Wenn es Deutschland nicht gegeben hätte…

Deutschland macht das Licht aus

Noch 1944 wurde vom amerikanischen Fi­nanz­minister Henry M. Morgenthau ernsthaft erwogen, Deutschland in einen Kartoffelacker zu verwandeln. Leider wurde nichts daraus. Doch was wäre passiert, wenn die Gründung des deutschen Staates tatsächlich verhindert worden wäre?

Schöner Land
von thomas blum
Ich sehe es vor mir, gigantisch, riesenhaft, un­über­schaubar, ein monumentales Bauwerk, wie es die Welt noch nicht gesehen hat, ebenso makellos wie hoch wie breit, die Seele dessen, der gedankenschwer oder ungläubig staunend in die Be­trachtung des Monuments versunken ist, gewaltig erschütternd, sich ebenso dem wissend nickenden wie dem ahnungslosen Reisenden auf ewig unauslöschlich ins Bewusstsein brennend, zu hundert Prozent gefertigt aus dem sichersten, viel­seitigsten und modernsten, ja den Siegeszug der technisch-wissenschaftlichen Moderne, die Morgenröte einer neuen, besseren Zeit wie kein anderer symbolisierenden Baustoff, der überdies wie kein anderes Material auf der Welt für den Geist und das Wesen der Deutschen steht – aus gehärtetem, auf Jahrhunderte hinaus unzerstörbarem Stahlbeton, sich ausdehnend über hunderte, ja tau­sende von Kilometern, jedes seinerzeit noch verbliebene Stücklein albernen Wald, jedes vorwitzige Gänseblümchen, jedes stinkende Maiglöckchen unbarmherzig für immer unter sich begrabend, blitzendes Chrom und glänzenden Stahl beherbergend, gewidmet dem unaufhörlichen Fort­schritt und der grenzenlosen Mobilität der Mensch­heit, dem Liebsten des Menschen auf Dauer sicheren Schutz vor der unberechenbaren Witterung gewährend, erbaut im geographischen und geistigen Zentrum Europas, formschön, zweckmäßig, zukunftsweisend, imposant, gewaltig, bezaubernd, dem Volke Europas, ja der gesamten Weltbevölkerung zu Nutz und Frommen, das phantastischste Wunder der Architektur, die Pyramiden von Gizeh und die chinesische Mauer im Vergleich wie einen Fliegenschiss aussehen lassend, sich majestätisch erstreckend zwischen Frankreich und Polen: das größte Parkhaus der Welt.

In der Eiszone
von piotr katzenson alias peter o. chotjewitz
Seinem Namen nach muss Deutschland religiös definiert werden. Die Buchstaben DEU verweisen auf Deus, also Gott, was wiederum auf den Westgotenkönig Theoderich, den »an Gott Reichen«, hindeutet. Das heißt: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«
Der Ruhm der Deutschen ist historisch verbrieft. Als Antisemiten erscheinen sie in einem Gedicht des Barockdichters Opitz, wo er »Gott« auffordert, »die schrecklichen Maranen« (die Juden) zu »schla­gen«. Als Deutschtümler treten sie um die gleiche Zeit in einem Gedicht von Weckherlin auf: »Teutsch sind wir von Geburt mit Herz und Hand. Mit Ausländern darf nicht sich unser Land beschönen.« Verständlich also, dass immer wieder versucht wurde, Mutter Erde vom Deutschtum zu befreien. Ich erwähne nur die Säuberung der Ost­gebiete nach dem Zweiten Weltkrieg und den Plan des Niederländers Frits Bakker-Schut, der auch Westdeutschland unter seinen Nachbarn auf­­­teilen wollte. Das Projekt scheiterte leider, wies aber in die richtige Richtung, denn Bakker-Schut sah auch die Ausweisung der deutschen Bevölkerung vor.
Doch würden die Deutschen in ihren zukünftigen Heimatländern nicht ebenso viel Unheil anrich­ten wie in Deutschland? Die Frage lautet demnach: Wohin mit den Deutschen? Ich plädiere für die Ant­arktis, die bald eisfrei sein wird. Hier, auf jung­fräu­lichem Boden, der seit langem ungenutzt ist, könnten sie ihre Tatkraft entfalten und blühende Land­schaften schaffen, wie in der Ostzone nach 1990.

