Vorabdruck aus dem Roman „Im Winter der Löwen“

Eine andere Stille

Wie der finnische Kommissar und Witwer Kimmo Joentaa einmal eine sonderbare Begegnung mit einer jungen Frau hatte.

Kimmo Joentaa hatte vorgehabt, den Weihnachtsabend allein zu verbringen, aber es kam anders. Er hatte sich frühzeitig für den 24. Dezember, wie in den Jahren zuvor, zum Dienst eingetragen und verbrachte den Tag im stillen, ausgestorben wirkenden ­Polizeigebäude.
Sundström weilte im Ski-Urlaub, Grönholm in Erfüllung eines lange gehegten Traumes in der Karibik, und Tuomas Heinonen ging gegen Nachmittag, um den Weihnachtsbaum zu schmücken und für die Familie die Kluft des Weihnachtsmannes überzustreifen. Er würde erreichbar sein im Falle eines Einsatzes, aber es gab keinen.
Joentaa erledigte Schreibarbeiten, die auch hätten warten können. Im Radio lief weihnachtliche Musik. Violine, Klavier und die klaren hohen Stimmen eines Kinderchores. Anschließend klärte ihn ein Philosoph und Theologe in sach­lichem Ton darüber auf, dass Jesus Christus im Sommer geboren worden war. Joentaa hielt kurz inne und versuchte, sich auf die Stimme im Radio zu konzentrieren, aber es lief schon wieder Musik, eine Art Weihnachts-Rap. Er runzelte die Stirn und wendete sich wieder dem Blatt Papier zu, das vor ihm lag.
Am frühen Abend schlenderte er durch die weite Halle in die Cafeteria, die im Dunkel lag. Licht spendete nur der rot und golden geschmückte Baum, der neben dem Getränke­auto­maten stand.
Jenseits der Scheiben schneite es. Joentaa setzte sich an einen der Tische. In einer Schale lagen Kekse. Sterne aus Teig. Joentaa nahm sich einen, schmeckte den Ahornsirup auf der Zunge, roch den Duft der Tannennadeln und sah im Eingangsbereich neben dem Empfang eine Frau stehen, die ihm merkwürdig erschien. Sie stand reglos. Joentaa wartete eine Weile, aber die Frau rührte sich nicht und schien sich nicht darüber zu wundern, dass der Empfang nicht besetzt war. Ebenso wenig störte sie sich daran, dass die uniformierten Polizisten, die ab und zu vorübereilten, nicht auf die Idee kamen, sie nach ihrem Anliegen zu fragen.
Die Frau betrachtete den Schneefall hinter dem Glas. Sie war klein und schmal, etwa Mitte zwanzig. Sie hatte lange, strohblonde Haare und kaute an einem Kaugummi. Sie stand unvermindert reglos, während Joentaa auf sie zuging, und auch, als er vor ihr stand und ihren Blick suchte.
»Entschuldigung?« sagte er.
Die junge Frau wandte sich von den Fenstern ab. Ihre Wangen waren gerötet und geschwollen.
»Kann ich … alles in Ordnung?« fragte Joentaa.
»Vergewaltigung«, sagte die Frau.
»Das … «
»Ich bin vergewaltigt worden und möchte das zur Anzeige bringen, du Idiot.«
»Entschuldigung. Kann ich … lassen Sie uns erst mal in mein Büro gehen … «
»Ari Pekka Sorajärvi«, sagte die Frau.
»Lassen Sie uns … «
»So heißt der Mann, den ich anzeigen ­möchte.«
»Kommen Sie«, sagte Joentaa und versuchte voranzugehen, aber die Frau rührte sich nicht.
Ihre Stimme klang sanft, als sie sagte: »Ich würde gerne bald nach Hause gehen. Können Sie nicht alles hier notieren?«
»Nein … das geht leider nicht … eigentlich müssten das ohnehin Kollegen von mir machen … ich könnte Ihre Aussage aufnehmen und dann weiterleiten, aber ich muss sie in jedem Fall in den Computer eingeben.«
Sie schien kurz zu zögern, dann folgte sie ihm zum Aufzug.
Im dritten Stock brannte schwaches Neonlicht. Aus einem Büro drang meckerndes Lachen.
»Gruselig hier«, sagte sie.
»Einige Lampen sind kaputt, sonst ist es heller«, sagte Joentaa.
