Der Stand der Dinge bei den Antideutschen

Harte Männer, hartes Geschäft

Es gehört zu den Prämissen der antideutschen Bewegung, dass sie eigentlich keine sein möchte. Der Widerspruch zwischen Ideologiekritik und Realpolitik dürfte auch künftig nicht aufzulösen sein. Zum Stand der Dinge bei den Antideutschen.

I. Prolog
1954 beschrieb Simone de Beauvoir in ihrem Roman »Die Mandarins von Paris« das intellektuelle Klima einer von historischen Epochenbrüchen gezeichneten Generation. Die drei Protagonisten, für die Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Maurice Merleau-Ponty die Vorbilder waren, beschreiten jeweils einen paradigmatischen Weg linker Geschichte, der aus den klaren Frontlinien des Zweiten Weltkrieges hinaus in das postfaschistische Frankreich führt. Als mit dem Nationalsozialismus der große Gegner verschwunden war, mussten ein Menschheitsverbrechen von gewaltiger Tragweite und die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Deutschen intellektuell und persönlich bewältigt werden. Letztgenannte, die vorerst schwerer im Gedächtnis der Intellektuellen wog, vertrug sich nicht mit dem Mythos einer allgemeinen Résistance. Zudem führten die Schrecken des Stalinismus in der Sowjetunion zu einer Spaltung der französische Linken.
Uns interessiert diese historische Konstellation – Kollaboration, Auseinandersetzung sowohl mit dem Faschismus als auch mit dem Scheitern des Sozialismus im Osten – in ihrer theoretischen Dimension. Sie zeigt schon auf einer allgemeinen Ebene, dass historische Zäsuren mit der ihnen inhärenten Infragestellung politischer Kategorien an der Linken nicht spurlos vorübergehen können. In viel heftigerer Art und Weise sah sich die deutsche Linke vor ähn­liche Probleme gestellt. Insofern ihr dies zu Bewusstsein gelangte, musste die Erkenntnis der Tragweite des »Zivilisationsbruchs« Auschwitz (Dan Diner) das politische Begriffssystem transformieren. Die historischen und geistes­geschicht­lichen Implikationen des Nationalsozialismus, seine Unterstützung durch die Mehrheit der Deutschen und die brüchige Demokratisierung nach 1945 gaben das bewusst-unbewusste Koordinatensystem ab, in dem ein Großteil der theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahrzehnte stattfand. Es ist diese Problemkonstellation, die sich in transformierter Form auch und vor allem in der antideutschen Linken nach 1989 wiederfand. Die sich daran anschließende Frage lautet, wa­rum die antideutsche Kritik sich heute um sich selbst dreht, sich aufteilt in Bewegungs-Antideutsche auf der einen und konvertierte Liberale auf der anderen Seite und man deswegen von einer Krise sprechen muss. Die aktuelle Variante dieses Problems stellte der Streit um Kritik vs. Realpolitik dar, vor allem im Hinblick auf die Solidarität mit Israel. Man ist sich offenbar uneinig über die angemessene Form der Kritik, über die Substanz politischer Intervention, sogar über die Geltung der eigenen Theorie. Dass man sich in solcherlei Diskussionen immer wieder altbekannter Argumentationsschemata bedient, verweist vor allem auf Stagnation. Dabei stechen zwei Dinge hervor: ein mangelndes Verständnis für den Widerspruch, der der gegenwärtigen Problemlage zugrunde liegt, und fehlende historische Tiefenschärfe.

