Die Leiden des ideellen Gesamtkapitalisten
Friedrich Engels bezeichnete den Staat treffend als »ideellen Gesamtkapitalisten«. In der marxistisch-leninistischen Tradition wurde dies etwa nach der Stamokap-Theorie (Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus) in die simple Vorstellung übersetzt, Regierungen seien »Marionetten«, die an den Fäden der Monopole zappeln würden. Kritische marxistische Strömungen (für die unter anderem die Namen Nicos Poulantzas oder Johannes Agnoli stehen) zeigten, dass solche Vorstellungen, obwohl sie in manchen Fällen durchaus zutreffend sein mögen, grundsätzlich unzureichend sind, um staatliches Handeln zu erklären: Sind Regierungen von einzelnen Kapitalfraktionen abhängig, dann setzen sie deren Partikularinteressen durch, aber nicht das Interesse des Gesamtkapitals. Dementsprechend werden solche Abhängigkeiten, Einflussnahmen und korrupten Beziehungen auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit skandalisiert.
Die Abhängigkeit zwischen Staat und Kapital ist struktureller Art. Ohne akkumulierendes Kapital sieht sich jede Regierung mit sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Kosten für die wachsende Zahl von Arbeitslosen konfrontiert. Deshalb wird sie auch alles daran setzen, dass es »unserer Wirtschaft« gut geht. Staat und Regierung müssen den einzelnen Unternehmen und Kapitalfraktionen gegenüber unabhängig sein, um das kapitalistische Gesamtinteresse und die besten Wege zu seiner Durchsetzung bestimmen zu können. Dies kann zuweilen ganz schön schwierig sein, da es nicht immer auf der Hand liegt, wie diesem Gesamtinteresse am besten gedient werden kann. Die gegenwärtige Situation bietet dafür ein anschauliches Beispiel.
Alles wird noch viel schlechter werden. So lässt sich die Botschaft zusammenfassen, die Politiker, Unternehmer und die unvermeidlichen »Wirtschaftsexperten« seit Wochen von sich geben. Was man gegen den angeblich drohenden Absturz der Wirtschaft allerdings machen kann, das ist längst nicht so klar. Die Kirchen verlangten jüngst, die Renditeziele der Unternehmen zu beschränken, die Gewerkschaften wollen ein deutlich größeres Konjunkturprogramm, einige Wirtschaftsinstitute fordern Steuersenkungen.
Vor diesem Hintergrund legte die Bundesregierung einen hübschen Eiertanz hin. Das »Rettungspaket« für die Banken war schnell geschnürt, denn ein Zusammenbruch des Finanzsystems hätte unabsehbare Konsequenzen für den Rest der kapitalistischen Wirtschaft gehabt. Für diesen Rest wurde dann aber nur ein ziemlich kleines Konjunkturprogramm beschlossen, für das man anfangs sogar noch die Bezeichnung Konjunkturprogramm vermeiden wollte. Das klingt zu sehr nach Keynesianismus, und der wurde ja schon längst, ob der offensichtlichen Überlegenheit deregulierter Märkte, entsorgt.
Sowohl einige Unternehmer als auch manche durchaus konservative Wirtschaftskommentatoren und die Gewerkschaften forderten jedoch mehr. Die Bundesregierung wollte aber nicht und nahm auch eine Verstimmung mit den Regierungen Frankreichs und Englands in Kauf, die bereit sind, viel Geld in die Hand zu nehmen, um die Nachfrage anzukurbeln, und die beide auf koordinierte europäische Aktionen drängten. Noch auf dem CDU-Parteitag Ende November erklärte Kanzlerin Angela Merkel, dass das kommende Jahr »sehr schwierig« werde, doch wolle man nicht in blinden Aktionismus verfallen. Mehr als das bereits Beschlossene sei erst mal nicht nötig.
Das Verfallsdatum dieser Aussage war bereits nach wenigen Wochen erreicht. Im Dezember lud die Regierung Gewerkschaften und Unternehmerverbände zu einem »Krisengipfel« ein, ohne dass jedoch ein Konzept dafür existierte, was dieser Gipfel eigentlich erreichen sollte, und so wurde auch nichts erreicht, außer dass man mal wieder miteinander geredet hatte. Vor Weihnachten wurde dann, ganz entgegen den soeben gemachten Beteuerungen, für den Januar ein zweites, größeres Konjunkturprogramm angekündigt. Über dessen Umfang und Ausgestaltung wird derzeit gestritten. In diesem Stil wird es wohl noch eine Weile weitergehen. Man wolle ja nicht nur Geld ausgeben, um die Wirtschaft anzukurbeln, sondern auch sparen, um den Staatshaushalt zu konsolidieren, heißt es aus Regierungskreisen.
