Die Intelligenz der Menschen

Update erforderlich

Künstliche Intelligenz will man nicht nur Maschinen beibringen. Auch der Mensch soll seine geistigen Fähigkeiten steigern, um in der Marktkonkurrenz noch mitmachen zu können.

»So steigern Sie Ihren IQ. Hirnforscher weisen nach: Intelligenz ist lernbar.« Diesem Nachweis der Lernbarkeit von Intelligenz, der zugleich ein ungeheures Versprechen ist, widmete das »moderne Nachrichtenmagazin« Focus seine Ausgabe vom 8. Dezember. Allerdings, die Sensation hat Methode. Man hat sich an solche Titelgeschichten über die wunderbare Plastizität des Gehirns in den letz­ten Jahren gewöhnen können. Auch an die bunten Hirnbildchen, Diagramme und Laborberichte. Allein Focus versorgt seine Leserschaft seit Jahren regelmäßig mit seitenlangen Storys und »Fakten« aus der angewandten Hirnforschung und Lernpsychologie. »Ganz neu denken!« kommandierte gleich zu Beginn des neuen Jahrtausends der Titel der Ausgabe vom 27. März 2000 und em­pfahl Übungen zur »Nervengymnastik« nach dem Aufstehen: Duschen mit geschlossenen Augen, Zähneputzen mit links, dann bunte Papierfilter vor der Schreibtischlampe anbringen.
Flankierend zu solchen Tipps zur Programmierung des neuronal zu steigernden Alltags gab und gibt es bei Focus immer wieder titeltaugliche Trainings namens »Wissenstests«: »Der große Wissenstest: Wie gut ist Ihre Allgemeinbildung?«, 17. Januar 2005; »Testen Sie Ihr Wissen! 55 Fragen für die Allgemeinbildung – von leicht bis knifflig«, 18. Juli 2005; »Die 100 härtesten Test-Fragen. Allgemeinbildung, Mathematik, Intelligenz, Zeitgeschehen, Führerschein«, 3. Juni 2006.

Die Reihe lässt sich mit Titelthemen anderer Mainstream-Magazine ergänzen. Auffällig ist der dröhnende Appellcharakter vieler Schlagzeilen, die auf die Potenzierung des Mentalen im Verbund mit dem Körperlichen zielen. Die direkte Ansprache nimmt in die Pflicht. Ihre Rhetorik zielt darauf, dass Leserinnen und Leser Folge leisten. »Erinnern Sie sich!« fordert der Stern auf seinem Titel vom 14. Oktober 2004 und weiß auch gleich Rat: »So machen Sie Ihre grauen Zellen fit«. In der Science-Titelgeschichte »Laufen, Lieben, Lesen. Das Fitnessprogramm fürs Gehirn« staunt der Spiegel am 15. Mai 2006 analog zur Konkurrenz über das Phänomen »nachwachsender Nervenzellen«. Wenig später, in einer Titelgeschichte vom 12. April 2007, ebenfalls auf der Grundlage von Erkenntnissen zur Neurogenese, propagiert der Stern die »heilende Kraft des Sports«. Denn »neue Forschungen« hätten gezeigt: »Bewegung ist auch gut fürs Gehirn und kann sogar vor Alzheimer schützen.«
Die Idee, diese Verbindung herzustellen, hatte eine Woche zuvor bereits Newsweek veröffentlicht: »Exercise and the Brain« war der Titel der Ausgabe vom 9. April 2007. In einem von der Redaktion gemeinsam mit Wissenschaftlern der Harvard Me­dical School verfassten Artikel wurde hier der Nexus »Stronger, Faster, Smarter« einer größeren Öffentlichkeit präsentiert. Körperliche Fitness als Voraussetzung für Hirnleistung ist dann vier Monate später, am 20. August 2007, auch in der Focus-Titelgeschichte »Frischluft fürs Gehirn. Wie Sie Ihre Denk- und Merkleistung nachweislich steigern können« ein Thema fürs Sommerloch, al­so zu jenem Zeitpunkt im Jahr, an dem sich so manche und mancher der prüfenden Selbstbe­ob­achtung von physischer und kognitiver Fitness unterzieht.
Die neurowissenschaftlich begründete Renaissance des Prinzips mens sana in corpore sano muss als Schlüsselelement einer aktuellen Technologie der Subjektivierung betrachtet werden, wobei Subjektivierung sowohl die Entwicklung eines Selbst als auch die (Selbst-)Unterwerfung unter eine symbolische Ordnung meinen soll. Die Bebilderung des Focus-Artikels »Training für den IQ« vom 8. Dezember ist in dieser Hinsicht äußerst suggestiv, weil sie Menschen wie dich und mich zu Vorbildern der kognitiven Selbstbetreuung zu machen versucht: Eine »zweifache Mutter« steht vor ihrem mit Post-Its übersäten Küchenschrank, will sich aber von dieser »Zettelwirtschaft« befreien; drei Wochen »Gehirntraining«, so die Bildlegende, hätten da angeblich schon geholfen. Auf einem anderen Foto sieht man einen jungen Arzt am Telefon, einen Ausdruck mit MRT-Scans in Händen, links neben ihm eine Kollegin, ernst dreinblickend; mit »Intelligenztraining« habe sich der Radiologe ein hohes »Konzentrationsnive­au« erarbeitet, erklärt die Beischrift. Zwei Seiten weiter sitzen zwei junge Frauen in Plastikkörben im Wasch-Center, den Laptop aufgeklappt; der Kommentar lässt darauf schließen, dass eine von ihnen sich mit einem »Trainingsprogramm« beschäftigt, um erfolgreich das Abitur nachzuholen.

