Messianismus

Weihnachten heißt Widerspruch

Die messianische Idee ist irgendwo zwischen gescheiterter Hoffnung und einem Modell des Widerspruchs steckengeblieben.

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, und dazu wird alle Jahre wieder die als Weihnachtsgeschichte bekannte Stelle aus dem Lukas-Evangelium vorgelesen, die beginnt mit den Worten: »Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2,11).
Auch der Evangelist Matthäus hat die Geschichte von der Geburt Jesu erzählt. Seine Version weicht zwar in einigen Details von der des Lukas ab, doch sie erfüllt denselben Zweck, die Geburt des Erlösers als historischen Tatsachenbericht zu dokumentieren, der mit den Vorhersagen der Propheten übereinstimmt. Zu diesem Zweck erfindet Lukas eine von Kaiser Augustus angeordnete Volkszählung und Matthäus einen von König Herodes befohlenen Kindsmord, weil er Angst vor einem potenteren Konkurrenten hatte. Weder die Erfassung der Steuerzahler noch der königliche Auftrag des Kindermordes ist durch historische Quellen belegt, dafür gilt es als weitgehend gesichert, dass Jesus wirklich geboren wurde, gelebt hat und sein Ende am Kreuz fand.

Die seltsame Mischung von Fakten und Fiktion in den Weihnachtsgeschichten verwirrt den aufgeklärten Leser, denn als solcher ist man doch geneigt, der Erzählung über machthungrige Steuereintreiber und gewalttätige Tyrannen eher zu glauben als der Behauptung, dass – vermutlich im Jahre 4 v. Chr. – ein »Erlöser« geboren worden sei. Zumal bekanntermaßen der Apostel Paulus noch weiter ging und behauptete, mit dem Tod Jesu am Kreuz habe eine neue Zeitrechnung begonnen, in der das »Gesetz« überwunden sei und nur noch ein Zwischenstadium mit dem Warten auf die in Bälde stattfindende vollständige Befrei­ung der Menschen überbrückt werden müsse.
Doch dieses Zwischenstadium zieht sich be­kannt­lich aus unerfindlichen Gründen seit über 2 000 Jahren hin, weswegen die Wirkungsmächtigkeit des messianischen Glaubens an Jesus jenseits von Weihnachten ziemlich an Kraft eingebüßt hat.

Weit wichtiger als die Frage, ob Jesus der von den jüdischen Propheten erwartete Messias war oder nicht, wurde allerdings mit der Moderne die Frage, ob die messianische Idee Potenzial für revolutionäre Veränderung ist oder von vornherein gefährlicher Nonsens war, der dazu diente, den Ausstieg aus der Geschichte zu legitimieren.
In den vergangenen Jahren haben vor allem po­litische Philosophen wie Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Slavoj Zizek versucht, die paulinische Interpretation der messianischen Idee neu zu beleben. Allesamt fielen diese engagierten Philosophen dabei allerdings hinter einen Disput zurück, der vor etlichen Jahrzehnten über die grund­sätzliche Bedeutung des Messianismus zwischen Gershom Scholem und Jacob Taubes stattgefunden hatte.
Scholem, der mit seiner wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Mystik ein neues Verständnis des Judentums und der jüdischen Geschichte lieferte, verfasste 1959 den berühmten Aufsatz »Über die messianische Idee im Judentum«. Dort behauptet er eine grundlegende Differenz zwischen dem jüdischen und dem christlichen Begriff von Erlösung. Der entscheidende Ab­satz ist unter denjenigen, die sich mit Geschichte und Philosophie des Judentums beschäftigen, in etwa so bekannt und umstritten wie in anderen Kreisen die 11. Feuerbachthese.
»Das Judentum hat, in allen seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, der sie als einen Vorgang auffasste, welcher sich an der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann. Demgegenüber steht im Chris­tentum eine Auffassung, welche die Erlösung als einen Vorgang im geistigen Bereich und im Unsichtbaren ergreift, der sich in der Seele, in der Welt jedes einzelnen, abspielt und der eine geheime Verwandlung bewirkt, der nichts Äußeres in der Welt entsprechen muss.«
Jacob Taubes, ehemaliger Assistent von Scholem in Jerusalem und später Professor für Religionsphilosophie und Judaistik in New York und Berlin, wagte es 1977, die weltweit für ihre Forschung geachtete Autorität Scholem zu kritisieren. Das Festhalten an der starren Opposition zwischen jüdischem und christlichem Begriff von Erlösung verstelle den Blick auf die der messianischen Idee innewohnende Dynamik und sei ein Relikt aus der klassischen Kontroverse des Mittelalters. Die »Verinnerlichung« könne nicht als »Trennlinie zwischen Judentum und Christentum« bezeich­net werden, sondern müsse vielmehr als »Krise innerhalb der jüdischen Escha­tologie im Stadium ihrer Aktualisierung« wahrgenommen werden. Dieses Stadium sei in der Geschichte des Judentums zwei Mal manifest geworden, im frühen Christentum, kurz bevor das rabbinische Judentum dominant wurde, und in der sabbatianischen Bewegung des 17. Jahrhunderts, als das rab­binische Judentum wieder zu zerfallen begann.
Beide Male sei der vermeintliche Messias am Vor­haben gescheitert, die »äußere Welt« zu erlösen, weshalb der einzige Ausweg der messianistischen Hoffnung eine Wendung zur »Innerlichkeit« habe sein können.