»So, so«, sagte die Frau und schien zu lächeln. Joentaa war sich nicht sicher.
»Waren Sie … im Krankenhaus?« fragte ­Joentaa.
»Im Krankenhaus?«
»Ja … «, sagte Joentaa.
»Halb so wild«, sagte sie.
»Ich … könnte Sie später hinfahren«, sagte Joentaa. »Es ist … möglicherweise könnten auch noch … Spuren sichergestellt werden, die in einem späteren Verfahren wichtig … «
»Sie sollen einfach den Scheiß in den Computer tippen, und dann gehe ich nach Hause.«
»Entschuldigung.«
»Sie müssen sich nicht für alles und jedes entschuldigen.«
Joentaa nickte und führte sie in sein Büro. Der Computerbildschirm flimmerte. Die rote Kirche von Lenganiemi, hinter der Sanna begraben lag.
Hinter den Fenstern war die Welt dunkel und weiß. Die Frau sah ihn abwartend an.
»Entschuldigung. Setzen Sie sich doch«, sagte Joen­taa.
»Könnten Sie bitte aufhören, sich für alles und jedes zu entschuldigen?«
Joentaa versuchte, sich auf den Bildschirm und die Tastatur zu konzentrieren. Er suchte eine Weile und fand schließlich das Programm mit dem entsprechenden Formular. Name, Anschrift, Geburtsdatum.
»Wie ist Ihr Name?« begann er.
»Wie bitte?«
»Ihr Name … ich benötige ihn für … «
»Was für eine Bedeutung hat denn hier mein Name? Ich bin von Ari Pekka Sorajärvi vergewaltigt worden und möchte das anzeigen.«
»Aber … «
Die Frau begann unvermittelt, schrill und gedehnt zu schreien. Joentaa sah sie an. Sie saß scheinbar reglos und entspannt, und abgesehen von ihrem leicht geöffneten Mund deutete nichts darauf hin, dass sie es war, die den Schrei ausstieß. Einen tauben, schrillen Schrei.
Der Schrei hallte nach, und ein Kollege stürzte ins Zimmer.
»Alles in Ordnung hier?« fragte er.
»Ja, kein Problem«, sagte Kimmo Joentaa.
»Na, dann«, sagte der Kollege. Er zögerte noch kurz, dann wünschte er gutes Gelingen und schloss die Tür.
Joentaa betrachtete die Frau, die ihm gegen­über saß und lächelte. Joentaa klang noch der Schrei in den Ohren.
»Henrikinkatu 28«, sagte die Frau sachlich.
»Das ist … «
»Das ist die Adresse von Ari Pekka Sorajärvi.«
»Ist dieser … «
»Ari Pekka Sorajärvi.«
»Ja … ist … oder war … er Ihr Freund?«
»Mein was?«
»Sind Sie … liiert oder verheiratet mit Ari Pekka Sorajärvi?«
Die Frau starrte ihn an.
»Nein, bin ich nicht«, sagte sie schließlich.
»Woher … «
»Ari Pekka Sorajärvi ist ein Kunde«, sagte sie.
Joentaa schwieg.
»Kunde. Sex für Geld. Schon mal gehört?«
»Er ist also … «
»Mein bester Kunde, wenn Sie es genau wissen möchten. Wollte immer ein bisschen mehr als die anderen, aber er hat auch ordentlich gezahlt.«
»Ich verstehe«, sagte Joentaa.
»Wie schön, dass Sie das verstehen«, sagte sie.
»Aber … wieso kennen Sie seinen Namen … ist es nicht üblich, in diesen Kreisen … anonym zu … «
Die Frau lachte. Lachte ihn aus. Lachte so laut, dass sicher gleich wieder der besorgte Kollege in der Tür stehen würde.
»Sie sind verklemmt«, sagte sie, ein neuer Ton in ihrer Stimme, eine veränderte Wahl der Worte. »Sie müssen lernen, Ihre Sexualität anzuerkennen und auszu­leben. Am besten, Sie fangen mit einem Film an. Einem pornografischen Film. Glauben Sie mir, das hilft. Möglicherweise liegt die Sache allerdings anders: Sie müssen daran arbeiten, Ihren Konsum pornografischer Filme drastisch zu reduzieren.« Sie hielt inne, fokussierte ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen und schien nachzudenken. »Eins von beiden, entweder oder«, sagte sie schließlich.
Einige Sekunden vergingen.
