Russland und die deutsche »Energiesicherheit«

Gegen Grippe hilft nur Gas

Wirklich kalte Füße bekamen zwar lediglich die Südosteuropäer. Doch infolge des Konflikts zwischen Russland und der ­Ukra­ine um Gaslieferungen wird auch in Deutschland über die zukünftige »Energiesicherheit« diskutiert.

Im so genannten Gasstreit zwischen dem ukrainischen Staatsunternehmen Naftogaz und der russischen Gazprom schlägt die deutsche Pres­se harte Töne an: Mit der vollständigen Unterbrechung der Erdgaslieferungen, die über die Ukraine an die Abnehmerstatten der EU gingen, habe Russland den Westen »als Geisel genommen«, heißt es beispielsweise auf der Internetseite des Focus.
»Ein Lieferant, der Gas als Waffe nutzt«, schreibt das Nachrichtenmagazin weiter, sei für Deutschland langfristig »gefährlicher als ein unzuverlässiges Transitland«. Scharf kritisiert werden diejenigen »Politiker und Kommentatoren«, die den Konflikt als einen »Handelsstreit« verharmlosten: »Die Folgen solcher Arglosigkeit könnten für Europa fatal sein, und die Gas-Geo-Strategen im Kreml könnten sich ins Fäustchen lachen.« Unter Berufung auf nicht näher bezeichnete »Kreml-Kritiker« wird Moskau eines »Geschäftsgebarens« bezichtigt, das »eher aus dem südlichen Italien bekannt« sei.
Ganz ähnlich klingt es in der Süddeutschen Zeitung (SZ): Russlands Präsident Wladimir Putin wird vorgeworfen, er denke und handele »in den Kategorien klassischer Machtpolitik«, die darauf ziele, die westlichen Nachbarstaaten in einen »Klammergriff« zu nehmen. Die konstatier­te »Abhängigkeit« der EU von russischen Energielieferungen erscheint als »eine potenzielle Bedrohung der Stabilität und vielleicht eines Tages sogar des Friedens auf dem Kontinent«.

Geht es um die Sicherung der Energieversorgung Deutschlands, melden sich hierzulande traditionell die Geopolitiker zu Wort. Am Anfang ihrer Argumentation entwerfen sie in der Regel ein veritables Horrorszenario, so auch die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der militärpolitische Think Tank des Bundes konstruiert in seiner Studie »Energiesicherheit 2050« den Fall, dass Russland seine fossilen Brennstoffe lieber nach China als nach Europa verkauft. Die sich daraus für Deutschland ergebenden Konsequenzen werden in den düstersten Farben geschildert: »Erkältungswellen und Grippeepidemien« schwächten die Bevölkerung, deren »massive Unzufriedenheit« außerdem noch dadurch gefördert werde, dass der individuelle Kraftfahrzeugverkehr für viele »kaum mehr erschwinglich« sei. »Folge sind gewalttätige Ausschreitungen und Demonstra­tionen«, während gleichzeitig eine »bewaffnete Auseinandersetzung« zwischen der EU und Russland um den Zugriff auf Energieressourcen bevorstehe.
Die Bundesakademie empfiehlt daher, sowohl die »militärische Handlungsfähigkeit« der Bundesrepublik durch den Ausbau der »wehrtechnischen Kernfähigkeiten« zu erweitern, als auch unabhängig von der Nato »europäische Komplementärstreitkräfte« aufzustellen. Die Vorschläge der Akademie für den zivilen Bereich lassen sich derzeit – zumindest sinngemäß – in der SZ nachlesen. Dort heißt es, dass die Vorstellung der EU von der »Ordnung Europas« nur auf der Grundlage einer größeren »Rohstoff-Unabhängigkeit von Russland« durchzusetzen sei. Im Interesse ihrer »Stabilität« müsse die EU endlich »Lieferquellen in Zentralasien und Nordafrika erschließen und ihr eigenes Röhrennetz so knüpfen, dass nie ein einzelner Staat im Bündnis isoliert werden kann«.
Geht es um die Sicherung der Energieversorgung Deutschlands, redet hierzulande außerdem immer die Atomlobby mit. Die Unionsparteien und die FDP nutzten den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, um einmal mehr den »Ausstieg aus der Atomenergie« in Frage zu stellen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, sagte dem Fernsehsender N24, er halte den Ausstieg für eine »sträfliche Entscheidung«, und bedauerte, »dass unser Koalitionspartner nicht bereit ist, hier eine Korrektur vorzunehmen«. Sein Parteikollege Joachim Pfeiffer forderte im Handelsblatt den »Ausstieg aus dem Ausstieg«.
Auch der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ließ sich nicht lange bitten. »Wer sich energiepolitisch einseitig abhängig macht, macht sich erpressbar, weil er auch seine wirtschaftliche und außenpolitische Unabhängigkeit aufgibt«, sagte er dem Hamburger Abendblatt. Solange man nicht in der Lage sei, mit »erneuerbaren Energieträgern« einen größeren Beitrag zur ­Energieversorgung des Landes zu leisten, dürfe man »auf eine Modernisierung und Weiterentwicklung hocheffizienter, konventioneller Kraftwerkstechnik nicht verzichten«, so Wester­welle.

