Fetisch und deutsche Ideologie

Fetisch und deutsche Ideologie

Materialistische Kritik ist auch Staatskritik, doch darf sie die Unterschiede in Form und Zweck staatlicher Herrschaft nicht ignorieren.

Erstaunt verkündet das Feuilleton eine Marx-Renaissance. Die Krise habe das Marxsche »Kapital« zum Verkaufsschlager werden lassen. Lesekreise zur Kritik der politischen Ökonomie würden nur so aus dem Boden sprießen. Nach einem Jahrzehnt der weit gehenden Abwesenheit von kapitalismuskritischen Tönen in Folge des Niedergangs des Realsozialismus kam es bereits Ende der neunziger Jahre zu einer Renaissance kapitalismuskritischer Diskussionen und in Form der globalisierungskritischen Bewegung auch zu antikapitalistischen Protesten.
Jene Renaissance ging aber genau wie die jetzige mit einer Wiederkehr von reformistischen Politikkonzepten einher, die den Staat gegen den Markt in Anschlag bringen, anstatt Kritik der politischen Ökonomie, also Kritik von Kapital und Staat zu betreiben. Sie war und ist mit einer Begeisterung für einen politischen Aktivismus verbunden, bei der allein die Tatsache, dass Bewegung jenseits etablierter Parteien und Institutionen stattfindet, abgefeiert wird, anstatt die Problematik spontanen Protests und unreflektierten Bewusstseins zu thematisieren. Überdies ist für diese Renaissance antikapitalistischer Artikulation eine Substituierung von Kritik durch Ressentiment charakteristisch, bei der die Kritik des Kapitalverhältnisses durch die Markierung einzelner Kapitalisten, die Kritik an staatlicher Herrschaft und globalen Abhängigkeiten durch die Fixierung auf die USA und die Kritik am Rassismus durch die Propaganda vom rassistischen Wesen des Zionismus oder dem Gerede von einer gesamtgesellschaftlichen »Islamophobie« ersetzt wird.
Von jenem Marx, der vom Koran zu sagen wusste, dass er »Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige« reduziert, und der dieser angeblichen Religion des Friedens bescheinigte, sie »ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen«, will diese Linke nichts wissen. Ebenso wenig von jenem Marx, der die Befreiung vom Staat statt durch den Staat, die Abschaffung von Arbeit, Geld und Kapital, von Warentausch und repressiver Gleichheit wollte, die etatistische deutsche Sozialdemokratie und den französischen Sozialismus in Grund und Boden kritisierte und sich gegen jede ressentimentgeladene, sich stets, wie es in den »Theorien über den Mehrwert« heißt, nur gegen das Kapital in »seiner wunderlichsten und zugleich der populärsten Vorstellung nächsten Gestalt« richtende, in letzter Konsequenz antisemitische Nörgelei wandte.

Ein Heuschrecken jagender Reformmarxismus sozialdemokratisch-christlicher Prägung hat heute hingegen samt seinen antisemitischen Implikationen Konjunktur, während die sich selbst als antagonistisch begreifende Linke zunehmend wieder auf den Leninismus als dessen radikalisierte Variante setzt und die universitären Softcore-Leninisten den Staat unter Rückgriff auf das von Felix Klopotek zu Recht angeführte Lieblingszitat aller akademisch-etatistischen Reformmarxisten zur »materiellen Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« und somit zu ihrem »Kampffeld« erklären.
Uli Krug hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass gerade in der Linken gerne übersehen wurde, dass Marx keine reine Ökonomiekritik geschrieben hat. Die Kritik ökonomischer Kategorien ist ohne die Kritik des Staats nicht zu haben. Doch weder kann der Staat aus der Wert- und Kapitalform, noch der Staats- aus dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch »abgeleitet« werden. Die Kritik der Ökonomie ist immer auch Kritik des politischen Souveräns. Kritik des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs muss auch eine Kritik des Staatsfetischs sein, in der Kapital und Staat als »gleichursprünglich« (Joachim Bruhn) begriffen werden.
Der kapitalistische Warentausch erfordert von vorneherein staatliche Herrschaft, die sich positiv auf das Prinzip des Äquivalententauschs bezieht und die gegenseitige Respektierung der Menschen als freie Besitzer der Waren letzt­instanzlich durch seine Gewalt garantiert. Die Warensubjekte wollen den Staat, oder besser: sie müssen ihn wollen. Der Staat vermittelt die Gegensätze, die das Kapitalverhältnis konstituieren. Wenn das Kapital als automatisches Subjekt Gott ist und die Arbeiterklasse »Gottes Sohn, des Kapitals variabler Teil« (Gerhard Scheit), dann ist der Staat der heilige Geist, die Vermittlung zwischen beiden.
Der Staat erscheint fetischhaft als autonom gegenüber dem ökonomischen Prozess und mit seinem Apparat als persönlich repräsentierte Instanz. Dadurch erscheint er für die Subjekte, die dem als unpersönlich wahrgenommenen ökonomischen Fatum ausgeliefert sind, als Appellationsinstanz und als jener Ort, an dem die Widersprüch­lichkeiten der bürgerlichen Subjektivität kuriert werden sollen. Der Staat ist souverän gegenüber seinen Untertanen. Seine Souveränität gegenüber seiner eigenen ökonomischen Grundlage ist hingegen nur Schein. Bei allem zeitweilig möglichen und keineswegs gering zu schätzenden emanzipativen Überschuss staatlicher Politik – letztlich reguliert der Staat immer im Sinne des automatischen Subjekts. Tut er es nicht, ist er dem Untergang geweiht.