Schuldenabbau bei gleichzeitigen Steuersenkungen hieß bislang das Konsensprogramm sowohl von Rot-Grün als auch von Schwarz-Rot. Steuersenkungen kommen vor allem den Großverdienern und mit der Unternehmenssteuerreform auch den Unternehmen zugute. Dafür wurde bei den Sozialausgaben gespart, dass es nur so krachte. Im Resultat ergab dies ein enormes Umverteilungsprogramm, das durchschlagenden Erfolg hatte: Sowohl die Armutsrate als auch der Anteil des Gesamteinkommens, der auf die Spitzenverdiener entfällt, sind in Deutschland kontinuierlich angestiegen.
Doch jetzt sieht alles anders aus. Dem stark exportorientierten deutschen Kapital würde ein nationales Konjunkturprogramm nicht viel helfen, dafür aber um so mehr die Konjunkturprogramme von Ländern, die deutsche Waren importieren. Nicht aus Sorge über die deutsche Wirtschaft waren Sarkozy und Brown über die konjunkturpolitische Zurückhaltung der Bundesregierung so erbost, sondern weil sie befürchteten, dass die deutsche Regierung mal wieder zum Trittbrettfahrer der Konjunkturprogramme anderer europäischer Länder werden würde. Bei weiterhin niedrig bleibenden deutschen Löhnen würden die deutschen Unternehmen ihre Konkurrenzvorteile sogar noch ausbauen. Doch auch wenn die Exportwirtschaft in Deutschland dominiert, ist die Produktion für den Binnenmarkt nicht unwichtig. Die Autoindustrie exportiert nicht nur, sie produziert auch eine Menge fürs Inland, und vor allem die Bauwirtschaft und ihre Zulieferer sind binnenmarktorientiert. In erster Linie auf sie soll wohl das zweite Konjunkturprogramm mit seinen verschiedenen Infrastrukturmaßnahmen abzielen.
Die staatliche Politik muss aber nicht nur einen Mittelweg zwischen den divergierenden Interessen der unterschiedlichen Kapitalfraktionen finden. Als ideeller Gesamtkapitalist muss der Staat nicht nur das kapitalistische Gesamtinteresse bestimmen und durchsetzen, die entsprechenden Maßnahmen müssen gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung auch legitimiert werden. Ein funktionierender Kapitalismus ist auf eine zumindest passive Zustimmung derjenigen angewiesen, die letzten Endes die Zeche zahlen müssen. Fehlt dieses vielleicht auch widerwillige Sichfügen, dann bleibt nur noch die massenhafte staatliche Repression, und die ist für das Kapital auf Dauer jedenfalls geschäftsschädigend.
Wie es um die Legitimation der staatlichen Politik bestellt ist, kann 2009 sehr sichtbar werden, angesichts von fünf Landtagswahlen, der Europa- und der Bundestagswahl. Für die Regierungsparteien gilt es schon aus unmittelbarem Eigeninteresse, die Zustimmung der Wähler zu ihrer Politik zu organisieren, für die parlamentarische Opposition geht es darum, eine »realistische« Alternative abzugeben. Bislang war der angestrebte ausgeglichene Haushalt die unantastbare Grundlage des Regierungshandelns der Großen Koalition. Nur sehr zögernd ist sie bereit, sich von diesem Mantra zu verabschieden. Darin drückt sich nicht nur die Befangenheit in der neoliberalen Ideologie aus. Nicht wenige Politiker dürften den Unsinn über die Segnungen des freien Marktes und die absolute Schädlichkeit der Staatsschulden geglaubt haben.
Jetzt geht die Unsicherheit um, wie die Wähler reagieren werden, wenn all das, was gestern noch als quasi-religiöse Wahrheit verkündet wurde, heute so mir nichts, dir nichts über den Haufen geworfen wird. Allerdings könnte es auch sein, dass die Wähler bei wieder steigenden Arbeitslosenzahlen gerade Untätigkeit nicht verzeihen würden. Vielleicht würden sie dann sogar in noch größerem Umfang die Linkspartei wählen oder, schlimmer noch, auf die Straße gehen und versuchen, selbst etwas zu ändern. Was man auch macht, es könnte das Falsche sein – diese Angst ist den regierenden Politikern deutlich anzumerken. Es ist einfach keine leichte Aufgabe, in diesen Zeiten als ideeller Gesamtkapitalist zu fungieren.