Was aber sind das für »Trainingsprogramme«? Focus macht sich zum Fürsprecher von »Brain­twister«, einer »Aufgabensammlung für kognitives Training«, die man sich für 40 Euro auf der Homepage des Instituts für Psychologie der Universität Bern herunterladen kann. Das Forscherteam, das sich in Bern mit Lernpsychologie und Gedächtnisprozessen beschäftigt, war bei der Entwicklung dieses Programms unter anderem daran interessiert, was auf den Ebenen von Verhalten und Biologie geschieht, »wenn die Grenzen der menschlichen Informationsverarbeitungs-Kapazität erreicht und überschritten werden«. Die Tests steigern kontinuierlich die Komplexität der gleichzeitig zu bewältigenden Aufgaben. Mit Brainscans wird die dadurch ausgelöste Aktivität und Veränderung des frontalen Cortex beobachtet, jenem Bereich des Gehirns, dem die größte Plastizität und das »nachhaltigste Veränderungspotenzial« nachgesagt wird.
Im Unterschied zum Focus, der in dem Artikel bald den Intelligenzquotienten (IQ) aus der Mottenkiste der psychologischen Diagnostik holt, verzichten die Berner Wissenschaftler, soweit man ihren jüngeren Publikationen entnehmen kann, auf diese äußerst problematische Kategorie der Psychometrie, die in der Vergangenheit, aber auch gegenwärtig immer wieder dazu dient, genetische Ursachen vermeintlicher »Intelligenzunterschiede« zwischen »Rassen« oder »Geschlech­tern« zu behaupten – eine offenbar nie versiegen­de Quelle rassistisch-eugenischer Sozialtechnologie, die aber in den avancierten Neurowissenschaften dennoch etwas außer Kurs geraten ist. Nicht nur »IQ«, auch »Intelligenz« scheint die Wis­senschaft nur noch am Rande zu interessieren, wo das Interesse der Plastizität und Konnektivität neuronaler Netze gilt und dies in einer umfassenden, die bloß kognitiven Problemlösungskapa­zitäten traditioneller Intelligenzbegriffe überschreitenden Weise.
Die Zeitschrift Focus aber scheint die beiden Buch­staben zu brauchen, so sehr vertraut sie schon in der Titelgestaltung auf den Weckruf »IQ«. In der Intelligenzforschung konservativer Prägung wird zwischen »fluider« und »kristalliner« Intelli­genz unterschieden, die eine angeblich angeboren, die andere zur Wissensaneignung abgestellt. Focus frohlockt, dass mit der Entdeckung des »Arbeitsgedächtnisses« der IQ sehr viel umfassender als bloß in Hinblick auf Faktenpauken gesteigert werden könne – hohe kognitive Belastungen seien dann mittels Hirntraining à la »Braintwister« ebenso leichter zu bewältigen, wie der Abbau von Hirnleistung im Alter zu verlangsamen sei.