»Da könnte was dran sein«, sagte Kimmo ­Joentaa.
Jetzt lächelte die Frau, abrupt und zum ersten Mal freundlich. Joentaa erwiderte das Lächeln.
Sie lächelten einander an oder aneinander vorbei.
Joentaa wusste es nicht.
»Und falls Sie sich darüber wundern, dass ich Ari Pekka Sorajärvis Namen kenne und seine Adresse.« Sie warf etwas auf den schneeweißen Tisch, der zwischen ihnen stand. »Das liegt ­daran, dass ich vorhin seinen Führerschein an mich genommen habe, während er seine gebrochene Nase verarztet hat.«

Ari Pekka Sorajärvi blieb von einer Anzeige verschont. Als Kimmo ­Joentaa sie ein weiteres Mal über den formalen Ablauf aufzuklären versuchte, stand die Frau auf, nicht hastig, sondern eher gedankenverloren, und verabschiedete sich. Sie ging, langsam, aber bestimmt, und schloss die Tür nahezu lautlos.
Joentaa blieb noch eine Weile sitzen und betrachtete das leere Formular, das auf dem Bildschirm flimmerte. Name, Anschrift, Geburtsdatum.
Dann erhob er sich, ging durch den schwach beleuchteten Flur hinunter und durch das Schneetreiben zu seinem Wagen.
Er fuhr nach Lenganiemi. Während die Fähre übersetzte, stand er im eiskalten Wind an der Reling. Er fühlte eine vage Erleichterung darüber, dass der Fährführer missmutig wie immer in seinem Kabäuschen saß, trotz der Lichterkette, die am Fenster klebte.
Er fuhr den Waldweg entlang, der nicht zu enden schien, bis plötzlich wie aus dem Nichts die Kirche in den Himmel ragte. Das Meer rauschte leise, und Schatten glitten vorüber, als er den Friedhof betrat. Joentaa hörte sie gedämpft miteinander sprechen. Die Köpfe ­gesenkt, konzentriert auf die Gräber ihrer Angehörigen, die im Dunkel lagen, aber jeder wusste, wo er suchen musste. Zwei der Schatten murmelten einen Gruß, und Joentaa grüßte zurück, als ihre Wege sich kreuzten.
Er stand eine Weile vor Sannas Grab, ohne etwas Bestimmtes zu denken. Dann nahm er das Kerzenlicht aus seinem Rucksack, zündete es an und stellte es behutsam ins Zentrum der Grabfläche. Er starrte auf das Licht, bis es vor seinen Augen zu verschwimmen begann, dann riss er sich los und ging. Aus der Kirche drangen Gesang und die monotonen, lang gezogenen Akkorde der Orgel.
Der Gesichtsausdruck des Fährführers blieb während der Rückfahrt unverändert, und Kimmo Joentaa fuhr nach Hause.

Pasi und Liisa Laaksonen, seine Nachbarn, winkten ihm zu und riefen einen Weihnachtsgruß, als Kimmo Joentaa aus dem Wagen stieg. Jeder der beiden hielt eine Hand von Marja, ihrer Enkeltochter, die laut lachte, weil sie von Paasi und Liisa durch die Luft gewirbelt wurde.
Kimmo Joentaa erwiderte den Gruß und beeilte sich, ins Haus zu kommen. Er stand eine Weile im Flur in der Stille und wartete, bis der Schnee in Wasser überging und in seinen Nacken lief. Dann zog er die Jacke, die Mütze und den Schal aus und ging von Raum zu Raum, um alle Lichter im Haus anzuschalten.
Später stand er im Wohnzimmer, betrachtete den zugefrorenen See hinter der Fensterscheibe und dachte an Kari Niemi, den Leiter der Spurensicherung, der ihn gefragt hatte, ob er mit ihm und seiner Familie Weihnachten feiern wolle. Er hatte sich sehr über die Einladung gefreut und abgelehnt. Nächstes Jahr vielleicht. Dasselbe hatte er gesagt, als seine Mutter Anita gefragt hatte, ob er die Feiertage mit ihr in Kitee verbringen wolle. Und auch das alljährliche Angebot von Merja und Jussi Sihvonen, Sannas Eltern, hatte er ausgeschlagen mit der Begründung, er habe über Weihnachten leider alle Hände voll zu tun und komme kaum zum Atemholen.