II. Die Ambivalenz der Kritischen Theorie
Zwei historische Erfahrungen haben das Begriffssystem der Kritischen Theorie maßgeblich geprägt. Zum einen ist es die Enttäuschung über die Arbeiterbewegung und ihre Parteien, zum anderen die Vernichtung des europäischen Juden­tums. Die Kategorien, mit denen versucht wurde, die geschichtlichen Bewegungen und Katastrophen zu begreifen, stammten zunächst aus der an Karl Marx orientierten Theorietradition. Sie erwiesen sich jedoch ab einem bestimmten Punkt als inadäquat. Diese allmählich zu Bewusstsein kommende Erkenntnis lässt sich in den Schriften der Kritischen Theorie nachvollziehen. Da sich der Nationalsozialismus der bekannten Form ökonomischer ( Ir-)Rationalität entzog, wurde es um seines Begreifens willen notwendig, sich von der ökonomistischen Schlagseite des Marxismus zu trennen. Die Voraussetzungen dafür waren ein an Freud orientiertes sozialpsychologisches Interesse und die undogmatische Aneignung des Marxschen Werkes. Trotz dieser Verschiebungen im Begriffsgefüge wurde der Nationalsozialismus vorerst unter den Vorzeichen eines ökonomistischen Krisenbegriffs wahrgenommen, als Fortsetzung des Kapitalismus unter den Bedingungen seines Verfalls. Was die Kritische Theorie aber in dieser Konstellation von anderen kommunistischen Denkströmungen unterschied, war ein zunehmend affirmativer Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft. In gewissem Sinne wandelte sich die Kritische Theorie unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, der Moskauer Prozesse und des Hitler-Stalin-Paktes einerseits, der Emigrationserfahrung in den liberalen Staaten des Westens andererseits in einen lebendigen Widerspruch: Sie amalgamierte links-kommunistische Gesellschaftskritik und einen affirmativen Bezug auf die liberale Gesellschaft. Es verband sich die Kritik an der kapitalistischen Totalität mit der Bejahung ihrer bürgerlichen Errungenschaften.

Diese Ambivalenz lässt sich bereits an einem frühen Text wie Herbert Marcuses »Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung« nachvollziehen. (1) In diesem 1934 geschriebenen Text wandelt sich der Begriff des Liberalismus. Kennzeichnete er zuvor eine kurze Periode der Weltgeschichte, wird er nun zum substanziellen Begriff, der als Chiffre für die geistige und politische Dimension der bürgerlichen Gesellschaft dienen soll. Dies spiegelt sich in Marcuses Analyse des Liberalismus als einem Kampfbegriff der Rechten, der im Antiliberalismus seinen weltanschaulichen Gegenbegriff hatte. Allerdings reflektiert Marcuse diesen Begriffswandel lediglich als Strategie, die dazu dient, von der ökonomischen Grundstruktur des Liberalismus abzulenken. So konnte er auch dazu übergehen, die antiliberale und totalitäre Staatsideologie, die dem Nationalsozialismus zugrunde lag, auf die Gesellschaftsstruktur des klassischen Liberalkapitalismus zurückzuführen. Dabei grenzt sich Marcuse jedoch von einem antiemanzipatorischen, romantizistischen Antiliberalismus ab, der hinter die Forderungen nach individueller Freiheit zurückfällt. Nicht zufällig mischt sich in diesem Text die Anerkennung des progressiven Potentials des Liberalismus mit einem marxistischen Zugriff, der die 1934 bereits fortgeschrittene Abschaffung der demokratischen Ordnung aus der Tendenz des Kapitals zur Monopolisierung ableitet.

Auch später erwies es sich als problematisch, die Entwicklungen des Nationalsozialismus mit den traditionellen Begriffen des Marxismus zu analysieren. Innerhalb des Instituts für Sozialforschung ging es hauptsächlich um die Frage, ob sich das nationalsozialistische Deutschland eher mit dem Begriff des »Staatskapitalismus« (Pollock) oder dem des »totalitären Monopolkapitalismus« (Neumann) fassen ließ. (2) Friedrich Pollock, der sich mit seiner Staatskapitalismusthese scheinbar am weitesten von der Marxschen Kapitalanalyse entfernt hatte, sah den ökonomischen Vermittlungsmechanismus hinter ein ideologisch bzw. politisch begründetes Maßnahmensystem zurücktreten. Dies wiederum wurde aus der ökonomischen Entwicklung abgeleitet. (3) Von einem »Primat des Politischen« müsse deswegen gesprochen werden, weil der liberale Kapitalismus in die Phase eines autoritär stabilisierten Wirtschaftssystems übergegangen sei. Ausgehend von einer kontinuierlichen Entwicklung zum Monopolkapitalismus deutete hingegen Franz L. Neumann diesen Übergang in die autoritäre Konstellation. Verharrte er einerseits im traditionellen Begriffsrahmen des Marxismus, analysierte er andererseits, dass sich im Recht ein Funktionswandel vollzog, der weitgehende Konsequenzen für die Konstitution politischer Macht im national­sozialistischen Staat haben musste. Hier trete das liberale Recht seinen Rationalitätscharakter zugunsten politischer Dezision ab und werde zu einem »technischen Mittel zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele«. (4) Mit der Ersetzung von Rechtsnormen durch staatlich angeordnete Maßnahmen verselbständige sich im autoritären Staatsapparat das politische Element. Was Franz Neumann in rechtstheoretischer Terminologie entwickelte (5) und für seine Analysen des nationalsozialistischen Staates einsetzte (6), hätte dazu führen müssen, ein »Primat des Politischen« festzustellen: in der Analyse des Nationalsozialismus, aber auch in der Analyse der postfaschistischen Demokratie. Zwar kam es in den Reihen der Kritischen Theorie, ausgehend vom Nationalsozialismus und einem nie da gewesenen Verhältnis von Politik und Ökonomie, zu einer Reaffirmation bürgerlich-politischer Kategorien. Anders als innerhalb einer Perspektive des Verfalls der liberalen Ordnung konnten diese jedoch nicht mehr fruchtbar gemacht werden. Ein begrifflicher Rahmen für eine kritische Theorie der Nachkriegsgesellschaft war lediglich in den Kategorien der NS-Analyse vorhanden.