Vereint im Vermöbeln
von wolf lotter
Es ist nicht schön, wenn man verliert, aber doppelt tragisch ist es, wenn man verlor, wo es nichts zu gewinnen gab. »Varus, gib mir meine Legionen wieder«, soll Kaiser Augustus fluchend ausgerufen haben, als der Spielstand der Begegnung Römische Legionen vs. Germanische Raufbolde im Jahr 9 n. Chr. nach Rom gedrungen war. Die Römer hatten an dem verstruppten, sumpfigen, verregneten Hinterland Europas kein Interesse. Umso schmerzlicher war es für sie, dass sie ausgerechnet hier, wo es nichts zu gewinnen gab, verloren. Die so genannte Schlacht im Teutoburger Wald gilt ewig Verwehten bis heute als erste heftige Re­gung einer germanischen Gesamtvereinigung. Ein verstrahlter Unfug. Denn kaum hatten die zu­sammengewürfelten Haufen, die sich selbst nicht »Germanen« nannten, die Römer vermöbelt, murks­ten sie schon ihren Anführer Arminius, den alten Hermann, ab und taten, was sie seither immer tun: Sie zerstreuten sich, untereinander die größten Feinde, unversöhnlich mit der Welt, alles, nur nicht vereint.
Was wäre, wenn es Deutschland nicht gäbe? Aber Herrschaften: Deutschland gibt es ja gar nicht. Hier leben die, die sich nicht entscheiden wollten und wollen. Die, die immer hängenbleiben. In der Völkerwanderung zogen Stämme aus kalten Steppen ins warme Italien, Spanien, Frank­reich. Nur die Zauderer und Zögerer bewegten sich nicht weiter. Was hätte aus ihnen werden können? Westpolen? Kaum. Die Polen übersprangen kulturell den ungeliebten Nachbarhaufen stets – Frankreich liegt ihnen näher. Ostfrankreich? Unwahrscheinlich. Südschweden? Möglicherweise. Ingvar Kamprad, Ikea-Gründer, wäre vor vierzig Jahren in den Süden aufgebrochen, wo die Zauderer immer noch im Teutoburger Wald hausten, und hätte ihnen beigebracht, wie man aus billigem Holz wackelige Möbel macht. Für ein paar Jah­re wäre das gutgegangen. Bis sich schließlich die Germanen über die Bauanleitungen aus Schweden geärgert hätten, wie sie sich über alles ärgern. Und Kamprad vermöbelt hätten.

Rest-D
von bini adamczak
Erinnerungspolitisch ist die Mauer den Museen vorzuziehen. Denn bei der deutschen Vergangenheit ist immer zuerst darauf zu achten, dass sie überhaupt vergeht. Aber an wen hätten sich eigent­lich Entschädigungsforderungen gerichtet, wenn die Auflösung von Deutschland 1945 realisiert wor­den wäre? Hätte sich ein um einige Millionen Anti­semitinnen angereichertes Polen beispielsweise gegenüber Israel anders verhalten als die DDR, die jede Rechnung mit dem Vermerk »Empfänger verstorben« zurückschickte? Immerhin hatte sie die »aggressivsten Teile des Finanzkapitals« abge­schüttelt, da konnte es keine Kontinuität des NS mehr geben – abgesehen vom Staat und seiner Be­völkerung, versteht sich. Kein deutsches Kapital, aber auch kein Staat mit deutschem Namen, das ist der Anfang des Traums. Dessen Erfüllung, das Ende der deutschen Nation, ist damit leider noch nicht erreicht. Die Aufteilung Deutschlands hätte, machen wir uns nichts vor, innerhalb eines Tages die Mehrheit der Deutschen in virtuelle Su­deten verwandelt. Der Vorteil wäre, dass sich die Welt nicht mit der Lüge der deutschen Ver­gan­gen­­heits­be­wäl­ti­gung täuschen ließe. Denn Ge­schichts­politik trüge bis heute den Namen Aufstandsbekämpfung. Während eine Armee von braunhemdigen Trachtenträgerinnen in Ostfrank­reich um Separation kämpft, gründet der Zivilgesellschafts-Flügel einen Verein, der zweisprachige Dorftafeln erstreitet. Als Gegenleistung akzeptiert er, das imaginäre Rest-D zukünftig nur noch mit Esel-phonem Suffix Deutschland i.A. zu nennen.