Er würde Merja und Jussi besuchen, morgen. Sie würden schweigen und irgendwann über Sanna sprechen. Jeder auf seine Weise. Erinnerungen austauschen. Erinnerungen, die eine Weile über ihren Köpfen schweben würden. Schwerelos. Schwer greifbar. Die Wochen nach der Krebsdiagnose, die letzten Tage im Krankenhaus, würden nicht zur Sprache kommen. Das Klingen von Tassen und Merja, die selbst gebackene Plätzchen anbietet. In einem leeren Haus.
Morgen. Und morgen würde er auch seine Mutter anrufen.
Er ging in die Küche und fühlte sich auf angenehme Weise albern, während er die noch ungeöffnete Wodkaflasche aus dem Kühlschrank nahm und sich an den Küchentisch setzte. Er dachte an Sanna, die selten getrunken hatte, aber wenn, dann kompromisslos. Eine Eigenschaft, die er gemocht hatte und seit ihrem Tod weiter pflegte. Selten, aber wenn, dann ohne Kompromisse.
Heute war so ein Tag. Vielleicht. Er war sich nicht sicher. Er spielte mit dem Gedanken, ein Glas Milch zu trinken und sich ins Bett zu legen.
Er dachte noch über die verschiedenen verlockenden Möglichkeiten nach, als es klingelte.
Pasi, dachte er. Pasi Laaksonen, der ihn fragen würde, ob er nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihnen und ihren Kindern und Enkelkindern im Nachbarhaus Weihnachten zu feiern.
Oder Anita. Seine Mutter war in den Zug gestiegen und losgefahren, um ihn zu besuchen, obwohl er sie sehr gebeten hatte, das nicht zu tun.
Er öffnete die Tür und sah in das Gesicht der Frau, die Ari Pekka Sorajärvi die Nase gebrochen hatte und deren Namen er nicht kannte. Die Frau sah aus wie ein Schneemann, da sie einen schneeweißen Mantel sowie eine schneeweiße Mütze trug und beides von Schnee bedeckt war.
Die Frau schwieg. Ein stilles Lächeln schien auf ihren Lippen zu liegen, aber er konnte sich täuschen.
»Äh … hallo«, sagte er.
»Hallo«, sagte sie und trat an ihm vorbei in den Flur.
»Ich … woher … «
»Kimmo Joentaa. Steht auf dem Schild neben Ihrer Bürotür. Und auf einem Brief, der auf Ihrem Schreibtisch liegt. Es gibt nur einen Kimmo Joentaa in Turku. Seltener Name. Sanna und Kimmo Joentaa, steht im ­Telefonbuch. Ist Ihre Frau da?«
»N … nein.«
Sie nickte, als habe sie das erwartet, und ging Richtung Wohnzimmer.
»Was … was wollen Sie denn?« fragte Joentaa.
Sie drehte sich um und sah ihn eine Weile an.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Nichts wahrschein­lich. Haben Sie was zu trinken?«
»Äh, sicher … Milch … Milch oder Wodka?«
Die Frau schien von der Auswahl unbeeindruckt.
»Beides«, sagte sie und ging zielstrebig ins Wohnzimmer.
»Äh … «, sagte Joentaa. Er ging in die Küche und füllte ein Glas mit Milch und ein zweites mit Wodka.
Die Frau saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und betrachtete den See hinter der Fensterwand.
»Schöne Aussicht«, sagte sie.
Joentaa stellte die Gläser ab. »Kann ich … Ihnen helfen? Geht es nochmal um die Anzeige, die Sie … «
Die Frau lachte. Lachte ihn schon wieder aus. Der letzte Mensch, der über ihn so regelmäßig und herzhaft hatte lachen können, war Sanna gewesen.
»Nein«, sagte die Frau. »Nein, es geht nicht um die Anzeige. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie der Mann überhaupt heißt.«
»Ari Pekka Sorajärvi«, sagte Joentaa mechanisch, und die Frau lachte wieder. Noch lauter. Das Lachen mündete in ein Schreien. Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen.
»Entschuldigung … «, sagte Joentaa, und die Frau lachte und lachte, als führe er gerade den lustigsten Sketch auf, den sie je gesehen hatte. Ihr schmaler Körper wurde von einem Krampf nach dem anderen geschüttelt.
Kimmo Joentaa ging in die Küche, trank vier gut mit Schnaps gefüllte Gläser hintereinander und fühlte sich schon etwas besser, als er zu der lachenden Frau zurückkehrte, die auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer saß. Er setzte sich in den alten Sessel, der neben dem Sofa stand.