Wie populär solches »Wissen« über die Möglichkeiten der Steigerung (enhancement) von Denkkraft bereits ist, verdeutlichen der Boom des Logikrätsels Sudoku, das dem guten alten Kreuzworträtsel stark Konkurrenz macht, oder die 15 Mil­lionen weltweit verkauften Exemplare von »Dr. Kawashimas Gehirnjogging«, einer Übungssoftware, die auf Nintendo-DS-Konsolen läuft.
Eine entscheidende Funktion dieser Angebote ist die Koppelung der Frage nach der kognitiven Leistungsfähigkeit an die des Alters. Denn Neuro-Drill-Spiele wie »Dr. Kawashimas Gehirnjogging« oder das ebenfalls von Nintendo angebotene »Brain Academy« locken nicht zuletzt mit dem Ver­sprechen, durch mentales Fitnesstraining dem eigenen körperlichen Alter und der mit diesem as­soziierten Gehirntätigkeit ein Schnippchen schla­gen zu können. Erfolgreich spielt danach diejenige Person, die in der Lage ist, ihr »Gehirnalter« gegenüber dem biologischen Alter durch Übung zu verringern.
Diese Arbeit am »synaptischen Selbst«, wie es der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux nennt, hat inzwischen auch den Leistungssport erreicht. Bundesliga-Fußballclubs wie die TSG 1899 Hoffen­heim, so berichtet der Spiegel in seiner Ausgabe vom 15. Dezember, haben »Gehirntrainer« eingestellt. Horst Lutz, freiberuflicher »Hirntrainer« bei Borussia Dortmund, hatte schon vorher der Bild-Zeitung Folgendes mitgeteilt: »Ich versuche, durch gezielte Bewegungsübungen aus Life Kinetik das Gehirn der Spieler so zu fordern, dass ihre räumliche Wahrnehmung sowie ihre koordinativen Abläufe verbessert werden.« Angeblich sind die Spieler schon ganz begeistert.
Und auch ein geschätzter Diskursanalytiker und Ideologiekritiker wie Klaus Theweleit ist, nicht zuletzt auf der Basis seiner Fußballstudien und der Beobachtung des Technologiegebrauchs von Jüngeren, davon überzeugt, dass die Neurowissenschaften inzwischen einen Stand erreicht hätten, auf dem sie einlösen würden, was der Neu­rologe Sigmund Freud vor einem Jahrhundert in Ermangelung entsprechenden technischen Geräts noch nicht anders hätte zeigen können als mit der Hilfstheorie vom Unbewussten. Die Entdeckung der sozialen Formbarkeit, der dauernden Veränderbarkeit der Verschaltungen und Zell­strukturen des Gehirns, hätte, so Theweleit, einen Rückgang des »Biologistischen« in der Beschäf­tigung mit dem »neuronalen Menschen« (Jean-Pierre Changeux) bewirkt.
Das mag in der Tendenz stimmen. Aber es unterschätzt die nach Definitionsmacht strebenden Ansprüche der Neurowissenschaften, die sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Superwis­senschaft unserer biopolitischen Epoche aufschwingen. Andererseits wird vielerorts bezweifelt, dass die Hirnforschung, gerade in Hinblick auf Gedächtnis- und Lernleistung, derzeit wesent­lich mehr tun würde, als »neurophysiologische Korrelate zu einigen pädagogisch relevanten Phä­nomenen« zu beschreiben, »die man bislang lediglich auf der Verhaltensebene untersuchen konnte«, wie es die Erziehungswissenschaftlerin Nicole Becker formuliert. Doch hat es die Kritik an der Neuronalisierung nicht nur der Pädagogik, sondern der Konzeptionen von Persönlichkeit und Identität überhaupt gegenwärtig schwer, sich jener Faszination zu erwehren, die in der Fantasie begründet liegt, man könne unmittelbar Einfluss auf das eigene mentale Leistungsvermögen nehmen und damit an den Schrauben des synaptischen Selbst drehen.

Diese Fantasie ist wohl auch deshalb so populär, weil mit der Aussicht auf »Selbstoptimierung« eine Überlebenschance auf den Märkten der Wissensökonomie und des »kognitiven Kapitalismus« vermutet wird. Vor allem aber sorgen die neu­ere Hirnforschung und ihre Popularisierung dafür, dass – im Einklang mit der Norm des unternehmerischen Selbst – die Verantwortung für den Erhalt und die Steigerung »geistiger Fitness« ausschließlich in der oder dem Einzelnen gesucht werden kann. Die immer kürzere Verbindung »von den Neuronen zum Selbst«, wie es im Untertitel eines Buches des Neurowissenschaft­lers Rodolfo R. Llinás heißt, suggeriert die Möglichkeit von immer rasanteren Rückkopplungen zwischen dem Biologischen und dem Sozialen. Dass Intelligenz »lernbar« sei, begeistert Focus und Co. eben auch deshalb, weil dieses Update des Intelligenzbegriffs einem anthropologischen und ökonomischen Programm zuspielt. Dieses sieht vor, dass sich die Subjekte in den Schleifen der »Selbst­optimierung« reproduzieren. Geprüft und für mehr oder weniger »intelligent« befunden, folgt unweigerlich der Appell: Es geht noch intelligenter, streng dich an!