Die ambivalente Behandlung der liberalen und insbesondere rechtsstaatlichen Tradition, die im angelsächsischen Raum Freiheit in einem gewissen Maß ermöglichte, setzte sich in der Kritischen Theorie nach 1945 fort. In den von Adorno mitverfassten »Studien zum autoritären Charakter« fungierten Ideologien nicht mehr nur als Abhub ökonomischer Interessen, sondern als politisch vermittelte Erscheinungen individueller, zumeist in der Kindheit wurzelnder Deprivationen und Deformationen. Damit ließ sich etwa der Hass gegen Schwule und Lesben, der keinem kapitalistischen Interesse entsprach, nun als verschobener Hass gegen die eigenen zeitlebens unterdrückten homosexuellen Bedürfnisse dechiffrieren. Gleichzeitig lässt sich den Studien eine Hinwendung zum Liberalismus entnehmen. So wird dem autoritären Charakter der liberale Typus entgegengesetzt: »Die Befragten dieses Typs besitzen einen starken Sinn für Autonomie und Unabhängigkeit. (…) Sie können nicht ›schweigen‹, wenn Unrecht geschieht, auch wenn sie das ernsthaft in Gefahr bringt. So wie sie selbst ausgeprägte Individualisten sind, sehen sie auch die anderen als Individuen und nicht als Vertreter einer Gattung.« (7)

Dass Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« weder einen praktischen Handlungsrahmen für die neue demokratische Nachkriegsgesellschaft lieferten noch eine politische Theorie, die sich auf die Werte der liberalen Ära stützte, entwickeln konnten, mag nicht weiter verwundern. Wohl wissend, dass man ins Land der Täter zurückgekehrt war und die demokratisch initiierte »Befriedung« angesichts der ausgebliebenen Entnazifizierung zu scheitern drohte, galt es, das wirklich gewordene Unheil im Gedächtnis wach zu halten. So wurde die Parteinahme aufgrund der im Exil gemachten Erfahrungen zur Verteidigung der »Residuen der Freiheit«, die umso notwendiger erschien, je mehr das Unheil aus der Verbindung von kapitalistischem Kulturbetrieb und Herrschaft über die Massen hervorzugehen schien. So wie Horkheimer auf der Grundlage einer negativen ­Geschichtsphilosophie einzig noch die Parteinahme für die verbliebene Freiheit als Handlungsoption zuließ, verteidigte Adorno in der »Negativen Dialektik« den Formalismus des Rechts als unhintergehbare Bedingung einer in die Ferne rückenden Befreiung. Um jedoch zu entwickeln, inwiefern gerade das bürgerliche Recht einen Freiraum fürs Individuum zu konservieren beanspruchte, hätten sich er und Horkheimer stärker Fragen der politischen Theorie widmen müssen. Denn was es mit der »Resistenzkraft« des Rechts oder der »formalen Rationalität« desselben auf sich hatte, war gerade wegen des ambivalenten Charakters des liberalen Rechts, das sowohl Freiheit verbürgte als auch Herrschaft sicherte, schlecht innerhalb einer »Logik des Zerfalls« auszuführen.

Franz L. Neumann, der sich nach Kriegsende dem Phänomen der Macht und deren wirksamer Beschränkung zuwandte, musste dies klar geworden sein, als er sein Theorem vom Verfall des liberalen Rechts, das noch im »Behemoth« eine zentrale Stellung einnahm, zumindest für die postfaschistische Restauration relativierte. Nun widmete er sich z.B. dem Begriff der politischen Freiheit (8), den er nur auf Basis juristischer Grundbegriffe entfalten konnte. Wohl wissend, dass Macht nicht in Rechtsbeziehungen aufgelöst werden konnte, verleitete ihn die Analyse des Freiheitsbegriffs nicht dazu, den alten Traum des Liberalismus erneut zu träumen. Insofern war seine Skepsis ganz der Kritischen Theorie verpflichtet.

