Das Programm zur Förderung von Mehrgenerationenhäusern

Aus alt mach nützlich

Sie haben Angst, im Alter einsam, arm und unbrauchbar zu sein? Dann kennen Sie Ursula von der Leyens seniorenpoli­tisches Recyclingprogramm noch nicht.

Die Überzeugung, dass der Umgang mit alten Menschen nicht immer angenehm sei, weil sie oft wirr daherreden und notorisch vergesslich sind, gehört zu den Restbeständen jenes egois­tischen Liberalismus, dessen Prinzipen in der deutschen »Bürgergesellschaft«, die angesichts ökonomischer Krisen Entsagung und Gemeinsinn predigt, zunehmend in Verruf geraten. Die Greise, die man früher ins Heim abschob, werden in der von demographischem Verantwortungsbewusstsein beseelten Berliner Republik zu »Senioren« konvertiert, die angeblich noch kurz vor ihrem Lebensabend »bürgerschaftliches Engagement« an den Tag legen, fit bleiben und die Jugend verstehen wollen.
Aus den Informationsbroschüren der Rentenversicherungen weiß jeder, wie solche »jungen Alten« aussehen: Mit vital geröteten Wangen, sonnengebräuntem Gesicht und sportivem Stirnband strahlen sie strotzende Lebenskraft aus. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das gemeinschaftliche »Walken«, und sie haben allesamt den Wunsch, für andere da zu sein.

Die Menschen in Stand zu setzen, endlich nur noch für andere und nicht für sich selbst da sein zu können, ist der sozialpolitische Endzweck ­einer Gesellschaft, die jeden seinem Schicksal ausliefert und doch keinem Einzigen ermöglicht, seinen Wünschen gemäß zu leben. Die Alten werden dabei zum Problem, denn sie ver­körpern am offensichtlichsten die Lüge vom glück­lichen Lebensabend. Dem selbstzufriedenen Blick zurück, mit dem Großbürger einst ihr Leben beschlossen, stellten die »jungen Wilden« der fünfziger Jahre den Blick zurück im Zorn, die Protagonisten der »Lost Generation« gar den frühzeitigen Tod entgegen. Ihr böser Blick auf ein Leben, das seinem eigenen Begriff widerspricht, findet inzwischen kaum noch Anhänger. Im Gegenteil: Gerade weil in Würde zu sterben immer unwahrscheinlicher ist, gilt jede Abkürzung des biographischen Gewaltmarschs als Verstoß gegen das Gemeinwohl. Die Verachtung des Lebens und der Hass auf den Tod sind dasselbe. Die siebzigjährigen Jungspunde, die einem aus AOK-Broschüren entgegenstrahlen, und die strub­beligen Yuppies der Werbeplakate sind alterslose role models eines Lebens, das es nicht gibt.
Aber Untote leben bekanntlich länger. Als wolle sie den postmodernen Gemeinplatz bestätigen, wonach jede historische Vergesellschaftungsform als Parodie ihrer selbst fortbestehen kann, bemüht sich Familienministerin Ursula von der Leyen nicht nur, den Zerfall der bürgerlichen Fami­lie als Chance zur Pluralisierung der Lebensmodelle zu verkaufen, um sie im gleichen Atemzug als »Option« umso aggressiver zu propagieren (Jungle World, 52/08). Auch die Eintracht der Gene­rationen, die in Zeiten der Großfamilie als Einheit von Lebens- und Erwerbszusammenhang unmittelbar gegeben schien, soll heute als Placebo für das erodierende Renten- und Pflegesystem wieder hergestellt werden.

Zu diesem Zweck wurde das Programm zur Förderung von »Mehrgenerationenhäusern« in urbanen und ländlichen Problemgebieten ins Leben gerufen. Mehr als 1 700 soziale Einrichtungen haben sich bereits um Aufnahme beworben, und im März soll in Berlin eine Tagung stattfinden, auf der Vertreter des Familienministeriums, der Kommunalen Spitzenverbände und des Umweltforums über die Einzelheiten des Projekts beraten wollen.
Die Chargen aus Wirtschaft und Medien sind begeistert. »Unsere Gesellschaft ist so stark auf das Erwerbsleben fixiert, dass sich viele alte Menschen nicht mehr gebraucht fühlen«, weiß Lothar Späth und droht: »Deutschlands Rentner sind in der Lage, noch viel zum sozialen Leben beizutragen.« Die Schauspielerin Jasmin Taba­tabai erinnert sich, es »genossen« zu haben, »den Geschichten der Älteren zuzuhören«, und ihre Kollegin Veronika-Marie von Quast bramarbasiert über »das natürliche Geben und Nehmen«. Nur Hans-Olaf Henkel erklärt mit dankenswerter Offen­heit: »Später kümmerten sich die Kinder um die gebrechlich werdenden Eltern. Bei uns kam niemand auf die Idee, ›Vater Staat‹ die Verantwortung des Erziehers, des Betreuers oder des Pflegers aufzubürden. Wo es solche Familien­verbände nicht mehr gibt, können Mehrgenera­tionenhäuser ihnen ziemlich nahe kommen. Das spart nicht nur dem Staat viel Geld, es fördert die Bildung der Jungen, entlastet die mittlere Generation und hält die Älteren jung.«
Angesichts solchen Zuspruchs hat die Bundesministerin im Januar mit der Initiative »Alter schafft Neues« nachgelegt, die unter dem Slogan »Zähl Taten, nicht Falten« Porträtfotos greiser Kämpen plakatiert, für die »Kompetenz und Einsatz keine Altersgrenze kennen« und die alle wie Hybridbildungen aus Henkel und Mutter Teresa aussehen.