»Ich möchte Sie etwas fragen, etwas Wichtiges«, sagte er und hatte gegen jede Logik den Eindruck, bereits ein wenig zu lallen. »Hat dieser … hat dieser Sorajärvi … Ihnen … wehgetan?«
Die Frau lachte wieder, dieses Mal aber nur kurz: »So wie Sie müssen Rentner im 19. Jahrhundert gesprochen haben.«
»Entschuldigung … «
»Hören Sie endlich auf, sich zu entschuldigen, verdammt!«
»Was ich sagen will … ich finde, dass Sie den Mann anzeigen sollten, was Sie ja auch vor­hatten. Und ich möchte Sie besser verstehen können, ich verstehe Sie einfach noch nicht.«
»Ari Pekka Sorajärvi hat mich ein wenig härter angefasst als vereinbart«, sagte sie. »Im Gegenzug habe ich ihm die Nase gebrochen. Verstanden?«
Joentaa dachte kurz darüber nach. »Gut«, sagte er dann, und die Frau begann wieder zu lachen.
»Gut, genau.«
»Entschuldigung, ich wollte damit sagen, dass ich die Situation jetzt vielleicht schon ein wenig besser verstehe.«
»Wenn Sie sich noch ein Mal grundlos entschuldigen, breche ich heute noch eine Nase.«
»Ich kann Ihnen nur helfen, wenn ich begreife, was passiert ist«, sagte Joentaa.
Die Frau sah ihn lange an. »Wer sagt, dass Sie mir helfen sollen?«
»Ich dachte … «
»Sie sind ein Spinner und wissen es gar nicht«, sagte sie.
»Ich denke schon, dass ich … «
»Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht«, sagte sie.
Joentaa wartete.
»Irgendwas stimmt mit Ihnen ganz und gar nicht«, sagte die Frau.
Joentaa wartete.
»Irgendwas stimmt nicht, und ich habe große Lust herauszufinden, was das ist«, sagte sie.
Dann stand sie auf und umarmte ihn. Der alte Sessel quietschte. Er spürte ihre Haut an seiner Wange, ihre Zunge in seinem Mund, und ein Schrei füllte sein Hirn aus.

Kimmo Joentaa lag wach. Hinter den Fenstern verschmolzen der Schnee und die Nacht. Er richtete sich auf, vorsichtig, um die Frau, die neben ihm lag, nicht zu wecken. Er sah einige Minuten auf sie hinab. Hörte sie leise und regelmäßig atmen.
Dann ließ er den Kopf wieder auf das Sofakissen sinken und spürte, wie die Frau, deren Namen er nicht kannte, ihre Hand in seinen Arm krallte. Sie stöhnte leise, wie unter Schmerzen. Vermutlich träumte sie. Er dachte darüber nach, ob er sie wecken und von dem Traum befreien sollte, aber sie kam nach einer Weile zur Ruhe, atmete wieder regelmäßig, und Joentaa schloss die Augen und dachte zum ersten Mal seit langem an die letzte Nacht im Krankenhaus.
An die letzten Stunden, die in letzte Minuten übergegangen waren und in letzte Sekunden. Auch Sanna hatte geschlafen. Auch Sanna hatte ruhig und regelmäßig geatmet. Ruhig und regelmäßig und kaum merklich. Dann hatte der Atem ausgesetzt.
Er hatte darauf gewartet. Hatte, gemeinsam mit Sanna, auf diesen Moment gewartet, weil er gewusst hatte, dass der Moment der wichtigste in seinem Leben sein würde. Der Moment, der nicht endete.
Als er das Klopfen an der Tür hörte, glaubte er zunächst, sich zu irren. Als sich das Klopfen wiederholte, ein wenig lauter, drängender, richtete er sich auf und sah auf die grün leuchtenden Ziffern auf dem DVD-Gerät. Bald zwei Uhr. Das konnte nicht Pasi Laaksonen aus dem Nachbarhaus sein. Und nicht seine Mutter, weil die Züge aus Kitee nicht mitten in der Nacht ankamen. Und nicht die Frau, die Ari Pekka Sorajärvi die Nase ge­brochen hatte, denn sie lag bereits neben ihm.