Tiefer dimmen
von rayk wieland
Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik kann Deutschland sich nicht einfach im Nichts auflösen, so sehr man das bedauern mag, sondern wird in irgendeiner anderen Form weiterhin da sein und durch die Gegend vagabundieren. Und das ist es, was mir Sorgen macht. Denn so reizvoll es sicher wäre, Frankreich an Polen grenzen und Tschechien am Meer liegen zu sehen, so deprimierend dürften die Auswirkungen für diejenigen sein, die sich dann, wo immer, mit einem aus heiterem Himmel aufkreuzenden Deutschland herumschlagen müssen. Die Rede ist von einem über die Wüste Gobi hereinbrechenden Waldsterben, von Autobahnen im Aleutengraben und von Eisbein in Pjöngjang.
Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik aber kann Deutschland, wenn überhaupt, von selbst nur in ein energieärmeres, tiefer gedimmtes, will sagen, niveauloseres übergehen. Nun ist Deutschland das Nicht-Okay-Land schlecht­hin und obendrein, was Geographie, Klima und Kultur betrifft, unter allen Ländern der Welt bereits das ödeste. Die Sommer sind hier nicht richtig warm, die Winter nicht richtig kalt, die Flüsse nicht richtig groß, und die Gebirge sind Mittelgebirge – wo alte Leute Urlaub machen oder Ehepaare, deren Kinder aus dem Haus sind, das heißt Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben, die zünftige Knickerbocker tragen und graue Jägerhütchen mit erigierter Auerhahnfeder, Wande­rer, die in Gaststätten, die »Zum Braunen Hirsch« heißen, Einkehr halten, gestützt auf Knotenstöcke, an denen Plaketten angenagelt sind, die dokumentieren, in welchen anderen Mittelgebirgen sie, die Wanderer, bereits herumgewandert sind. Was ich sagen will, ist: Es kann nur schlechter werden.

Stangelwirt Social Club
von matthias seling
Immer wenn ich von Köln nach München im Nicht­raucherzug reise und nach Nikotin schmachte, werde ich an dem unsichtbaren, aber dennoch eisernen Vorhang zwischen Baden-Württem­berg und Bayern von zwei bis drei freundlichen Bruce-Willis-Typen von der Ersatzbank mit den Worten begrüßt: »Verdachtsunabhängige Personenkontrolle. Drogen, Waffen?« Wenn ich darauf antworte mit: »Ja, gern, was ham’s denn da?«, merke ich, dass der Besuch bei einem persischen Proktologen dem langen Arm der bayerischen Polizei vorzuziehen ist.
Was wäre aber, wenn Bayern tatsächlich ein Freistaat geworden wäre, wie es sich Kurt Eisner vorgestellt hatte, und nicht ein intellektueller Vorposten von Guantánamo?
Es ist zwar kaum vorstellbar, dass die SPD die Räterepublik nicht an die Freikorps verraten hätte, aber dennoch, die Freikorps scheitern, wie die Exilkubaner in der Schweinebucht. Bayern wird frei und zur Projektionsfläche revolutionär Gesinnter. Junge Menschen tragen T-Shirts, auf denen nicht etwa das Konterfei von Che, sondern das von Paul Breitner zu sehen ist. Wim Wenders entdeckt in Niederbayern die Biermösl Blosn, dreht den Dokumentarfilm »Stangelwirt Social Club«, bekommt die Goldene Palme, und weltweit tanzen von Fernweh geplagte BWL-Studenten zu bayerischen Landlern.
Im ICE »Erich Mühsam« würde ich die Grenze zwischen der baden-württembergischen Bausparer-Republik und dem Freistaat Bayern passie­ren, und Zigaretten und andere Rauchwaren würden gereicht, weil so ein Schmarrn wie Rauch­verbot gegen bayerische Prinzipien verstößt.

