Containern und Recyclen

Pizza Tonno

Gedränge, Gekeife und lange Schlangen an den Kassen – gerade zu Weihnachten kann einem schon der Gang zum Supermarkt die Laune verderben. Das muss nicht sein, sagt die Container-Community und durchforstet nachts die Mülltonnen.

Um eine Gans, einen Karpfen oder einen Sauerbraten zu ergattern, muss man schon sehr viel Glück haben. Aber leckeres Omelette mit Gemüse, Crepes mit Schokofüllung, Apfelmus und Rote Grütze sind durchaus drin.
Containern, Recyclen, Mülltauchen, Freeganism, Diebstahl – es gibt viele Bezeichnungen für das Durchforsten der Mülleimer großer Supermärkte nach Essbarem. Was schon lange Zeit ein fester Bestandteil des globalen Hausbesetzerlebens ist, scheint auch in Deutschland immer mehr politisch aktive Menschen außerhalb der Squat-Mauern umzutreiben. Dass der Ertrag dieser Art der Nahrungsbeschaffung durchaus appetitlich sein kann, zeigen unter anderem die Fotos auf dem »autonomen container-blog«: Unmengen an Gemüse, Obst und Süßigkeiten.

Allerdings kann es auch Ärger geben, wie ein aktueller Fall zeigt. In der norddeutschen Kleinstadt Bad Oldesloe wurden Anfang Dezember vier Personen festgenommen, denen besonders schwe­rer Diebstahl vorgeworfen wird. Sie hatten gerade damit begonnen, von dem umzäunten Gelände einer Firma für Krankenhausbedarf Sperr­müll abzutransportieren, als sie bei ihrem »Raub­zug« (Lübecker Nachrichten) ertappt wurden. Die Angeklagten hingegen bestehen darauf, nur »con­tainert« zu haben, also nur eindeutig er­kennbaren Müll mitgenommen zu haben.
Eigentum bleibt Eigentum, auch das in der Müll­tonne. Wer den Müll anderer Leute einsteckt, eignet sich zumindest in Deutschland unrechtmäßig fremdes Eigentum an. Ohne Eigentum kein Kapitalismus; der Schutz des Privateigentums stellt einen der höchsten Werte der bürgerlichen Gesellschaft dar und ist im Artikel 14 des Grundgesetzes verankert. Der Staat scheint es sich nicht leisten zu können, dieses Prinzip in Frage zu stellen. Nicht einmal beim Abfall.
Zu Anklagen oder Verurteilungen wegen Containerns kommt es aber selten. Vor vier Jahren wurde in Köln eine Frau angezeigt wegen »gemein­schaftlichen Diebstahls in einem besonders schwe­ren Fall« bei einem Rewe-Markt. Ihre Beute waren ein paar alte Brote und zwei Joghurts mit über­schrittenem Verfallsdatum. Das Verfahren wurde gegen die Ableistung von Sozialstunden eingestellt. Auch die Mitglieder der Kampagne »Lebensmittelvernichtung stoppen« aus Magdeburg hatten bisher keinen Erfolg damit, durch Prozesse Öffentlichkeit herzustellen. »Wir haben selbst unsere Namen an den Containern hinterlassen, mit dem Ziel, angezeigt zu werden. Das hat aber bisher kein Supermarkt gemacht«, erzählt Jan, der an der Kampagne beteiligt ist. Ziel der Initiative ist es, »Supermärkte und Händler dazu zu bringen, Lebensmittel sinnvoll einzusetzen«, so Jan. Dazu wird gemeinsam containert und müllgetaucht und Pressearbeit gemacht. Zur besseren Dokumentation nimmt man auch mal ein Fernsehteam mit auf die nächtliche Abfallsuche.
Patrick aus Berlin, gegen den ein Verfahren wegen Mülldiebstahls lief, sucht sein Essen nur noch selten hinter Supermärkten: »Ich habe den Eindruck, dass immer mehr Leute containern, auch aus Schichten, von denen ich annehme, dass sie es nötiger haben. So eine Konkurrenz an den Tonnen aufzumachen, fand ich etwas krude.« Den bedürftigen Leuten, die auf diese Art der Nahrungsbeschaffung angewiesen sind, ist das offenbar eher unangenehm. »Leute, die containern, weil sie keine andere Wahl haben, sind selten in der Kampagne«, bestätigt auch Jan.
Containern scheint also auch politisch zu sein, vielleicht gar eine direkte Aktion. Dass Tonnen verzehrbarer Lebensmittel jeden Tag im Abfall landen, während ein Sechstel der Weltbevölkerung an Hunger leidet, ist ohne Zweifel absurd. Ebenso, dass diese Lebensmittel bisweilen mit Waschpulver oder Chemikalien überschüttet werden, da­mit sie nicht mehr verzehrt werden können. »Man­che Müllcontainer sehen mittlerweile aus wie Festungen, mit Stacheldraht, Kameras und Stahlgittern«, berichtet Jan.