Was sich an all diesen Debatten und Entwicklungslinien Kritischer Theorie ablesen lässt, ist ein Ringen um das Begreifen einer historisch neuen Situation, für die das alte marxistische Begriffsinstrumentarium schlicht überholt war. Galt es anfangs noch, den Nationalsozialismus begrifflich zu verorten, so mussten später Konstellationen von Staat und Ökonomie, die weder ins alte liberale Zeitalter noch in die Phase seines Niedergangs passten, erfasst werden. Selbst die späteren Debatten der sechziger und siebziger Jahre, in denen eine neue Generation kritischer Theoretiker mit dem Begriff des Spätkapitalismus rang oder die marxistischen Begriffe in orthodoxen Marx-Zirkeln ein weiteres Mal entstaubt wurden, offenbaren ihre Nähe zum ambivalenten Erbe der Kritischen Theorie. Und auch die antideutsche Theoriebildung schlägt sich mit den alten Problemen herum, die sich so eindeutig, wie man es gern hätte, vom Gedankengut des Liberalismus nicht ablösen lassen.

III. Antideutsche Theorie und ihre Leerstellen
Das Jahr 1989 markierte für die deutsche Linke eine Zäsur. Das Ende des real existierenden Sozia­lismus zeitigte die Rede vom Ende der Geschichte, und es stellte sich erneut die Frage nach der Möglichkeit von Emanzipation. Durch die Blockkonfrontation neutralisierte Traditionen und Begriffssysteme kehrten wieder. Ein wiedervereinigtes Deutschland mit weltpolitischen Ambitionen und die Anfang der neunziger Jahre erfolgte Welle des Nationalismus erzwangen eine Reflexion auf die antiemanzipatorischen Kontinuitäten in einer inzwischen – formal und institutionell – westlichen Demokratie. So aktualisierte sich die Problemstellung, die bereits die Kritische Theorie umgetrieben hatte, schlagwortartig verdichtet in der Rede vom »Vierten Reich«. In dieser Konstellation entstand Anfang der neunziger Jahre die antideutsche Linke.

Die skizzierte Ambivalenz – die Verteidigung liberaler Errungenschaften und die Kritik der Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung – ließ sich auch in der antideutschen Theorie und Praxis nicht auflösen. Spätestens mit dem 11. Sep­tember 2001 und dem Erstarken des Islamismus als politischer Bewegung verschob sich zudem das Blickfeld. Ein »Viertes Reich« war aus der BRD nicht geworden. Aber insbesondere der Islamismus, der in vielerlei Hinsicht der nationalsozialistischen Ideologie ähnelt und seine Affinität zu dieser auch offen bekennt, gab erneut die Gelegenheit, über die deutsche Spezifik und ihren Zusammenhang mit kapitalistischer Vergesellschaftung nachzudenken.
Inbesondere Autoren wie Gerhard Scheit bemühten sich, mit einem rechts- und politiktheoretisch angereicherten Begriffsinstrumentarium, die Differenz zwischen staatlichem Normalbetrieb und entgrenzter Barbarei neu zu bestimmen. (9) Doch allein der Aufwand an bedruckten Seiten, dessen es bedurfte, um eine differentia specifica zwischen dem, was deutsch ist, und dem kapitalistischen Normalbetrieb herauszupräparieren und zudem politische Praxis zu begründen, zeugt von der Schwierigkeit des Unterfangens. Die Bestimmung und Abgrenzung politischer und rechtsstaatlicher gegenüber ökonomischen Kategorien ermöglichte eine genauere Bestimmung der polit-ökonomischen Konstellation des Nationalsozialismus. Er wurde nicht mehr als bloße Transformation der kapitalistischen Gesellschaft, sondern als deren »negative Aufhebung« bzw. als wahnhafte, aber wirkungsmächtige Krisenlösung interpretiert. Ihre zentralen Elemente waren die weitgehende Abschaffung der Gesetze des Marktes und die Destruktion der bürgerlichen Gestalt des Staats, insofern die Trennung von Staat und Gesellschaft auf­gehoben wurde und an die Stelle der Gewaltenteilung und berechenbarer Institutionen die willkürliche Befehlsgewalt der nationalsozialistischen Bewegung trat.

