Die Spuren jahrzehntelanger Kriege in Kambodscha

Nicht einmal eine Kugel wert

Im Januar 1979 beendeten vietnamesische Truppen das Regime der Roten Khmer in Kambodscha. Die vier Jahre ihrer Herrschaft kostete ein Zehntel der Bevölkerung das Leben. An den Folgen von Krieg und Terror leidet das Land bis heute.

»9 000«, sagt der kleine Mann, der neben uns steht. »Das sind 9 000 Schädel, die alle aus den Massengräbern der Umgebung gezogen wurden.«
Frank und ich stehen fassungslos vor dem Mahn­mal auf den Killing Fields am Rande der kam­bodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Eine Pyramide hinter Glas, aufgeschichtet aus den Schä­deln der Opfer. Um das Mahnmal herum sehen wir zahlreiche Gruben und Senken, die mit kleinen Holzzäunen umgeben und vom Gras überwuchert sind. »Da hinten waren ungefähr 350 Menschen verscharrt«, sagt unser Reiseführer und zeigt auf ein vielleicht 30 Quadratmeter großes Areal. »Viele Kinder waren dabei. Die brauchen nicht so viel Platz.«
Zwischen 1975 und 1979, direkt nach dem Ende des Indochina-Kriegs, starb unter der Terrorherrschaft von Pol Pot und seinen Roten Khmern mindestens eine Millionen unschuldiger Menschen. Zehn Prozent der damaligen kambodscha­nischen Bevölkerung, nach vorsichtigster Schätzung. Es gibt auch Experten, die von zwei Millionen Toten reden. Im Januar 1979 marschierten vietnamesische Truppen ein, mit denen die Roten Khmer schon seit Jahren Grenzstreitigkeiten hatten. Pol Pots Männer zogen sich in den Norden des Landes zurück. Ein Guerillakrieg begann, der sich bis 1991 hinzog, als die Kriegsparteien in Paris einen Friedensvertrag schlossen. Die ersten Wahlen gab es zwei Jahre später.
»Seht ihr die Risse in den Schädeln?« fragt der kleine Mann mit unbarmherziger Freundlichkeit. »Die kommen daher, dass die meisten Menschen hier mit Bambusstöcken erschlagen wurden. Die Roten Khmer sparten Munition. Wir waren ihnen nicht einmal Kugeln wert.«
Immer wieder stößt man auf einer Reise durch Südostasien auf Spuren jahrzehntelanger Kriege und Bürgerkriege. In Laos warf die US-Airforce im Vietnam-Krieg 3,8 Millionen Tonnen Bomben. Mehr als eine Tonne pro Kopf der damals drei Millionen Einwohner. Mehr als auf Deutschland und Japan im kompletten Zweiten Weltkrieg. Auf der Jagd nach Vietcongsoldaten, die sich ins westliche Nachbarland zurückgezogen hatten. Überall sind Menschen an Krücken mit abgerisse­nen Gliedmaßen zu sehen – Opfer der ungezählten Blindgänger. Bis heute muss man in Laos und Kambodscha als zuerst ein Minenräumkommando anfordern, wenn man ein neues Feld bestellen, ein neues Haus bauen will. Aber das hier ist der grausige Höhepunkt.

