Das liberale Programm der »Charta 08« in China

Die Störer des himmlischen Friedens

In China werden Dissidenten eingeschüchtert, die das liberale Programm »Charta 08« veröffentlichten. Die Regierung fürchtet eine wachsende soziale Protestbewegung.

Chinesische Bürgerrechtler müssen derzeit mit unerwünschtem Besuch rechnen. Die Polizei organisiert eine Einschüchterungskampagne gegen die Unterzeichner der »Charta 08«. Liu Xiaobo, ein bekannter Dissident und Veteran der Demokratiebewegung von 1989, soll sich nach Angaben der BBC seit seiner Verhaftung im Dezember an einem unbekannten Ort in Peking unter Haus­arrest befinden. Über 100 Unterzeichner wurden der Organisation China Human Rights Defender zufolge von der Polizei verhört.
Zum Jahrestag der Menschenrechtserklärung der Uno verbreiteten Dissidenten am 10. Dezember diese politische Plattform im Internet, die von 303 in China lebenden Bürgern unterzeichnet wurde. Mittlerweile sollen 7 200 Menschen die Charta unterschrieben haben. Der Name ist an die »Charta 77« angelehnt, die Bürgerrechtler 1977 in der Tschechoslowakei verbreiteten.

Im Unterschied zu den üblichen Bittbriefen, die Intellektuelle häufig an die chinesische Regierung schreiben, ist die Charta 08 ein politisches Programm mit 19 konkreten Forderungen. Die Unterzeichner fordern unter anderem eine neue Verfassung, direkte Wahlen auf allen Ebenen, Gewaltenteilung, ein Mehrparteiensystem, Organisationsfreiheit, Streikrecht, die Abschaffung der »Umerziehung durch Arbeit«, das heißt der Arbeitslager, die Umwandlung Chinas in eine föderale Republik, Entschädigung für die Opfer aller politischen Repressionskampagnen seit 1949 und ihre Familien, die Umwandlung der Volksbefreiungsarmee in eine unpolitische Truppe sowie die Privatisierung des Bodens. Nicht konkretisierte Forderungen nach einer Sozialversicherung für alle Bürger, mehr Umweltschutz und Gleichheit stehen hingegen nicht im Widerspruch zu den Absichtserklärungen der Regierung um Staats- und Parteichef Hu Jintao.
Viele Forderungen, die in der Charta stehen, dürfen in China in akademischen Nischen oder Fachzeitschriften diskutiert werden, solange die Debattierenden sich nicht an eine größere Öffentlichkeit wenden. Dass weitreichende politische Forderungen zusammengestellt und über das Internet verbreitet werden, versteht die chinesische Führung jedoch als direkten Angriff auf die Herrschaft der Partei. In der Ära Maos hätte die KPCh eine öffentliche Kritikkampagne in den Medien gestartet und dadurch die Charta im ganzen Land bekannt gemacht. Stattdessen versucht die Regierung nun, die Verbreitung des Dokuments zu verhindern. Weder über das chinesische Google noch auf der Website der offiziellen Volkszeitung sind Einträge zur Charta 08 zu finden. So bleibt den meisten Bürgern das Anliegen der Dissidenten unbekannt, und es werden keine Märtyrer geschaffen.
Vor dem Hintergrund wachsender sozialer Unruhen hat die chinesische Regierung Angst, dass sich kritische Intellektuelle mit protestierenden Bauern und Arbeitern verbünden könnten. 1989 wurde die Regierung durch eine Studenten- und Arbeiterbewegung herausgefordert. In die Charta 08 sind auch Aktivisten zur »Verteidigung der Rechte« (Weiquan) involviert. Neben Menschenrechten fordern sie auch die Einhaltung der Arbeitsschutzgesetze und der Rechte der Bauern. Allerdings ist die Charta auch wirtschaftlich ein liberales Programm. Es ist fraglich, ob sie in der gegenwärtigen Krise große Unterstützung in der Bevölkerung bekommen würde, insbesondere die vollständige Privatisierung des Bodens dürfte unpopulär sein.