Mit dem Begriff des »Postnazismus« sollte in den neunziger Jahren, ausgehend von dem Phänomen Haider, das Fortwesen der deutschen Ideologie in der Konstitution der Gesellschaft erfasst werden. Dieser Begriff ist notwendig hinsichtlich der Kritik an personellen Kontinuitäten seit dem Nationalsozialismus wie auch der Transformation nationalsozialistischer Momente in der Kultur und im Privaten, gerade vor dem Hintergrund transgenerationeller Verdrängung und Weitergabe nationalsozialistischer Erfahrungen. In Hinblick auf die Konstitution des Staates scheint der Begriff das Fortwesen des Nationalsozialismus eher zu beschreiben als zu deuten, sofern mit ihm die These vertreten wird, dass die Aufhebung der Trennung von Gesellschaft und Staat beziehungsweise bourgeois und citoyen nach 1945 nicht rückgängig gemacht worden sei und daher die Deutschen und Österreicher nicht als Individuen, sondern als »Volkssubjekte« handeln und denken würden. Als Belege für die These vom Ende der bürgerlichen Gesellschaft dienten sämtliche kollektive Manifestationen und Interventionen des Staates in die Gesellschaft. Doch auch der New Deal war ein weit reichender Eingriff des Staats in die Wirtschaft, und antiamerikanische sowie antizionistische Manifestationen waren in den vergangenen Jahrzehnten weltweit verbreitet. Darüber hinaus bleibt die Frage, ob man die Verdrängung der nationalsozialistischen Elemente ins Private und Kulturelle nicht gerade einer, wenn auch unvollständigen, »Resistenzkraft« der politischen und rechtlichen Sphäre zuschreiben kann. Weil man aber davon ausging, dass diese tendenziell nicht existiert, verdeckte man den gesamten Komplex von Demokratisierung und reeducation. Denn die Bemühungen, die irreduzible Gewalt des bürgerlichen Rechtsstaats einzuhegen und der vorpolitischen Öffentlichkeit größeren Einfluss einzuräumen, waren durchaus erfolgreich.

In wohl elaboriertester Form findet sich der Umgang mit den eben erwähnten Begriffen bei Gerhard Scheit. Auch ihm zufolge war die kapitalistische Vergesellschaftung nach 1945 nicht mehr dieselbe. Die einmal vollzogene »negative Aufhebung« des Kapitals bleibe demnach als ewig verlockende Möglichkeit im Bewusstsein der deutschen Warenhüter erhalten. (10) Rechtsstaat und Demokratie werden zwar re­installiert, so Scheit, bleiben aber brüchig und firnishaft, sie sind bloßer Schein. Was das Recht gewährleisten soll, nämlich eine funktionale Distanz zwischen Subjekten und Institutionen zu schaffen, ist aus Scheits Sicht tendenziell inexistent. (11) Worin diese Argumentation ihr größtes Recht hat, nämlich hinsichtlich der personellen Kontinuität nazistischer Funktionsträger in Recht und Politik, bleibt bei Scheit allerdings weitgehend ausgeblendet. Dass Scheit bewusst auf die subjekttheoretische Ebene zielt, also noch unter den Bereich des gesellschaftlichen Lebens, trägt hier eher zu einem dunklen und apodiktischen Raunen bei als zur begriffenen Differenz. Insofern die deutsche Spezifik dabei mit den zentralen Kategorien der Gesellschaft amalgamiert wird, bleibt der Umschlag in den Nationalsozialismus »der Tendenz nach« – eine in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Wendung – immer möglich. Die Fokussierung auf Auschwitz geht dabei einher mit einer negativen Geschichtsphilosophie, welche die gegenwärtige Situation immer unter dem Gesichtspunkt des schlechtesten Falles betrachtet. Wahrheit gewinnt eine solche Betrachtung jedoch nicht aus sich selbst, sondern nur als Korrektiv in der Analyse des realen gesellschaftlichen Zustandes. Extrem und Normalzustand lassen sich nur in gegenseitiger Erhellung begreifen.