Der kleine Mann neben uns heißt Sam. Sagt er. Eigentlich ist Sam Beamter im staatlichen Touris­musbüro von Phnom Penh. Doch da der Lohn nicht reicht, findet man ihn höchstens zwei Mal pro Woche an seinem Schreibtisch. »Die Vorgesetzten wissen, dass wir nebenbei arbeiten. Aber was sollen sie tun? Sie selbst machen das ja auch!« Wer nicht korrupt wird, der hungert. Sam verdient 55 Dollar pro Monat. Dafür kann er einen Zent­ner Reis kaufen, oder zehn Kilo Huhn, oder 60 Liter Benzin. Ein Bauarbeiter verdient nur 30 Dol­lar im Monat.
Die meiste Zeit führt Sam also auf eigene Faust Touristen zu Plätzen wie diesen. Er kann es nicht fassen, dass alte Kämpfer und Nachfahren der Ro­ten Khmer heute schon wieder in Kambodscha mitregieren. Das Land ist eine konstitutionelle Monarchie unter König Norodom Sihamoni. Faktisch regiert wird es von Premierminister Hun Sen und seiner Kambodschanischen Volkspartei. Viele ihrer Abgeordneten sind ehemalige Kader der Roten Khmer, wobei man fairerweise sagen muss, dass etliche von ihnen selbst verfolgt wurden und 1979 mit den Vietnamesen zurückkamen.
Sam ist Anhänger der oppositionellen Sam-Rainsy-Partei, dessen namensgebender Vorsitzender Mitte der neunziger Jahre Finanzminister von Kambodscha war. Weil er als solcher sehr offen die Misswirtschaft und Korruption im Land anprangerte, gab es Anklagen und später Anschlä­ge gegen ihn; 2005 musste ging er ins Exil nach Paris. 18 Monate später konnte Rainsy auf Erlass des Königs zurückkehren. Die Lage der oppositionellen Parteien ist aber nach wie vor schwierig.
Die letzten Wahlen fanden am 28. Juli statt, und trotz Kontrolle durch interna­tio­nale Wahlbeobachter gab es massive Manipula­tio­nen. Zehntausende Einwohner von Phnom Penh wurden aus undurchsichtigen Gründen nicht in die Wählerlisten aufgenommen. Aus den Dörfern gab es Berichte, dass den Bauern Lügen von angeblich in den Wahlkabinen installierten Kameras er­zählt wurden. 90 von 123 Sitzen erlangte die Volks­partei auf diese Weise und regiert nun mit Zweidrittelmehrheit.
Als die Roten Khmer an die Macht kamen und systematisch begannen, die Stadtbevölkerung in Internierungslager zu stecken, war Sam 16. Sein Glück war es, dass die Roten Khmer nicht nur bru­tale Mörder, sondern auch penible Bürokraten waren. Sam befand sich gerade im Haus seines Vaters, eines Arztes. Das lag wenige Kilometer von der Stadtgrenze entfernt. Also kam Sam mit drei Monaten Gefängnis davon. 49 Familienangehörige von ihm und seiner Frau hatten nicht den Zufall auf ihrer Seite. Sie wurden umgebracht.
Journalisten aus Korea haben über Sam und seine Meinungen berichtet. Als der Artikel erschien, standen Tage später ein paar Männer vor seinem Büro, die er noch nie gesehen hatte. Sie machten ihm klar, dass er sich und seine Familie gefährden würde. Zum Schweigen hat ihn das nicht gebracht, aber seitdem heißt er Sam.
Sam fragt, ob er uns zum Abschluss der heutigen Führung noch etwas Hübsches, Versöhnliches in Phnom Penh zeigen soll. Den Königspalast mit der weltbekannten silbernen Pagode? Oder einen Kunstgewerbemarkt? Frank und ich sehen uns nicht einmal an, bevor wir abwinken. Also setzt Sam uns vor dem Hotel ab. Bis morgen!
Ich will noch ein bisschen am Mekong entlang spazieren, der wenige Meter vom Hotel entfernt ist.

Plötzlich spricht mich jemand an. »Wanna ­smoke? Wanna lady? Blonde lady? Young lady?« leiert der Fahrer eines Tuk-Tuk, wie man die zweitaktigen Mofa-Rikschas wegen ihres Motorengeräuschs hier nennt, sein Angebot herunter. Nicht schon wieder! Seit Beginn der Reise ist mir aufgefallen, dass europäische und amerikanische Männer, die allein spazieren, automatisch als potentielle Freier angesehen werden. Ich winke genervt ab. Konspirativ kommt der Fahrer ein Stück näher. »Really young lady?«
Natürlich weiß ich, was er meint. Vor wenigen Tagen hat die Reiseleitung dieses Trips durch Südostasien uns im Hotel zur Warnung einen Film gezeigt. Über »really young ladies«. Unvorstellbare Bilder von Kinderprostitution, aufgenommen mit versteckter Kamera. Wir sahen sechs- bis neunjährige Mädchen, die eingepfercht in dunkle Holzverschläge auf ihre Peiniger warteten – Sextouristen, die für die Entjungferung eines Kindes bis zu 1 500 Dollar zahlen. Wenn das Mädchen überlebt, kostet der nächste Sex nur noch 50 bis 100 Dollar. Von denen das Mädchen natürlich keinen einzigen sieht. Unvorstellbar, dass Eltern ihre Töchter für so etwas hergeben. Leider doch vorstellbar, weil immer genug, zumeist westliche, Reisende in Thailand oder Laos, Kambodscha oder Vietnam unterwegs sind, die hier bereitwillig zu Kinderschändern werden. Männer, die wahr­scheinlich so ähnlich aussehen wie ich.
Ich gehe an dem Zuhälter vorbei das Mekong­ufer entlang, die Touristenmeile der Stadt. Vor einem Café führt gerade ein Einheimischer seinen Reitelefanten vorbei. Das Tier scheint häufiger hier zu sein, denn plötzlich bleibt es stehen. Es wirft den Rüssel links und rechts über die Schulter und schnaubt erfreut, als ein Kellner herauskommt und ihm einige Bananen ins Maul stopft.
Angesichts dieser heiteren Szene kann ich zum ersten Mal am heutigen Tag lachen. Erleichtert setze ich mich, um einen Saft zu trinken.
Weiter drin im Café sitzen zwei Männer. Keine düsteren Gestalten, die in dunklen Ecken lauern. Gut gelaunt sind sie und ungefähr in meinem Alter, Anfang bis Mitte vierzig. Die Hemden offen bis zum Solarplexus, das Lachen erregt, aber leise und diskret. Drei Kinder sitzen um sie herum, alle unter zehn Jahre alt. Das Älteste nestelt bereits am Hosenreißverschluss eines der Männer herum. Ich merke, wie ich erstarre. Das hier finde ich noch viel schlimmer als die verwackelten Bilder des Dokumentarfilms.
Was soll ich tun? Die Polizei holen? Ohne ein ein­ziges Wort der Landessprache zu können und ohne irgendeinen Beweis für eine Straftat zu haben? Habe ich irgendeinen Beweis, wenn die Männer behaupten, den armen Kindern nur etwas zu trinken zu spendieren? Oder soll ich vielleicht laut schreien? Aber nach wem? Von Organisationen wie Child Watch habe ich gehört und auch schon einige Mitarbeiter in ihren auffälligen, him­melblauen Hemden gesehen. Aber wo sind die jetzt? Am liebsten möchte ich den Männern in die Fresse schlagen. Sie sind zu zweit, und ich bin zu feige. Außerdem gehe ich seit einigen Jahren we­gen einer Erkrankung am Stock. Um irgendwas zu machen, ziehe ich meinen privaten Fotoapparat hervor. Nicke den beiden böse zu und ziele in ihre Richtung.
»Nimm die Scheißkamera weg!« schreit einer der Männer. Ein Landsmann also. Die Kinder verbergen ihre Gesichter hinter den Händen. »Und jetzt hau endlich ab!« ruft der zweite. Unent­schlos­sen bleibe ich noch ein paar Sekunden sitzen. »Ich hab euer Bild, Freunde!«
Dann gehe ich und fühle mich unglaublich mies. Weil solche Arschlöcher wie die beiden gleich ungestraft etwas tun werden, wofür sie in Deutsch­land mehrere Jahre Gefängnis erwarten würden. Weil ich so mutlos war. Und weil ich dieses wertlose, unscharfe Foto nachher löschen werde. Dem nächsten bettelnden Kind werfe ich einen Dollar in den Teller. Den Tageslohn eines Bauarbeiters. Seinen Altersgenossen von eben hilft das nicht.

