Interview mit Ruth Eitan über den Alltag in Sderot

Ruth Eitan: »Die Studenten leben innerhalb der Reichweite der Raketen«

Ruth Eitan ist Professorin am Sapir College in Sderot. Der Campus liegt nur wenige Kilometer von der Grenze zum Gaza-Streifen entfernt in Südisrael und wurde in der Vergangenheit immer wieder von Qassam-Raketen getroffen. Hier lernen nicht nur 8 000 Schüler und Studenten, es befinden sich auch eine Seniorentagesstätte und ein Kindergarten auf dem Gelände, die von der Bevölkerung in Sderot und den umliegenden Dörfern und Kibbuzim genutzt werden.
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Wie ist die Lage am Sapir College in Sderot?
Das College war zwei Wochen lang geschlossen. Als die Operation in Gaza begann, hat das Militär die ganze Gegend zur militärischen Zone erklärt. Der Campus war völlig leer. Am Montag wurde der Betrieb wieder aufgenommen.
Was haben die Studenten gemacht, während das College geschlossen war? Saßen sie zuhause und warteten darauf, wieder an die Uni gehen zu können, oder sind sie aus Südisrael abgereist?
Ein Drittel unserer Studenten wohnt in der Umgebung des Colleges, ein weiteres Drittel wohnt in anderen südlichen Städten Israels. Sie alle leben innerhalb der Reichweite der Qassam- und Grad-Raketen, und die meisten sind einfach zuhause geblieben. Viele haben Kontakt untereinander gehalten, manche haben Computer aus der Uni mit nach Hause genommen und von dort aus weitergearbeitet. Einige Professoren haben Kurse in anderen Städten Israels abgehalten. Auch wir Professoren haben versucht, mit unseren Studenten Kontakt zu halten.
Das bedeutet, die meisten Studenten saßen zuhause, wo sie genauso gefährdet waren, wie sie es im College gewesen wären?
Genau so war es.
Hat man deshalb das College jetzt wieder geöffnet?
Manche sagen in der Tat, man könne das College auch geöffnet lassen, da wir an den Qassam-­Beschuss ja gewöhnt seien. Wir hätten auch schon schlimmere Zeiten erlebt, als vor etwas mehr als einem Jahr innerhalb weniger Tage rund 60 Raketen hier in der Umgebung eingeschlagen sind. Aber es ist natürlich schon gefährlich, wenn sehr viele Menschen auf einem Platz versammelt sind. Das war wohl der Grund, warum das Militär die Schließung angeordnet hatte.
Wie sieht denn der Alltag der Menschen in Sderot in diesen Tagen aus?
Die Leute, die in Sderot geblieben sind, gehen auf die Straße, kaufen für Shabbat ein, sie versuchen, ein normales Leben zu führen. Wenn sie den Alarm hören, rennen sie in einen Bunker. In den letzten Jahren ist ganz Sderot ein großer Bunker geworden. Alle paar Meter gibt es einen Bunker oder einen Schutzplatz, wo man sich unterstellen kann. Diejenigen, die Familie irgendwo anders in Israel haben, fahren für ein paar Tage zu ihnen, auch in den umliegenden Kibbuzim hat man die Kinder in andere Städte geschickt. Aber die meisten Leute kommen am Sonntag zurück, um ganz normal ihrer Arbeit nachzugehen. Das ist zum Teil jedoch schwierig, denn die Kinder können nicht in die Schule, die Eltern müssen den ganzen Tag auf sie aufpassen.
Haben Sie die Hoffnung, dass der Raketen­beschuss nach der Militäroperation aufhört?
Nein. Aus der Erfahrung der Vergangenheit muss ich leider sagen, dass kein Militäreinsatz bisher eine Änderung gebracht hat. Nur Gespräche zwischen Menschen und eine Verständigung ohne Gewehr und ohne Gewalt kann auf Dauer etwas ändern. Viele Menschen im Süden Israels hatten in den vergangenen Jahren das Gefühl, dass die Regierung sich nicht genügend um ihr Schicksal gekümmert habe. Sie waren sehr frustriert. Viele sagen: Wir leben in Israel, nicht in einer illegalen Siedlung in der Westbank, jeden Tag werden wir mit Raketen beschossen, müssen wir in Angst leben, seit Jahren leiden wir und können so nicht weiterleben. Dennoch wollten die wenigsten Menschen hier einen Krieg. Wir alle bedauern sehr, was in Gaza passiert, und trauern um die getöteten Menschen, die nichts mit der Hamas zu tun haben. Die Leute sind nicht radikal, sie tanzen nicht auf dem Blut, sie haben sehr große Angst und viel Mitleid mit den Nachbarn auf der anderen Seite der Grenze. Das ist für uns alle eine sehr widersprüchliche Situation.
Also sind die Hoffnungen auf eine Änderung der Lage durch den Krieg gering. Worauf richten sich die Hoffnungen dann?
Wie gesagt, die Erfahrungen aus der Vergangenheit sind sehr schlecht. Dazu kommt, dass wir wissen, dass die ganze Welt gegen uns ist, obwohl wir die Drecksarbeit für alle anderen machen. Ich habe gehört, in Deutschland redet man darüber, wie es wäre, wenn deutsche Soldaten in Israel oder Gaza eingesetzt würden. Hier war aber überhaupt keine Rede davon. Das ist alles noch so weit weg für uns. Wir haben keine Illusionen. Natürlich ist niemand so naiv zu glauben, die Hamas würde von sich aus den Terror einstellen, die Leute sind sehr rational. Vielleicht können wir eine gewisse Zeit Ruhe haben, aber an einen dauerhaften Frieden glaubt hier kaum jemand. Die Menschen in Gaza müssen entscheiden, wie es weitergehen wird, wir sind gewissermaßen ihre Geiseln. Es ist merkwürdig, das zu sagen, denn es sieht so aus, als habe Israel die Macht, aber es reicht, wenn sie uns ein paar Raketen aus dem Libanon oder Gaza schicken, um das gesamte Leben hier zu einem Ausnahmezustand zu machen. Und das seit vielen Jahren. Wir können immer nur reagieren.
Und läuft der Betrieb am Sapir College jetzt wieder ungestört?
Ganz und gar nicht. Wir sind die ganze Zeit damit beschäftigt, in Bunker zu rennen. Gerade hatten wir wieder vier Qassams. Darum bin ich auch noch etwas außer Atem.