Er hörte wieder das Klopfen, ein wenig leiser, zaghafter. Er stand auf und zog sich T-Shirt und Hose an. Er nahm die Sofadecke, die halb auf dem Boden lag, und deckte die Frau zu, die fest zu schlafen schien.
Dann ging er auf schwachen Beinen zur Tür. Sein Rücken schmerzte. Er öffnete und spürte die klare Kälte auf der Haut. Niemand war da, aber unter dem in Weiß gehüllten Apfelbaum stand ein Mann, der gerade in seinen Wagen steigen wollte.
»Hallo?« sagte Joentaa.
Der Mann hielt inne und schien kurz zu zögern.
»Kimmo. Entschuldige. Ich dachte … ich habe nicht klingeln wollen, nur geklopft, weil ich dachte, dass du vielleicht schläfst.«
Der Mann kam auf ihn zu. Es war … der Weihnachtsmann.
»Tuomas … «, sagte Joentaa.
»Ich … will nicht stören.«
Tuomas Heinonen. Er konnte sich nicht erinnern, dass Tuomas Heinonen jemals bei ihm gewesen war. ­Tuomas Heinonen im Kostüm des Weihnachtsmanns.
»Was … komm doch rein«, sagte Joentaa.
»Ja … danke.«
Tuomas Heinonen stand gekrümmt und verfroren im Flur und schien nach Worten zu suchen.
»Magst du … etwas Warmes trinken? Du siehst aus, als würdest du frieren«, sagte Joentaa und lächelte, aber Tuomas Heinonen hörte wohl gar nicht, was er sagte.
»Bei mir gab es ein paar Probleme. Ich … wir hatten … eine missglückte Bescherung … sozusagen … ich habe dann … ich habe dann an dich gedacht … schön, dass du noch wach warst … oder hattest du schon geschlafen?«
»Komm, wir setzen uns jetzt hin und trinken erst mal was«, sagte Joentaa und ging in die Küche.
Tuomas Heinonen folgte. Er setzte sich und betrachtete gedankenverloren die Wodka­flasche und die Milchtüte, die auf dem Tisch standen.
»Das Problem ist, dass ich an allem schuld bin. Das ist das Schlimmste«, sagte Heinonen.
»Was ist denn passiert?« fragte Joentaa.
Heinonen sah ihn gequält an und zögerte.
»Vielleicht ist bei uns alles aus«, sagte er schließlich und lehnte sich zurück, als sei alles gesagt und geklärt.
Joentaa setzte sich ihm gegenüber und war­tete.
»Wenn du … «, begann er, aber Heinonen unterbrach ihn. Er sprach jetzt hektisch. »Es ist so, ich würde gerne mit dir darüber reden, aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Es ist … es sind ja … es ist schwierig.«
»Du musst nicht … «
»Es ist so, Kimmo, die Zwillinge, die waren zu viel für mich.«
Wieder sackte Heinonen in sich zusammen, als sei alles gesagt.
»Die Zwillinge … «, sagte Joentaa.
»Ja, du weißt doch, dass wir Zwillinge haben, Tarja und Vanessa … «
Joentaa nickte.
»Das sind natürlich … tolle … tolle Mädchen … entschuldige … das ist sicher alles Quatsch, was ich hier erzähle … entschuldige bitte … «
Wenn du dich noch einmal grundlos entschuldigst, dachte Joentaa vage.
»Es war zu viel für mich, ich wollte das nicht«, sagte Tuomas Heinonen. »Ich wollte das nicht, ich habe überhaupt keine Kinder gewollt. Ich liebe sie natürlich, aber ich habe sie nicht gewollt. Verstehst du?«
»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte Joentaa und sah Bilder vor Augen. Die Taufe der Zwillinge. Joentaa war dort gewesen und hatte sich fehl am Platz gefühlt, weil er außer einigen Kollegen niemand gekannt hatte. Hei­nonen, der die beiden kleinen Mädchen unter den Armen trug wie Rugbykugeln und lachend rannte.
»Es ist mir alles zu viel. Wir haben keine Zeit mehr. Es passiert nichts mehr, nur noch die Kinder.«
Joentaa nickte.
»Das Problem ist … folgendes … «, sagte Hei­nonen. »Ich … ich habe eine Art … Ausgleich gesucht.«
Joentaa wartete.
»Ich … ich habe gespielt.«
»Gespielt?«
»Geld verspielt. Sehr viel. Fast alles, was wir zurückgelegt hatten.«
Joentaa nickte und suchte nach Worten.