Am nächsten Morgen geht Sams erbarmungslose Führung weiter. Diesmal fährt er uns zum Tuol Sleng, dem berüchtigten Foltergefängnis der Roten Khmer. Auf den ersten Blick sieht das ehemalige Gymnasium Tuol Svay Prey in der 103. Straße noch immer aus wie das Gymnasium, das es einmal war. Ein sehr runtergekommenes allerdings. Die Scheiben in den grauen Wänden sind teilweise geborsten, auf den Plattenwegen zwischen den einzelnen Gebäuden sprießt Gras. Ganz offensichtlich hat der Staat kein großes Interesse, diese Gedenkstätte in Schuss zu halten.
Nach Einnahme der Stadt bauten die Roten Khmer die Schule zum Gefängnis um. 14 000 Men­schen wurden hier inhaftiert, vor allem Städter, Intellektuelle und Exil-Kambodschaner, die vom neuen Regime zur Rückkehr gelockt worden waren. Nur sieben von ihnen überlebten. Andere Quellen sprechen von 14. Wer nicht hier an den täglichen Folterungen starb, der kam nach mona­telangen »Verhören« auf die Killing Fields.
Bizarrerweise war es verpönt, die Inhaftierten einfach zu erschießen oder zu erschlagen – sie starben an den Torturen. Die Gefangenen wurden mit Ketten geschlagen, zum Schein erhängt, ihnen wurden die Fingernägel einzeln aus der Hand gerissen. Und auch das Waterboarding wurde nicht erst vom US-amerikanischen Geheimdienst erfunden. Die meisten Menschen starben an den katastrophalen hygienischen Bedingungen. Läusebefall, Typhus. Manchmal wurden die Gefangenen tagelang nicht einmal auseinander gekettet, um zur Toilette zu gehen.
Die Ausstellung im Tuol Sleng ist ebenso einfach wie eindrucksvoll. In endlosen Reihen sind die Bilder dokumentiert, die von den Inhaftierten bei der Einlieferung gemacht wurden. Dazu gibt es einige Zellen im Originalzustand, einige Kunst­werke eines Malers, der zu den wenigen Überlebenden zählt.
Am meisten schockiert mich die Wand mit den Bildern der Kindersoldaten, die damals auch in Tuol Sleng eingesetzt wurden. Die Bilder sind vor­wiegend von 1978, die abgebildeten Jungen mit ihren Gewehren sind vielleicht zwölf Jahre alt. 1978 war ich auch zwölf Jahre alt.
»Was machen diese Kinder heute?« frage ich Sam.
Er zuckt mit den Achseln. »Sie führen ein ganz normales Leben. Soweit ich weiß, ist von denen niemand verurteilt worden.«
Draußen vor dem Tuol Sleng verabschieden wir uns von Sam. Morgen werden wir im Flugzeug nach Ho Tschi Minh City, Vietnam, sitzen, und uns wieder ins geplante Reiseprogramm einfädeln. Stadtbesichtigung. Palast und Pagode. Auf Wunsch eine Busreise zum Mekongdelta.
Es kommt mir wie eine Flucht vor.