Der Alarmismus, der sich in der Beschreibung postfaschistischer Demokratien als bloß aufgehaltenem Ausnahmezustand ausdrückt, verkennt, dass Politik eben nicht immer und in jedem Fall die Mobilisierung der Gewalt bedeuten muss. Die Freund-Feind-Bestimmung, verstanden als letzter Grund politischen Handelns, findet sich in modifizierter Form in der Annäherung an den »Gegensouverän« (Manfred Dahlmann) oder den »neuen Behemoth« (Gerhard Scheit). Diese Analysen verdecken allerdings gerade die Differenz zwischen einem demokratischen und einem autoritär verfassten Gemeinwesen, an der vor allem die Politologen unter den Kritischen Theoretikern festhalten wollten, als diese ihre Reflexion im Sinne der demokratischen Freiheitssicherung nach 1945 fortführten. Ihnen ging es, jenseits der Illusion absoluter Herrschaftsfreiheit, um die Analyse der Herrschaft des Gesetzes, welche den liberalen Rechtsstaat auszeichnet. Sie ist gerade darauf gerichtet, den Ausnahmezustand zu verunmöglichen, also den Moment, da die Gesetzesform zugunsten willkürlicher Maßnahmen von Regierung, Polizei, Verwaltung und nicht-staatlichen Rackets pervertiert wird.

IV. Der liberale Ausweg
Die 2005 in Erscheinung getretenen »Freunde der offenen Gesellschaft« (FDOG) beanspruchten unter dem Schlagwort des liberal turn, einen radikalen Ausweg aus dem Dilemma zwischen radikal linker Gesellschaftskritik und (Teil-)Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft gefunden zu haben. Aufmerksamkeit verdienen sie dabei nicht wegen ihrer Wirkung – sie sind inzwischen weitgehend im Kosmos des Hobbyjournalismus verschwunden –, sondern weil sie für die einseitige Auflösung des hier zur Debatte stehenden Widerspruchs paradigmatisch sind. Mit dem Gestus der Läuterung und vor allem des politischen »Erwachsengeworden­seins« erklärte man in einem Gründungspamphlet vollmundig den Abschied von der Linken, ihren »Lügen«, ihrer bornierten »Wissenschaftsfeindlichkeit«, ihrem »männerfeindlichen Antisexismus«, ihrer »romantischen Arbeitskritik«, kurz, ihrem »Ressentiment gegen die moderne Gesellschaft«. (12)

So unkontrolliert die Streugeschosse der Neu­liberalen sein mögen, sie treffen ab und an etwas Richtiges. Wohlwollend lässt sich ihre Kritik als ein Insistieren auf Vermittlung lesen. Einer solchen Kritik geht es vor allem darum, das Individuum nicht im gesellschaftlichen Zusammenhang aufgehen zu lassen. Das Recht oder auch der von den Neuliberalen affirmierte Markt sind solche Vermittlungsmechanismen – mithin die einzigen, die sie sich vorstellen können. Allerdings führt gerade der ungebrochene Bezug auf den reinen Markt letztlich in Schwierigkeiten. Wer davon ausgeht, dass Marktfreiheit und Konkurrenz als blinde Mechanismen nur in Reinheit, d.h. in ihrer völligen Getrenntheit von den tatsächlichen Akteuren, ihre wohltätige Wirkung entfalten können, der kommt nicht umhin, konkrete Menschen als potenzielle Störfaktoren zu sehen. Deren Markt und Fortschritt behindern­des Fehlverhalten kann dann auch nur moralisch oder anthropologisch ausgedeutet werden. Letztlich degradiert man die Individuen so zu Input-/Output-Maschinen.

Die Inhalte dieser Spielart linker Konversionen sind keineswegs neu. Auffällig an den FDOG war jedoch, dass man sich in der Form, d.h. im Duktus, nicht so strikt vom linken Erbe getrennt hatte, wie man es suggerierte. Deutlich wird das nicht nur am Hang zur Polemik, sondern auch an der bei den Antideutschen gelernten Figur, rhetorisch eine Entscheidungssituation zu postulieren, die Freund und Feind eindeutig konstituiert. Mit dieser Faszination für den Dezisionismus im Dienste der liberalen (oder eben antideutschen) Kritik geht auch eine bestimmte Figur des »Kritikers« einher, die man hüben wie drüben in Anschlag bringt. Oft kommt der »Kritiker« als harter Mann daher, der »Widersprüche aushalten« kann und dem Elend der Welt furchtlos ins Gesicht blickt. Illusionslosigkeit muss dabei in beiden Strömungen als Grund für die jeweilige Position herhalten. Während die Liberalen für sich in Anspruch nehmen, dass niemand die Probleme der Welt realistischer im Blick hat als sie, gerät bei den Antideutschen die Beteuerung, trotz des Ausbleibens der Revolution die »Einsamkeit des Theoretikers« und das harte Geschäft der Kritik auf sich zu nehmen, zu einer Erkenntnis verstellenden rhetorischen Figur. Die »Einsamkeit des Kritikers« – dahingestellt, ob sie real ist oder bloß evoziert wird – verbürgt eben für sich genommen noch gar nichts; keine richtige Einsicht in die Gesellschaft, keine vernünftige Position. Gerade dieser Zusammenhang zwischen einer vermeintlichen Stellung des Kritikers und dem Wahrheitsgehalt seiner Aussagen wird gerade von Antideutschen immer wieder impliziert.