Paulus von Tharsus und Nathan von Gaza seien die kühnen Geister gewesen, die die messianische Idee von Jesus beziehungsweise Sabbatai Zwi in die Welt gesetzt hätten, und erst deren Interpretation habe die messianische Musik gemacht. Oder um es anders auszudrücken: Wenn die Theoretiker die wirren Gedanken und Taten historischer Figuren nicht im Nachhinein zu einem theoretischen Gebäude systematisiert hätten, wäre die Idee, dass die Überwindung bestehender Ungerechtigkeit im Kontext religiöser Gemeinschaften überhaupt denkbar ist, ziemlich schnell gestorben.

Die zweite berühmte Behauptung aus Scholems oben genanntem Aufsatz lautet: »Die Größe der messianischen Idee entspricht der unendlichen Schwäche der jüdischen Geschichte, die im Exil zum Einsatz auf der geschichtlichen Ebene nicht bereit war (…) So hat die messianische Idee im Judentum das Leben im Aufschub erzwungen, in welchem nichts in endgültiger Weise getan und vollzogen werden kann.«
Dem entgegnete Taubes, dass der Rückzug ins Geistige nicht von der messianischen Idee »erzwun­gen« worden sei, vielmehr sei das rabbinische Judentum dafür verantwortlich, weil es messia­nische Bewegungen immer bekämpft habe.

When prophecy fails, sei es ein legitimer, gleichsam fast unabwendbarer Weg, dass aus der konkreten Hoffnung auf Veränderung der Geschichte apo­kalyptische und schließlich gnostische Positionen erwachsen.
Zwar hielt auch Taubes jeden Versuch, Erlösung ohne Verwandlung der messianischen Idee auf geschichtlicher Ebene zu verwirklichen, für einen Weg »in den Abgrund«. Doch der Messianismus sei nicht automatisch eine Vorlage für den Ausstieg aus der Geschichte.
Entscheidend sei, ob man Messianismus lediglich als wissenschaftliche Kategorie benutze, mit der man historische Ereignisse und Entwicklungen als falschen Weg auffassen könne. Oder ob man den Messianismus als Moment menschlicher Erfahrung begreife, in dem sich in bestim­mten historischen Situationen »historisch-revolutionäres Potential« verdichtet.
Die Erzählung der Weihnachtsgeschichte nach Lukas bricht häufig vor einer interessanten Stelle ab, an der es heißt: »Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu be­stimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird.« (Lk 2,34)
Der Messias ist demnach also die Figur des Widerspruchs. Und so könnte man auch die Idee verstehen, die Taubes mit dem Messianismus auf­rechterhalten wollte: die Möglichkeit des Widerspruchs gegen die Geschichte, der nicht den Ausstieg aus der Geschichte nach sich ziehen muss, dabei aber immer auf den Widerspruch anderer treffen wird.

Elettra Stimilli (Hg.): Der Preis des Messianismus. Briefe von Jacob Taubes an Gershom Scholem und andere Materialien. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, 180 Seiten, 26 Euro