Millionen von Bauern kehren derzeit nach der Schließung von Fabriken im Guangdong-Delta wieder in ihre Dörfer zurück. Obwohl sie kein Anrecht auf Sozialleistungen haben, können sie überleben, da ihre Familien das Nutzungsrecht für den Boden haben, der vom Staat zugeteilt wird. Auch wenn sich korrupte Beamte durch den Verkauf von Nutzungsrechten am staatlichen Boden immer wieder bereichern, so verfügt aufgrund dieses Systems doch die große Mehrheit der Bauern und Wanderarbeiter über eine Existenzgrundlage. Eine Privatisierung würde zu einer Konzentration des Landbesitzes führen, Millionen von Bauern würden ihre Nutzungsrechte verlieren. Diesen Verlust könnte auch die Erfüllung der Forderung der Charta 08, das Haushaltsregistersystem (Hukou) abzuschaffen, nicht aufwiegen. Durch das Hukou-System wird die bäuerliche Bevölkerung von städtischen Bildungseinrichtungen und Sozialleistungen ausgeschlossen, gleichzeitig aber garantiert es den Anspruch auf Land.
Die Autoren der Charta fordern außerdem die Stärkung des freien Marktes und kritisieren staatliche Monopole. Bislang kontrolliert die chinesische Regierung insbesondere die Finanzwirtschaft und die Wechselkurse noch mit harter Hand. Mit ihren wirtschaftsliberalen Forderungen entspricht die Charta 08 nicht gerade dem globalen Zeitgeist nach dem Ausbruch der Finanzkrise.
Weitreichende Folgen hätte auch die geforderte Einsetzung einer »Wahrheitskommission«, die eine Rehabilitierung und Entschädigung aller Opfer und ihrer Familien in die Wege leiten soll. Viele der Opfer der »Kampagne gegen die Rechten« von 1957 und der so genannten Kulturrevolution (1966–1977) wurden bereits von der Partei rehabilitiert. Die Millionen Betroffenen der Boden­reform (1949–1952) und der Kampagne zur »Ausrottung der Konterrevolution« (1951) gingen bisher leer aus, da ihre Rehabilitierung die Legitimität der chinesischen Revolution in Frage stellen könnte. Millionen von Bauern wohnen heute noch in den Häusern der ehemaligen Großgrundbesitzer.

Die Einbeziehung der Massen in den »roten Terror«, ein maoistisches Prinzip, machte überdies viele Chinesen zu Opfern und Tätern zugleich. Die Wahrheitskommission würde wahrscheinlich nicht nur die Partei in Angst und Schrecken versetzen, sondern auch viele einfache Bürger, die eine erzwungene Harmonie einer Aufarbeitung der Vergangenheit vorziehen.
Auch die Forderung nach der Umwandlung Chinas in eine föderale Republik ist brisant. Nationalisten glauben, dass China nur als starker Zentralstaat überleben kann. Die Autoren der Charta streben auf der Grundlage des Föderalismus eine friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan und eine Lösung der Nationalitätenkonflikte an. Die chinesische Regierung behält sich hingegen weiterhin das Recht auf Gewalt vor, sollte Taiwan seine Unabhängigkeit erklären.
Ein Tabu ist es in China auch, das Prinzip »Die Partei kommandiert die Gewehre« in Frage zu stellen. Die Forderung nach der Umwandlung der Volksbefreiungsarmee in eine unpolitische Truppe dürfte der chinesischen Regierung besonders missfallen. Um die noch immer einflussreiche Armee unter Kontrolle zu halten, betont die Partei weiterhin den politischen Charakter des Militärs.
Die staatliche Repressionskampagne ist auch mit der Nervosität der Führung zu erklären. Die Folgen der globalen Finanzkrise könnten zu größeren Unruhen führen, überdies steht in diesem Jahr eine Reihe heikler Jubiläen bevor: 60 Jahre Gründung der Volksrepublik China, 50 Jahre Aufstand in Tibet und 20 Jahre Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Bislang allerdings hat die KPCh jede Krise überstanden.