»Internetwetten«, sagte Heinonen. »Sportwetten. Virtuelles Pokern. Aber das Geld ist ganz real. Wenn man will. Wenn man … ich habe da eine Kontrolle verloren, da ist was aufgebrochen. Paulina hat es raus­bekommen, ich weiß nicht, wie. Aber heute Abend fing sie plötz­lich damit an.«
Joentaa nickte.
Heinonen starrte den Tisch an, dann den Ärmel seiner Jacke. »Äh … entschuldige, ich stelle gerade fest, dass ich das dämliche Kostüm noch anhabe«, sagte er entgeistert.
»Macht nichts«, sagte Joentaa.
»Äh … « Heinonen begann zu kichern. »Kimmo, wie machst du das … dieses … wie schaffst du das, selbst in den abwegigsten Situationen keine Miene zu verziehen?«
»Es war ja offensichtlich, dass du traurig bist.«
»Ja«, sagte Tuomas Heinonen. Er schien nachzudenken. »Was ich dich fragen möchte, Kimmo, entschul­dige, dass ich dich jetzt damit behellige, überhaupt bitte ich dich, meinen ganzen Auftritt hier zu entschuldigen … «
»Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Wie … hast du das gemacht … in den vergangenen Jahren … seit dem Tod deiner Frau … dass du Jahre lang so leben konntest … so … allein … ich habe oft über dich nachgedacht, und, das klingt sicher komisch, aber ich bewundere dich fast für diese … diese eigene Welt, in der du lebst, diese Ruhe, die du … ausstrahlst … «
Joentaa fragte sich, worauf Tuomas hinaus wollte, und er sah in die Augen der Frau, die er nicht kannte. Verschlafen und nackt stand sie im Türrahmen.
»Worüber redet ihr denn die ganze Zeit?« fragte sie.
Heinonen drehte sich um.
Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Kimmo: »Tuomas, darf ich dir … das ist … «
»Namen spielen keine Rolle, aber du kannst mich Larissa nennen«, sagte die Frau.
Larissa, dachte Joentaa.
»So nennen mich die anderen auch«, sagte sie.
Eine lange Pause trat ein.
Heinonen starrte die Frau im Türrahmen an, und die Frau im Türrahmen schien sich weder von der Stille noch von Heinonens Blicken gestört zu fühlen.
Larissa, dachte Joentaa und fühlte sich leicht.
»Ich … ich denke, ich werde dann mal … «, begann Tuomas Heinonen und brach ab, und Kimmo Joentaa konzentrierte sich auf die Stille.
Eine leichte, eine andere Stille. Eine neue Stille.
Namen spielen keine Rolle, dachte er.
»Ich will euch beide wirklich nicht … ich wusste ja nicht, dass … ihr … Paulina wartet sicher schon … und die Zwillinge … «
»Lasst uns schlafen gehen«, sagte Joentaa.

Tuomas Heinonen schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Frau, deren Namen er nicht kannte, schlief neben ihm im Bett im Schlafzimmer, und Kimmo Joentaa lag wach. Er konzentrierte sich wieder auf das leise, regelmäßige Atmen der Frau und auf die Stille dahinter. Draußen begann ein klarer Morgen zu dämmern.
Er fühlte sich noch immer leicht. Müde und leicht und durstig. Er ging auf Zehenspitzen, um seine Besucher nicht zu wecken. Tuomas Heinonen lag breit ausgestreckt auf dem Sofa. Dem Anblick nach zu urteilen, schlief er gut. Auf dem Tisch in der Küche standen die Flasche und die Milchtüte.
Joentaa trank ein Glas Wasser und sah dem Morgen dabei zu, wie er blauer und heller und weißer und sonniger wurde, bis er wie das perfekte Abbild einer Postkarte das Fensterviereck ausfüllte. Er dachte an die Stille und hörte nahezu gleichzeitig das Klingeln des Telefons und einen dumpfen Aufprall. »Scheiße … was … was ist denn«, murmelte Heinonen, der am Boden lag.
»Alles klar?«, fragte Joentaa.
»Ich bin aus dem Bett gefallen … vom Sofa gefallen«, sagte Heinonen, während Joentaa nach dem Telefon suchte. Er fand es nicht. Heinonen richtete sich auf und fragte abwesend, ob er helfen könne.