V. Ideologiekritik und Lobbyarbeit
Virulent zeigen sich die bisher auf begrifflicher Ebene verhandelten Probleme in der Praxis. Für einen klassischen Liberalen sind Politik und politisches Handeln nicht als solche legitimationsbedürftig, vielmehr werden sie nach den Konsequenzen beurteilt. Für jemanden, der an Emanzipation grundsätzlich interessiert ist, sieht das anders aus. Konkrete Politik und die Abschaffung des großen Ganzen, vorweggenommen in Ideologiekritik, verlangen hier ständig nach einem Abgleich. Die Antideutschen gehen auch hier einen eigenen Weg. Es gehört zu den Prämissen der antideutschen Bewegung, dass sie eigentlich keine sein möchte. Immer wieder wird von ihren Denkern auf den regressiven Gehalt, der politischen Bewegungen eigen ist, reflektiert. Folglich konzentriert man sich fast immer auf die klassischen ideologischen Elemente der kapitalistischen Vergesellschaftung. Der Widerspruch, in dem eine antideutsche Kritik damit steht, ist der zwischen Kritik des »Normalbetriebs« – »Globalisierung«, »Treibhauseffekt« – und der Kritik an dessen falscher Kritik. Durch den Fokus auf den Nationalsozialismus und seine, wie auch immer transformierten, Wiedergänger, kommt es zu der durchaus paradoxen Situation, dass man sich an Protesten gegen den kapitalistischen Alltag nur noch dann beteiligt, wenn man gegen sie protestieren kann. Damit einher geht die bequeme Annahme, dass mit Marx die ökonomische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft bereits hinreichend beschrieben ist. Oftmals ist damit aber nicht mehr gemeint, als dass bei Marx von Krisen und deren Möglichkeit die Rede ist: Und tatsächlich – zu solchen kommt es immer wieder.

Die Konzentration auf Ideologiekritik – wie sie beispielsweise Stephan Grigat in seinem Dossier »Mit Wimpel und Mützchen« (Jungle World 32/08) noch einmal stark gemacht hat – hat dabei ein doppeltes Gesicht. Die Bekämpfung des falschen Bewusstseins ist unabdingbar, nicht nur aufgrund der jeweils zu kritisierenden Positionen, sondern auch als Korrektiv politischer Praxis, als Lektion in Sachen Illusionslosigkeit. Doch der Übergang zur Ideologiekritik als bequemem Rückzugsraum, als Winterhöhle der Emanzipation, ist fließend. Konkretes politisches Handeln wird ersetzt durch eine mit Polemik gleichgesetzte und erkenntnistheoretisch versilberte Kritik.

Der virulente Streit unter den Chiffren »Kritik« und »Realpolitik« ist ein Ausdruck des Widerspruchs zwischen radikaler linker Tradition und dem Bezugssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Diesen Zusammenhang auf den Begriff zu bringen, hat man bisher vermieden, denn man hatte ja immer alles richtig gemacht. (13) Folgte man beispielsweise dem Bahamas-Kongress im Jahre 2005, dann gab es zwischen Liberalen und Antideutschen nichts zu bereden, nur die eigene Theorie war zu feiern, indem man sich mit Bekannten über Bekanntes unterhielt. Genau solch ein inzestuöses Verhalten bezeichnet Justus Wertmüller, wenn er es bei anderen feststellt, in einem Text drei Jahre später als Verzweiflungstat.

