Jugend der Banlieues sich an den Protesten beteiligen könnte. Anders als in der Vergangenheit, wie etwa bei den Schülerprotesten 2005, drückt sich derzeit die Frustration in den Banlieues bislang nicht in Angriffen auf die – »wei­ßeren« und vermeintlich besser gestellten – Schüler aus den Großstädten aus. Vielmehr nahmen etwa am Donnerstag in Paris auffällig viele Mädchen aus Migrantenfamilien an den Demons­trationen teil und füllten die aus den Banlieues kommenden Métrozüge. Sie demonstrierten als besonders benachteiligte Schülerinnen und zeigten sich selbstbewusst.

Die Proteste der Oberschüler flammten, vor allem in Westfrankreich, vor dem Aufstand in Griechenland auf. Insofern sind die Proteste keine Nach­ahmung der griechischen Ereignisse. Wohl aber könnte – so fürchtet jedenfalls die Regierung – ein Effekt der gegenseitigen Beeinflussung eintreten, indem viele Jugendliche in Frankreich sich im Vor­gehen ihrer griechischen Altersgenossen wiedererkennen. Auch die in mehreren französischen Städten zu verzeichnende Militanz vieler Oberschüler setzte kurz vor den Krawallen in Griechen­land ein, ging aber in stärkerem Ausmaß weiter. Allem Anschein nach wurde sie keineswegs nur von anarchistischen oder linksradikalen Gruppen praktiziert, sondern konnte sich auf einen größeren Teil der protestierenden Schüler stützen.
Sie resultiert, neben einem sicherlich ebenfalls vorhandenen Einfluss des griechischen Beispiels, auch aus der Erfahrung des vergangenen Jahres. Hatte doch im Herbst 2007 die Regierung die über drei Monate anhaltenden Proteste von Oberschülern und Studierenden gegen die neue Hochschulverfassung, die eine finanzielle »Autonomie der Hochschulen« und damit den Zwang zu ihrer Rentabilität vorsieht, einfach ausgesessen. Die Proteste waren in der Weihnachtspause vor einem Jahr verebbt. Damals hatten die Studierenden zunächst auch darauf gebaut, dass der Streik der Eisenbahner im November sich mit ihrem Ausstand zeitlich verbinden könnte und so ein günstiges Kräfteverhältnis zustande kommen werde. Die Apparate der beiden größten Gewerkschaftsverbände, CGT und CFDT, hatten den Ausstand jedoch schneller als erwartet beendet, ohne viel erreicht zu haben. Nunmehr sind viele Oberschüler entschlossen, diese Erfahrung nicht zu wiederholen.
Die Gewerkschaften fangen mittlerweile an, sich ein wenig zu regen. Am 29. Januar soll ein von Protesten getragener Streik- und Aktionstag mit Demonstrationen in mehr als 100 französischen Städten stattfinden.
Wegen der unterschiedlichen Orientierung der aufrufenden Gewerkschaften wird der Aktionstag am 29. Januar allein die gesellschaftlichen Kräf­teverhältnisse noch nicht grundlegend verändern. Doch derzeit wird mit einer hohen Beteiligung gerechnet, zumal in der vergangenen Woche umfangreiche Entlassungspläne in vielen – vor allem industriellen – Wirtschaftsbereichen angekündigt worden sind, unter anderem in der Autoindus­trie, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad vergleichsweise hoch ist.