Während in dieser Frage noch am ehesten Einigkeit mit der Industrie herrschen dürfte, sieht dies im Fall der von Teilen der Parteien geforderten »Diversifizierung« der deutschen Energie­versor­gung schon anders aus – schließlich ­verdienen deutsche Konzerne gut am Geschäft mit fossilen Brennstoffen aus russischer Förderung und sind mit dem russischen Staats­unternehmen Gazprom eng verbunden. So ist Eon-Ruhrgas an Gazprom unmittelbar beteiligt, das BASF-Tochterunternehmen Wintershall hat gemeinsam mit Gazprom das Energieunternehmen Wingas gegründet. Eon und Wintershall beuten zusammen mit Gazprom das sibirische Erdgasfeld Juschno Russkoje aus. Auch der Bau einer Ostseepipeline, die russisches Erdgas nach Deutschland transportieren soll, verbindet die Firmen. An dem für die Abwicklung des Vorhabens verantwortlichen Unternehmen Nord Stream hält Gazprom 51 Prozent der Aktien, Wintershall und Eon sind mit jeweils 20 Prozent beteiligt, den Vorsitz im Aufsichtsrat hat der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).
Dass insbesondere Deutschlands größter Gas­­importeur Eon nicht gewillt ist, sich seine Geschäfte mit Russland verderben zu lassen, hat das Unternehmen bereits anschaulich verdeutlicht. Die Entsendung einer EU-Beobachtermission, die in der Ukraine die Gas-Transitströme nach Europa überwachen soll, werde unter der Leitung seiner »technischen Experten« stehen, ließ der Konzern die Nachrichtenagenturen wissen.
Auch der Partner Gazprom blieb nicht untätig. Wie der für Deutschland zuständige Generalbevollmächtigte des Unternehmens, Claus Bergschneider, dem Focus mitteilte, habe man sich bereits mit Vertretern des Bundeswirtschaftsministeriums zu Gesprächen über den Bau eines großen Erdgasspeichers getroffen. Um zukünf­tige Lieferschwierigkeiten auszugleichen, könnten demnach im mecklenburgischen Hinrichshagen bald zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas bis zu 700 Meter tief in die Erde gepumpt werden.

Eines allerdings dürfte allen Versuchen zur deutsch-russischen Verständigung zum Trotz in absehbarer Zeit nicht zustande kommen: die Ratifizierung der europäischen Energiecharta seitens der Russischen Föderation. In dem Vertrag wird nämlich nicht nur der ungehinderte Energietransit, sondern auch die Aufhebung so genannter Wettbewerbsbeschränkungen festgeschrieben, was für Gazprom den Verlust der Kontrolle über das russische Pipelinenetz bedeuten würde. Russland weigert sich folglich, den Vertrag zu unterzeichnen – selbst auf die Gefahr hin, damit den Zorn deutscher Geopolitiker zu erregen.