Dabei ist Realpolitik von Seiten einer radikalen Linken nicht neu, nur ist sie seit Auschwitz dringender geworden denn je. Alles Nachdenken über Befreiung – innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft oder über diese hinaus – hat diese Einsicht in ihre Theorie und Praxis aufzunehmen. Weil Emanzipation, auf die die Kritik zielt, nicht unmittelbar zu haben ist, wird auch der Status von »Realpolitik« als Veränderung in der bürgerlichen Gesellschaft ein anderer. Insofern ist auch und vor allem der Staat Israel Teil dringend notwendiger Realpolitik in einer Welt, in der nicht die erhoffte Weltrevolution für einen universellen Verein freier Menschen, sondern die industrielle Vernichtung mehrerer Millionen Juden und so genannter Zigeuner vollzogen wurde. Die Solidarität mit Israel samt ihren realpolitischen Konsequenzen betont zu haben, ist das größte Verdienst der Antideutschen. Allerdings spiegelt sich in den verschiedenen Manifestationen dieser Solidarität der Widerspruch zwischen einer Gesellschaftskritik, die aufs Ganze zielt, und der Bejahung bestehender Zustände angesichts der Möglichkeit ihrer negativen Aufhebung. In extremen Fällen wird der Widerspruch geglättet durch sophistische Konstruktionen, denen zufolge Israel der Vorschein der kommunistischen Gesellschaft ist und die IDF der bewaffnete Arm der Kritik an Staat und Kapital sind, oder aufgelöst in einer gänzlich unsentimentalen Affirmation Israels, wobei Israel nicht mehr als tragische Notlösung kenntlich ist.

Das Problem ist weniger das Changieren zwischen Realpolitik und einer auf Befreiung zielenden Kritik, sondern die einseitige Auflösung dieses Widerspruchs einerseits und die Verklärung jenes Schwankens durch gleichermaßen flexible wie dogmatische Theoreme anderseits. Wenn Wertmüller schreibt, der Kritiker habe »so frei zu sein, diese Lobbyarbeit als notwendig anzuerkennen und zugleich daraus kein sein eigenes Denken und Handeln bestimmendes Gesetz zu machen«, dann ist das eine sehr kleine Wahrheit am Rande der Banalität, aufgeblasen und versilbert durch eine fast schon mythisch-heldenhafte Figur des Kritikers. (14) Gesetze als Richtschnur ihres eigenen Handelns aufstellen – das tun immer nur die anderen. Sie sind Karrieristen und zu schwach, die »Einsamkeit des Kritikers« auszuhalten. All das ist vor allem Kompensation durch Ideologiekritik. Da man sich keinem Quietismus hingeben möchte – der aus dem ostentativen Betonen der Illusionslosigkeit ja eigentlich folgt –, brüllt man dort, wo man es kann – also hauptsächlich im linken Blätterwald –, noch ein bisschen lauter. So behält man in einem politischen Kampf, den man selber auch immer wieder inszeniert, beständig die Oberhand. Was demgegenüber der Erkenntnis zuträglich sein könnte, wäre zuallererst das Eingeständnis, dass es den Königsweg der Kritik nicht gibt. Will man souverän zwischen beiden Seiden des skizzierten Widerspruchs vermitteln, müsste dieser erst einmal angemessen zu Bewusstsein gebracht werden. Und dies hieße letztlich, das Verhältnis zwischen der theoretischen Kritik der Gesellschaft und ihrer praktischen Verwirklichung auszuformulieren.
Anmerkungen:
(1) Herbert Marcuse, »Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Springe 2004, S. 7–43.
(2) Die Diskussion ist dokumentiert in: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hrsg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main. 1981.
(3) Friedrich Pollock, »Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung?«, in: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hrsg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1981, S. 111 ff.
(4) Franz L. Neumann, »Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft«, in: ders.: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1937), S. 68.
(5) Franz L. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes. Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft, Frankfurt am Main 1980 (zuerst 1936).
(6) Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt am Main 1977 (zuerst 1942 u. 1944).
(7) Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1973, S. 353f.
(8) Franz L. Neumann, »Zum Begriff der politischen Freiheit«, in: ders.: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1953), S. 100 ff.
(9) V.a. Gerhard Scheit, Suicide Attack, Freiburg im Breisgau 2004.
(10) Gerhard Scheit, Suicide Attack, Freiburg im Breisgau 2004, S. 88.
(11) Ebd.
(12) Alle Zitate sind dem Gründungspamphlet entnommen. (http://gesellschaftsfreunde.blogspot.com/2005/03/einladung-zu-einem-ers…)
(13) So der Tenor in Justus Wertmüllers jüngster Kritik der Iran-Konferenzen in Berlin und Wien. (Vgl. Justus Wertmüller, »Es geht um Israel – Nicht um Iran-Konferenzen«, in »Bahamas«, Nr. 55 (2008), S. 34f.)
(14) Ebd., S. 35.