Tatsächlich besteht das Prinzip der Mehrgenerationenhäuser darin, deutschen Autoritarismus und gemeinmenschliche Mildtätigkeit zu verbinden. Angesichts des Zerfalls bürgerlicher Sozialität soll in freiwilliger, auf ehrenamtlicher Basis organisierter Arbeitsteilung die vorbürgerliche Lebensform der Großfamilie professionell simuliert werden. Das ganze Programm beruht darauf, dass das Elend und die Ohnmacht der Beteiligten nicht aufgehoben, sondern »produktiv« gemacht werden: Rentner und Rentnerinnen ohne soziale Außenkontakte und mit zu geringen finanziellen Mitteln, um sich ein selbständiges Leben im Alter sichern zu können, nehmen in Mehrgenerationenhäusern die vakante Rolle der Oma oder des Opas gegenüber Kindern allein erziehender Mütter oder Väter ein, welche ihrerseits mangels beruflicher Perspektiven die Rolle des Pflegers gegenüber den Leihgroßeltern spielen, die ihnen die Kosten der Kita ersparen – »natürliches Geben und Nehmen«, wie man es aus archaischen Subsistenzgemeinschaften kennt, deren Bindungskraft hierzulande schon immer bewundert worden ist.
Die moderne Gesellschaften kennzeichnende Tendenz, Kindererziehung und Altenpflege auf der Basis von Arbeitsverträgen, also als ökonomisches Tauschverhältnis, zu organisieren, hat in Deutschland stets den Verdacht hervorgerufen, die von der Zivilisation korrumpierten Indivi­duen wollten sich auf diese Weise der Verantwortung für ihr eigenes Fleisch und Blut entledigen. Heute versteht sich die deutsche Zivilgesellschaft längst insgesamt wieder als Großfamilie, deren Segnungen kein Alzheimerpatient entgehen kann.
Da die historische Großfamilie aber zerfallen ist und die intergenerationellen Dialogpartner sich allein aus individueller Not dem familienpolitischen Simulationsprogramm unterwerfen, verschwimmen Zweckfreiheit und Kalkül, Nestwärme und Überwachungseifer in den Mehrgenerationenhäusern so trübe wie sonst nur in humanistischen Gymnasien. Die Altersheime, in die Oma und Opa früher ausgelagert wurden, mögen anonym, öde und unhygienisch gewesen sein. Das waren jedoch Defizite, die durch bessere Finanzierung und anspruchsvollere Ausbildung des Pflegepersonals hätten behoben werden können. Der Wert des alten Pflegesystems bestand indessen in der Garantie, dass niemand gezwungen werden könne, sich später einmal um die siechenden Eltern zu kümmern, und dass die Alten sich nicht fürchten müssten, im Zustand der Hilflosigkeit ausgerechnet ihren Kindern ausgeliefert zu sein. Altersheime, wie defizitär auch immer sie organisiert sind, bleiben stets Institutionen mit einem gesetzlich definierten Zweck, auf den die Betroffenen sich gegebenenfalls berufen können. Mehrgenerationenhäuser dagegen täuschen zweckfreie Menschlichkeit vor und wollen die Institution in den Gattungsverband zurückverwandeln, von dessen Gewalt die Menschen durch sie erlöst werden sollten.

Je nachdem, ob sie im ländlichen oder städtischen Raum verwirklicht werden, zeitigen solche Projekte unterschiedliche, aber gleicher­maßen regressive Konsequenzen. Auf dem Land tragen sie dazu bei, die zerfallenen agrarischen Strukturen durch Restitution überkommener Familienformen fassadenhaft am Leben zu erhalten. In der Stadt befördern sie die unter dem Label von Multikulturalismus und »Kiezkultur« betriebene Parzellierung der Großstadt in bunte Dörfer mit entsprechend reizenden »Nachbarschaftsbeziehungen«. Statt die auf dem Land Gestrandeten zu animieren, ihr Schollendasein hinter sich zu lassen, werden sie ermuntert, sich häuslich in einer nicht mehr vorhandenen ­Sicherheit einzurichten. Statt der Großstadt ihr emanzipatorisches Potenzial abzutrotzen, wird sie als Bedrohung halluziniert, gegen die nur die intergenerationelle Gemeinschaft Abhilfe verspreche.
Bei alldem kann man sich praktischerweise sogar auf die Infrastruktur und das Personal linker »Hausprojekte« stützen, die wie vieles aus dem linken Milieu erst heute richtig zu sich selbst kommen: Wie das Idealbild linker Polit-WGs mit ihren veganen Speiseplänen, ihrer tristen Melange aus Öffentlichkeit und Privatsphäre und ihren zu »Diskussionen« stilisierten Kollektivmonologen letztlich schon immer das betreute Wohnen war, so reorganisiert sich das betreute Wohnen heute als volksstaatlich beheizte Groß-WG. Den Fürsprechern eines solch kommunitaristischen Untotendaseins müssen Romeros Zombies, die einst die Ängste einer ganzen Generation zum Ausdruck brachten, hoffnungslos anachronistisch erscheinen: Wen noch im Zustand fortgeschrittener Dekomposition die egoistische Sehnsucht plagt, sein ungelebtes Leben zurück­zufordern, der hat von der deutschen Solidar­gemeinschaft einfach nichts begriffen.