Älterwerden in der Popkultur

Demografischer Wandel im Pop

Rockmusik war in ihren Anfängen mal ausschließlich eine Adoleszenzerfahrung, funktioniert aber inzwischen über einen Drei-Generationenvertrag. Fans altern mit ihren Stars, Teenager greifen in die Plattenkisten ihrer Großeltern und ziehen nicht mehr Peter-Alexander-Platten, sondern Beatles-Alben hervor. Die Altersgrenzen sind durchlässiger geworden. Nur der Popjournalismus will das nicht so recht wahrhaben und kontrolliert noch immer ganz gern die biometrischen Daten der Musiker.

Wenn Tina Turner dieser Tage die Bühne rockt, wird sicher irgendwo wieder die Formulierung auftauchen, dass sie »in Würde gealtert« sei. Ganz so, als wäre Altern im Pop grundsätzlich etwas Entwürdigendes. »In Würde altern«, das ist positiv gemeint und doch genauso diskriminierend wie die Bezeichnung »Rock-Opa« (Focus, Stern, Spiegel), die sich Mick Jagger bei jeder neuen Stones-Tournee anhören muss. Anzunehmen ist, dass solche Formulierungen von Journalisten stammen, die selbst jenseits der 30 sind und noch immer dem alten Denkschema aufsitzen, Pop habe notwendig etwas mit Adoleszenz zu tun. Doch das ist schon lange vorbei. So wenig Pop und Rock noch als Rebellion und Auslöser eines Generationskon­flikts taugen, so wenig ist die Musik jenseits von Casting-Shows noch an ein festes Alter gebunden.
Kein Wunder also, dass sich der 41jährige MTV-Moderator Markus Kavka selbst als ­»Kidult« bezeichnet, eine Mischung aus »Kid« und »Adult«, und dem Spiegel erklärte, dass gerade die Metropolen ein perfekter Nährboden seien, um nicht erwachsen zu werden. Dasselbe gilt für die Produzenten und Konsumenten von Popmusik: »Das Alter meines Publikums«, so Conor Oberst, »reicht von 20- bis 60jährigen.« Die viel beschworene Krise der Musikindustrie hat eine wesentliche Ursache darin, dass die Plattenfirmen zu lange das ältere Publikum ignoriert und geglaubt hatten, sie müssten ausschließlich in den Teen­ager-Markt investieren, wo allerdings kaum mehr Tonträger gekauft werden. Demgegenüber stellte Tim Renner in seinem Buch »Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!« fest: »Die Demografie spricht in Deutschland ohnehin gegen die Jugend als wichtigste Zielgruppe (für Popmusik, d.V.) und stattdessen für diejenigen, die heute zwischen 30 und 50 sind.«
Obwohl sich seit den sechziger Jahren vieles verschoben hat und inzwischen bereits drei Generationen mit Pop aufgewachsen sind, kommt immer wieder, wenn von der Leistung eines Musikers die Rede ist, das Alter mit ins Spiel. Ähnlich wie bei der Kategorie Geschlecht wird zwar stets beteuert, dass dies keine Rolle mehr spiele, trotzdem werden Frauen auf der Bühne weiterhin daran gemessen, was sie als Frauen leisten, und ältere Musiker daran, wie wacker sie sich als Ältere schlagen. Die Beurteilung all dessen fällt jedoch unterschiedlich aus, je nach dem, welchem Genre die Musiker entstammen und welches Image ihnen anhaftet.
