Skandal um die Zustände in französischen Gefängnissen

Zwei Sprachen sind gefährlich

Die französischen Gefängnisse sind bereits überfüllt. Doch die Regierung diskutiert über weitere repressive Maßnahmen, in die auch die Psychiatrie einbezogen werden soll.

Das Bild, das die meisten Franzosen von ihren Ge­fängnissen hatten, ist erschüttert. Erstmals gelangten in der Woche vor Weihnachten Bilder aus dem Inneren einer Haftanstalt an die Öffentlichkeit. Die Pariser Abendzeitung Le Monde veröffentlichte Ausschnitte eines zweieinhalbstündigen Dokumentarfilms, den Gefangene gedreht hatten, auf ihrer Webpage. Dies löste kurzzeitig einen Skandal aus.
Der Film zeigt kurze Alltagsszenen und schlaglichtartige Aufnahmen von Örtlichkeiten – Duschen, Zellen, Gefängnishöfen. Die Bilder stammen aus der Haftanstalt Fleury-Mérogis im südlichen Pariser Umland, dem größten Gefängnis Europas. Man sieht über und über mit Müll über­säte und verdreckte Duschen im Hof, dort, wo Gefangene Sport treiben, verschimmelte und klebrige Wände in den Duschräumen im Inneren der Anstalt und kaputte Fenster.

Erschüttert wird auch die Vorstellung vom Gefäng­nis als einem Ort der »Resozialisierung«. Dargestellt wird, dass man im Gefängnis vor allem lernt, sich dem Stärkeren und Gewalttätigeren unterzuordnen. Die Dokumentation enthält eine 15 Se­kunden dauernde Gewaltszene, mehrere Häftlinge traktieren einen Mitgefangenen mit Schlägen und Tritten auf den Kopf, das Opfer liegt am Ende bewusstlos am Boden.
Diese Zustände sind zum Teil eine Folge der star­ken Überbelegung französischer Gefängnisse. Die Zahl der vorhandenen Haftplätze wird seit 2002 erhöht, sie sollte von damals 50 000 bis zum Jahr 2011 auf gut 60 000 steigen. Doch im selben Zeitraum wuchs auch die Zahl der Gefangenen, da die Richter nunmehr mit umso ruhigerem Gewissen Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängten. Im Juli 2008 wurde mit 64 300 Straf- und Un­tersuchungsgefangenen ein neuer Rekord erreicht. Im Zeitraum von 1978 bis 2003 hat sich die Zahl der Häftlinge verdoppelt, ebenso die durch­schnittliche Länge der Untersuchungshaft.
Das hält die Regierenden nicht davon ab, Polizei, Justiz und Gefängniswesen als ein Allheilmittel für viele gesellschaftliche Probleme zu betrachten. So kam Mitte Dezember die Diskussion auf, ob man nicht das Verhängen einer Gefängnisstrafe ab 12 Jahren ermöglichen solle. Bislang liegt das gesetzliche Mindestalter dafür bei 13 Jahren. Justizministerin Rachida Dati hielt eine Absenkung für eine »gute Idee«. Sie wurde allerdings vom kon­servativen Regierungslager gebremst, dessen Premierminister François Fillon sich nach einigen Tagen gegen das Vorhaben aussprach.
Ein Sprecher der Regierungspartei UMP, Frédéric Lefebvre, merkte an, er sei kein Experte und wisse daher nicht, ab welchem Alter Haftstrafen zu empfehlen seien. Aber er sei sicher, dass bereits in frühem Kindesalter eine Straffälligkeitsten­denz präventiv aufgespürt werden könne. Der »Rapport Benisti«, ein parlamentarischer Untersuchungsbericht, hatte im Jahr 2005 angeregt, abweichendes Verhalten, das zu späterer Kriminalitätsneigung führe, ab dem Alter von drei Jahren zu diagnostizieren.