Weggewienert
von sonja eismann
Wenn Deutschland abgeschafft worden wäre und meine Mutter aus dem Saarland trotzdem meinen Vater aus Ostpreußen an der Universität Saar­brücken kennen gelernt hätte, würde ich heute Polnisch, Französisch und ein holpriges Österrei­chisch sprechen. Die beiden Nachbarländer hätten sich auf halbem Weg getroffen und damit das, was vorher deutsch war, einfach aufgesaugt. Der hässliche Fleck in der Mitte der europäischen Landkarte wäre hübsch weggewienert, Köln französisch, Berlin polnisch, mit offenen Grenzen natürlich. Aber was wäre mit den anderen angrenzenden Staaten, den Niederlanden, Dänemark, der Tschechoslowakei? Scharf wäre wohl niemand darauf gewesen, die Überbleibsel des Dritten Reiches zu integrieren, und die Alliierten hätten immerhin »Deutsch« als Wahlfach etablieren können, so dass bei Ausflügen nach Österreich (war das erste Opfer des Nationalsozialismus und wollte daher keine Restanteile) und in die Schweiz (war an gar nichts beteiligt und wollte auf gar keinen Fall etwas Deutsches aufgedrängt bekommen) eine Kommunikation möglich gewesen wäre. Die Bayern wären freilich traurig gewesen, dass die Österreicher sie nicht hätten haben wollen und so ihre Idee der katholischen Monarchie Cisalpina (Bayern, Tirol, Liech­tenstein und Südtirol) nicht zustande gekommen wäre. Immerhin wären in dieser Region die schlimmsten Auswüchse der indigenen Dialekte nach und nach gemildert worden – Wahlfachsprache wäre Österreichisch oder Schwyzerdütsch. Außerdem würde das beklemmende Unbehagen, das sich jedes Mal beim Passieren der Grenze nach Deutschland einstellt, genau wie der Staat, einfach verschwunden sein. Vielleicht würde sogar die dröge Landschaft auf einmal schöner aussehen.

Appetit auf mehr
von jürgen kiontke
Neben vielen Dingen, für die Deutschland im Laufe der Zeit bekannt geworden ist – etwa grundlegende Einteilungen von Gemütskrankheiten und Massenmord auf erbbiologischer Basis, den Abriss von Baudenkmälern mitten in der Hauptstadt wie auch die Umsatzsteuervoranmeldung, um nur einige zu nennen –, scheint mir der Hunger ein wesentliches Moment seines Herumwesens zu sein. Wenigstens schließe ich dies aus der Lektüre von Georg Droeges »Deutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte«. In diesem äußerst lesenswerten Bändchen handelt der Autor etwa 1 000 Jahre deutschen Existierens auf gerade mal 200 Taschenbuchseiten anhand dröger ökonomischer Daten ab.
Abgesehen von der Frage, ob das deutsche Gelände tatsächlich so alt ist – bei der Lektüre ergibt sich folgendes Bild: Rund 850 Jahre besteht ein großer Teil deutscher Politik in der Beschäftigung mit dem Hunger. Wie der gegen arme Leute einzusetzen ist, weiß man schnell; wie er abzuschaffen ist, wissen die Führungskräfte bis ins 18. Jahrhundert nicht. Dann legt der erste deutsche Fürst Kornspeicher an. Ob mit Erfolg, sei da­hingestellt. Die restlichen 150 Jahre beschäftigt man sich – neben dem Weiter-Kohldampf-schieben – damit, eine Weltmacht zu werden. Zweimal wird dabei versucht, das zentrale Wirtschafts­gut, den Hunger, weltweit zu exportieren. Ob mit Erfolg, sei dahingestellt. Würde der Welt etwas fehlen, wenn das deutsche Gelände einfach unbewohnt geblieben wäre? Womöglich eine gewisse Portion Welteroberungshunger.