Aber schlägt man wirklich dem Kapitalismus ein Schnippchen, indem man den Abfall der Über­fluss­gesellschaft verwertet? Sind die Müllmitnehmer nicht bloß Nutznießer des kapitalistischen Systems? Ist man wirklich frei von der Schuld an der Ausbeutung von Mensch und Natur, nur weil man für die Lebensmittel nichts zahlt und die »Bonzen« und »Multis« damit keinen Profit machen?
Die deutsche Container-Szene scheint recht prag­matisch an die Sache heranzugehen. Für Jan von »Lebensmittelvernichtung stoppen« wäre es bereits ein Erfolg, wenn die Läden ihre Reste den so genannten Tafeln geben würden, die kostenlos Es­­sen an Bedürftige verteilen: »Dann könnten wir eigentlich aufhören.« Eine »wirkliche Alternative« zum Kapitalismus sieht er in dieser Praxis nicht. Auch Patrick aus Berlin macht sich diesbezüglich wenig Illusionen: »Containern an sich ist keine politische Aktion. Es ist nur eine Nische, und diese Nische bietet der Kapitalismus.« Er bilde sich nicht ein, außerhalb des Systems zu stehen. Ganz im Gegenteil: »Ich bin mittendrin, aber habe eine Form gefunden, damit umzugehen, um bestimmte Freiräume zu haben.«
Das sehen etwa Anhänger des Freeganismus in den USA anders. Verfechter der Ideologie, die die Worte »free« und »vegan« enthält, sehen sie als Wei­terentwicklung des Veganismus: »Freeganer gehen einen Schritt weiter, indem sie erkennen, dass (…) auf allen Ebenen der Produktion und durch fast alle Produkte, die wir kaufen, Menschen, Tiere und die Erde missbraucht werden«, wie auf Freegan.info erklärt wird. Nach Jahren unbefriedigender Versuche, Produkte in gut und böse zu unterteilen, sei man zu der Erkenntnis gelangt, dass »das Problem nicht nur ein paar bö­se Firmen sind, sondern das ganze System selbst«. Immerhin. Offenbar sind Marx’ Werke in amerikanischen Müll­tonnen Mangelware, sonst wären diese Leute schon ein wenig früher darauf gekommen.
Die Antwort der Freeganer auf diese Erkenntnis will ein »totaler Boykott des ökonomischen Systems« sein. Neben der Kritik an dieser doch etwas verkürzten Darstellung der Dinge gibt es auch Diskussionen darüber, ob die Anlehnung an den Veganismus gerechtfertigt sei. Denn Freeganer leben keineswegs zwingend vegan. Manche essen alles – inklusive Rinderfilet und Hühnereier –, was sie in der Tonne finden. Da man weder Geld für die tierischen Produkte bezahle – noch mit den Essgewohnheiten die Nachfrage steigere, unterstütze man auch nicht den Produktionspro­zess. Patrick hat dafür Verständnis: »Das ist ein Pragmatismus, dem ich mich anschließen kann. Das Fleisch ist längst draußen, es ist nur noch eine moralische Frage: Darf man was essen, wo Blut dran ist? Ich würde sagen, das geht.« Er selber würde aber weder Fleisch kaufen, noch »Aas« aus dem Container verzehren wollen – »aus hygienischen Gründen«.

Nachts verwertbare Lebensmittel kostenlos aus dem Container zu holen, anstatt für die gleichen Produkte tagsüber eine Menge Geld zu bezahlen und dabei den Rest der Normalbevölkerung an der Kasse ertragen zu müssen, ist gerade zur Weihnachtszeit eine angenehme Vorstellung. Wer denkt, dies sei Sabotage am Kapitalismus, bildet sich aber wohl wegen des klandestinen Charakters der illegalen Essensbeschaffung ein wenig zu viel darauf ein.
Eine Parole wie »Luxus für alle« zielt gerade nicht auf die Essensreste, sondern auf die Leckereien in den Regalen. Während die einen betonen, dass die Essensreste für alle Hungernden rei­chen würden, betonen die anderen, dass bei vernünftiger Verteilung des gesellschaftlichen Reich­tums auch das gute Essen für alle reichen wür­de. Recht haben sie beide. Aber muss man, solange man den Kapitalismus noch an den Hacken hat, deswegen im Müll kramen?
Es gibt auch andere Wege. »Ladendiebstahl lohnt sich doch«, stand auf einem Plakat, das früher in vielen WG-Küchen zu finden war. Trotz des deut­lich höheren Risikos, Ärger mit der Justiz zu bekommen, hat diese Praxis ihre Vorteile. Klauen trifft die sonst so verhassten Großkonzerne auch finanziell und ist für das antikapitalistische Selbst­wertgefühl sicher besser, als in ihre Mülltonnen zu klettern. Das Kollektiv Yomango (umgangs­sprach­lich: Ich klaue) aus Spanien tritt für diese hedonistischere Variante ein. Seine Mitglieder stellen die Eigentumslogik ebenfalls in Frage und vermitteln Interessierten in Workshops und Broschüren, wie man auch ohne Geld an das kommt, was man haben möchte. Und eben nicht nur an das, was als Abfall übrig bleibt. »Du willst es? Du hast es!« lautet ein Motto der Shopping-Guerilla.
Auch sie stellt das System nicht in Frage, aber ignoriert mit spielerischer Arroganz seine Regeln. »Wenn Yomango eine politische Position hat, dann ist das die Politik des Glücks«, erklärt das Kol­lektiv. Die Menschen werden aufgefordert, für die Teilhabe am Reichtum, der ihnen vom System verwehrt wird, selber zu sorgen. Containern geht in eine andere Richtung. Patrick hat sich inzwischen für eine gemütlichere Variante entschieden: Er hat Absprachen mit Läden, die ihm ihre Res­te geben, bevor sie in der Tonne landen.

So werden die einen an Heiligabend mit Champag­ner anstoßen, während die anderen Yoghurtdrinks mit überschrittenem Verfallsdatum oder, mit etwas Glück, eine Palette Dosenbier unter den Baum stellen – sofern sich einer finden lässt. »Wir hatten auch schon mal zwölf Weihnachtskalender in einem Container«, erzählt Jan. Und wer zur Weihnachtszeit ein wenig internationale Solidarität zeigen will, kann die Tonnen, nachdem die brauchbaren Reste herausgeholt worden sind, gleich auf die Straße schieben.