Bei allen demokratischen Integrationsleistungen bleibt die Vorstellung Ideologie, dass »wir alle« der Staat seien. Notwendigerweise als Agent der fetischistischen Wertverwertung agierend, sind auch die Staatsagenturen und ihr Personal keine selbst bewusst handelnden Individuen, sondern Exekutoren der Irrationalität. Im Staatsfetisch tritt den Menschen die von ihnen wie unbewusst auch immer geschaffene Organisation als fremde Macht gegenüber. Im fetischistischen Alltagsbewusstsein erscheint der Staat als anthropologische Konstante, als eine Art nicht hinterfragbares Naturereignis. In anderer Art und Weise als beim Waren-, Geld- und Kapitalfetisch versuchen die Subjekte aber, sich dieser fremden Macht anzudienen, was seinen Ausdruck unter anderem im Nationalismus findet. Das verweist darauf, dass der Staat nur im je historisch Konkreten zu fassen ist.
Und deswegen hat Felix Klopotek Unrecht, wenn er sich gegen Differenzierungen im falschen Ganzen wendet, indem er davor warnt, »das ideologische Inventar der bürgerlichen Gesellschaft gegeneinander abzuwiegen«. Solche Differenzierungen bedeuten nicht, die Kritik an eben dieser Gesellschaft einzustellen. Sie können nicht als bloße »Spiegelfechtereien« (Klopotek) abgetan wer­den, sondern sind dringend notwendig, wenn man sich nicht in einer ebenso ab­strak­ten wie geschichtsblinden Staats- und Kapitalkritik verlieren möchte.
Die Hinweise auf Unterschiede zwischen Staatsbürger- und Volkstumsnationen, zwischen westlich-liberalen Gesellschaften und atavistisch-modernen Abstammungsgemeinschaften bedeuten keine Depotenzierung der Kritik der Nation. Materialistische Kritik muss sich einen Begriff vom Staat im Allgemeinen machen; dennoch kann die Staatskritik nicht von den je unterschiedlichen Ausprägungen und Zwecksetzungen staatlicher Herrschaft und Verwaltung ­abstrahieren. Gerade die Betonung der Unterschiede zwischen dem, was in einem ideologiekritischen Sinne deutsch ist – sei es in Europa oder im Nahen Osten –, und der zionistischen Staatlichkeit sowie die Parteinahme auf Grund dieser Unterschiede, sollten das Resultat einer jeden Staatskritik sein. Zugleich sind sie kein Grund, von einer Kritik zu lassen, die auf die Abschaffung der Gründe für die heutige Notwendigkeit des Zionismus abzielt.

Der Autoritarismus der Sozialdemokratie soll nach Klopotek »die Strafe für die Integration der Arbeiterbewegung in den Staat« sein. Aber es war eben nicht irgendein Staat, in den sich die SPD integrierte, sondern der deutsche Volksstaat, der sich auch unter ideologischer Schützenhilfe des etatistischen Flügels der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus radikalisierte.
Doch Klopotek sieht auch in der Linkspartei nur einen gewöhnlichen Sozialdemokraten-Verein: »Im Schatten der Weltwirtschaftskrise tritt hierzulande wieder mal eine Linke an, den Kapitalismus zu retten, die Monopole in die Schranken zu verweisen, die Märkte zu regulieren, die Harmonie in den Betrieben wiederherzustellen«. Und das soll im Land der verwirklichten Betriebsgemeinschaft, der im Massenmord Realität gewordenen Volksgemeinschaft unter den normalen Gang der kapitalistischen Dinge verbucht werden? Die Lafontaine-Bewegung, die Gemeinsamkeiten zwischen linken und islamischen Vorstellungen betont, in fast all ihren Ausprägungen gegen Israel und die USA hetzt und keine Einwände gegen das iranische Nuklearprogramm hat, die Ressentiments der verhätschelten »kleinen Leute« in fast jeder Hinsicht bedient und die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie in einen antikapitalistischen Jargon verwandelt hat, der an die schlimmsten Traditionen des deutschen Sozialismus gemahnt, soll nichts mit »deutscher Ideologie« zu schaffen haben?
Man wird heute vermutlich selbst in der von Antisemiten durchsetzten CDU mehr Menschen finden, die sich gegen die Etablierung eines autoritären Volksstaats deutscher Prägung zur Wehr setzen würden, als in einer Linkspartei, die auf internationalem Parkett den Freunden Mahmoud Ahmadinejads wie Hugo Chávez, Evo Morales und Daniel Ortega die Treue hält und sich die größte Mühe gibt zu beweisen, wie links die deutsche Ideologie und wie deutsch diese Linke ist.