Zu den Faktoren, die solche Verhaltensabweichun­gen begünstigten, zählte der Abgeordnete Jacques Alain Benisti damals das Sprechen einer an­deren Sprache als des Französischen im Elternhaus. Denn die Kids, die es gewohnt seien, noch eine zwei­te Sprache im Alltag zu benutzen, könnten un­kontrolliert miteinander kommunizieren und ihre üblen Pläne vor Lehrern und Mitschülern ver­bergen, sie schlössen sich also womöglich schon im Vorschulalter zu gefährlichen Gruppen zusammen. Diese Diskussion um »frühzeitige Prä­vention gegen Straftaten« im Kindesalter will Lefebvre nun wieder anfachen.
Auch die Psychiatrie soll dem Straf- und Repres­sionssystem dienen, um potenziell gefährliche Individuen aufzuspüren und wie Kriminelle zu be­handeln. Am 2. Dezember hielt Präsident Nicolas Sarkozy in einer psychiatrischen Anstalt in Antony eine Rede, in der er forderte, Psychiatriein­sassen weniger Freigang zu gestatten und diesen schärfer zu kontrollieren, 200 Isolierzellen in den Anstalten zu schaffen und in erhöhtem Ausmaß Behandlungen auch gegen den Willen der Betroffenen anzuordnen. Konkreter Anlass dazu war ein Mord im Raum Grenoble, wo im November ein Insasse aus einer Anstalt ausgebrochen war und einen Studenten getötet hatte.
Seitdem Sarkozy diesen Einzelfall als Anlass für eine allgemeine Programmrede nutzte, befindet sich der Sektor im Aufruhr. 39 Psychiater und Anstaltsleiter publizierten am 15. Dezember in Li­bération einen Aufruf gegen die Instrumentalisierung der Psychiatrie zu repressiven Zwecken. Die linksliberale Tageszeitung erinnerte daran, dass in den psychiatrischen Kliniken die Bettenzahl in den vergangenen 20 Jahren auf 100 000 halbiert wurde. Zahlreiche Personen, die vor allem psychiatrischer Behandlung bedürfen, vegetieren derzeit in den Gefängnissen vor sich hin.

Polizei und Justiz werden zu immer wichtigeren Instrumenten gesellschaftlicher Problemlösung erhoben. Mehr Polizisten will die Regierung aller­dings nicht einstellen, im Gegenteil. Die Allgemeine Revision der Politik der öffentlichen Hand (RGPP), die darauf zielt, alle Sektoren staatlichen Handelns betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskriterien zu unterwerfen, betrifft auch die Ord­nungshüter. Dies hat zur Konsequenz, dass Zehn­tausende Lehrerposten gestrichen werden, aber eben auch einige tausend Stellen bei der Polizei wegfallen. Die Kürzung soll allerdings vor allem die Schreibtischtätigkeit in den Polizeirevieren betreffen.
Einen Ersatz glaubt Nicolas Sarkozy gefunden zu haben. Am 15. Dezember publizierte seine Innenministerin Michèle Alliot-Marie ein neues Weißbuch zur Inneren Sicherheit, dessen Vorwort der Präsident persönlich verfasst hat. Darin befürwortet Sarkozy eine »Koproduktion der Inneren Sicherheit« durch staatliche und private Akteure. Dem privaten Sicherheitssektor, dessen Vollmachten bisher ungenügend gesetzlich definiert worden seien, müsse weitaus mehr Spielraum eingeräumt werden. Als Vorbilder zitiert er Großbritannien, wo Privatunternehmen mehrere Gefängnisse verwalten, und Ungarn, wo ein Pro­zent der erwerbstätigen Bevölkerung entweder bei der Polizei oder im privaten Wach- und Sicher­heitsgewerbe arbeitet. Derzeit gibt es 150 000 Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen in Frankreich, aber ihre Zahl soll dem Weißbuch zufolge in den kommenden zehn Jahren auf 200 000 anwachsen.