»Irgendwo hier müsste es liegen«, sagte Joen­taa.
»Das sind diese Schnurlos-Dinger … ich finde das auch nie … und dann hat man die Zwillinge im Arm und soll mit der dritten Hand das Telefon finden … «, sagte Heinonen verschlafen.
Das Telefon verstummte, wenige Sekunden später drang aus dem Flur der Klingelton des Handys. Joentaa ging und nahm es aus seiner Manteltasche.
»Joentaa.«
»Kimmo, hier ist Paavo. Weihnachten ist vorbei. Bin vorzeitig aus dem Urlaub zurückgekehrt. Der Tatort ist im Wald. Den Eerikinkatu stadt­auswärts bis zum Ende durchfahren, dann links abbiegen, eine ganze Weile nach oben, auf die Anhöhe, dann den Waldweg entlanggehen, bis man ankommt.«
»Gut … ich … «
»Alles verstanden so weit?«
»Ja, sicher … sind Laukkanen oder dessen Kollegen schon informiert?«
»Laukkanen ist schon da. Er ist das Opfer.«
»Gut. Ich mache mich gleich … «
»Bist du schon wach? Laukkanen ist das ­Opfer.«
»Laukkanen … «
»Gerichtsmediziner Laukkanen liegt im Wald. Er trägt Langlaufski und ist tot«, sagte Paavo Sundström.
Joentaa schwieg.
Stille ist leicht, dachte er.
»Was ist denn?« fragte Heinonen in seinem Rücken.
»Rufst du Heinonen an? Ich informiere Petri Grönholm, der müsste meines Wissens gestern aus der Karibik zurückgekehrt sein«, sagte Sundström.
»Ja … ich … «
»Kimmo, komm in die Gänge, bitte!« sagte Sundström und unterbrach die Verbindung.
»Was ist denn?« fragte Heinonen wieder.
»Laukkanen … «, sagte Joentaa.
»Ja?«
»Paavo Sundström sagt, er sei tot«, sagte ­Joentaa.
»Aha.« Heinonen sah ihn an wie ein Fragezeichen.
»Paavo ist schon dort und meinte, Laukkanen sei das Opfer.«
»Das ist doch Schwachsinn«, sagte Heinonen.
»Lass uns hinfahren«, sagte Joentaa.
»Der will uns doch verarschen, diese Witze werden immer bescheuerter«, sagte Heinonen.
»Lass uns hinfahren«, sagte Joentaa noch einmal.
Heinonen nickte. »Natürlich. Aber irgendwas stimmt da nicht. Das ist doch Schwachsinn«, sagte er und griff nach seinen Kleidern, die über dem Sessel hingen. »Oh, ich … ich fürchte, du müsstest mir was leihen, ich hatte ja das Kostüm an … «
»Moment.« Joentaa ging ins Schlafzimmer und zog sich eine Hose und einen Pullover über. Die Frau hatte die Decke um sich geschlungen und schlief fest. Er sah sie eine Weile an. Dann nahm er ein Hemd und eine Hose für Tuomas Heinonen aus dem Schrank, schob vorsichtig die Tür zu und ging zurück ins Wohnzimmer. Heinonen streifte sich innerhalb von Sekunden die Kleider über.
»Gehen wir?« fragte er.
»Moment noch.«
Joentaa holte einen Zettel und einen Stift und stand unschlüssig da.
»Äh … Kimmo?« sagte Heinonen.
»Entschuldige«, sagte Joentaa und schrieb: ­Liebe Larissa, ich musste zu einem Einsatz. Hoffe, dass du gut geschlafen hast. Wäre schön, wenn du noch hier bist, wenn ich nach Hause komme. ­Kimmo.
Er legte den Zettel und den Zweitschlüssel fürs Haus gut sichtbar auf den Wohnzimmertisch. Der Wintertag war gelb und blau und verursachte ein Stechen hinter den Augen.
Heinonen rief seine Frau an, während sie fuhren, und Kimmo Joentaa dachte an ein leeres Haus, am Abend, wenn er zurückkehren würde. Und daran, dass er ihre Adresse nicht kannte und auch nicht ihr Geburtsdatum. Er wusste nur, dass sie nicht Larissa hieß.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Jan Costin Wagner: Im Winter der Löwen. Verlag Eichborn ­Berlin, 2009. 288 Seiten, 17,95 Euro. Der Roman erscheint Anfang Februar.