Johnny Cash war bereits 70 Jahre alt, als sich junge Musiker um ihn scharten und ihn zu ihrem großen Vorbild erklärten. Dass die Songs von Cash im Alter immer ernster, dunkler und auch morbider wurden, schadete seinem Image deshalb nicht, weil man im Songwriter-Genre umso mehr Anerkennung erntet, je seriöser und reifer die Musik wirkt. Hier schlägt die alte ­Authentizitäts-Falle voll zu. Und zwar mit solcher Wucht, dass die positive Diskriminierung längst umgekehrt verläuft und einigen Songwritern bescheinigt wird, sie seien für ihre Musik eigentlich viel zu jung. Conor Oberst, Jahrgang 1980 und bereits im Alter von 13 Jahren als Musiker aktiv, muss sich bis heute damit abfinden, dass die anerkennende Rezeption seiner Musik fast immer von einem unterschwelligen »Nicht schlecht für sein Alter« begleitet wird. »Wie alt muss man sein, um ein Alterswerk abliefern zu dürfen?« fragte zum Beispiel die Zeit und fügte hinzu: »Conor Oberst, mit seiner Band Bright Eyes Liebling von Kritikern und verträumten Studentinnen, ist gerade mal 28, aber liefert auf diesem Solo-Album so abgehangenen, an den Klassikern orientierten Folkrock, als bewürbe er sich um einen Platz in der Senioren-WG von Bob Dylan und Neil Young.«
Wie bitte? »Gerade mal 28«? Ian Curtis von Joy Division war 24, als er sich das Leben nahm, Kurt Cobain 27, Bob Dylan war 21, als sein erstes Album auf den Markt kam.
Sowohl der »Wunderkind«-Mythos wie auch das abfällige Gerede vom »Rock-Opa« werden von Journalisten verbreitet, die der Vorstellung aufsitzen, es gäbe für jede Musik so etwas wie ein Idealalter. Je vitaler die Musik, desto jünger bitte das Fleisch! Es sei denn, die Künstler verstehen es, ihre vitale Musik als besonders »erdig« zu verkaufen. Vielleicht fordert deshalb niemand, dass Lemmy, der immer schon wie 60 gewirkt hat, ins Altersheim gehört.
Popgeschichte funktioniert jedoch spätestens seit Verbreitung des Internets nicht mehr als ein sich ständiges Ablösen von Generationen. Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem sorgt für ein Nebeneinander, das die reale Entstehungszeit eines Songs oder eines Albums unerheblich werden lässt und somit auch das Alter der Interpreten. Hinzu kommt, dass Kids immer häufiger durch die Plattensammlungen ihrer Eltern und Großeltern sozialisiert werden, seit dort nicht mehr Peter Alexander oder Gotthilf Fischer, sondern die Beatles, The Clash und Sonic Youth im Regal zu finden sind.
Letztgenannte sind übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass man selbst noch mit 50 ein »Youth« im Bandnamen tragen kann, ohne sich lächerlich zu machen. Das liegt vor allem daran, dass Sonic Youth nie auf Rocker-Biografien gesetzt, sondern sich von Anfang an in einem konzeptionellen Kunst-Kontext gesehen haben. Hier steht nicht der begehrte Starkörper im Mittelpunkt – auch wenn Kim Gordon und Thurston Moore bis heute viel Sex-Appeal besitzen –, sondern die Identifikation mit einer ganz bestimmten Idee von Boheme und Experiment. Anders gesagt: Sonic Youth spielten schon als 20jährige erwachsene Musik, die trotz des Bandnamens nicht an die Verheißung ewiger Jugend gekoppelt war.
Zum Problem wird Älterwerden daher nur für jene, deren primäres Kapital jugendliche Schönheit oder der Gestus jugendlicher Rebellion und Verausgabung ist. Doch der Rock-Rebell selbst ist längst ein Auslaufmodell, ein Relikt aus Zeiten, als die Popkultur noch keinen Vertrag zwischen den Generationen abgeschlossen hatte, sondern so tat, als würde die Welt am nächsten Tag mitsamt der eigenen Jugend untergehen. Wenn heute jemand wie, sagen wir, Charlie Harper von den UK Subs auf der Bühne steht und ins Mikro röhrt, als wäre noch immer 1976, dann ist das nicht wegen seines Alters peinlich, sondern weil sich dieser Rebellen-Gestus mitsamt seinen falschen Verheißungen überlebt hat. Schwere Zeiten für Rebellen also, nicht aber für alle, die wie Tina Turner »in Würde gealtert« sind.