Die Fortschritte der Präimplantationsdiagnostik

Geisterjagd in der Petrischale

Die Präimplantationsdiagnostik macht Fortschritte. Potentiell wird es zur Verpflichtung für das Indiduum, die Gesellschaft nicht durch ein krankes Kind zu belasten.

Niemand will bewusst ein krankes Kind zur Welt bringen. Das hat bisher die Geburt von Kindern für die direkt Beteiligten immer zu einem mehr oder weniger von Befürchtungen begleiteten Akt werden lassen. Nicht wenige Begleiter und Be­gleiterinnen einer Gebärenden erzählen, dass der erste prüfende Blick während der Geburt nicht dem ganzen Kind galt, sondern den Fingern des Neugeborenen. Rasend wurden sie gezählt, und waren es fünf, setzte die erste entspannte Freude ein.
Das wird wahrscheinlich bei vielen immer noch so sein, erscheint aber trotz der Entwicklung zu einer hochtechnologischen klinischen Geburtenbegleitung fast wie eine Erzählung aus der Steinzeit. Wer sich erst im Augenblick der Geburt der Gesundheit des Kindes vergewissert, könnte bald als verantwortungsloser Abenteurer dastehen, der selber schuld ist, wenn etwas schief läuft und das Kind nicht der Gesundheitsnorm entspricht.
Die Praxis der molekulardiagnostischen Untersuchung ist eine Woche vor Barack Obamas Amtseinführung in ein Stadium getreten, das jede Kritik an der Macht der Gene mit Fakten konfrontiert, hinter die zurückzugehen schwer, vielleicht auch gar nicht mehr möglich sein wird. Zu dieser Zeit wurde nämlich in Großbritannien das erste Kind geboren, das vor der Schwangerschaft auf bestimmte Gensequenzen getestet wur­de, die in einem Zusammenhang mit einer bestimmten Form von Brustkrebs gebracht worden sind. Obama trieb diese Entwicklung umgehend weiter, kurz nach seiner Vereidigung zum neuen Präsidenten wurde der kalifornischen Gentech-Firma Geron die erste offizielle Genehmigung erteilt, die Wirkung embryonaler Stammzellen in der Behandlung menschlicher Patienten klinisch zu testen. George W. Bush hatte in seiner Amtszeit Genehmigungen für solche Behandlungsversuche stets abgelehnt.
Die Patienten mit schweren Rückenmarksleiden in der US-Studie sind keine Babys mehr, aber die Stammzellen sind aus so genannten Präembryonen gewonnen worden. Solche Präembryonen können Mediziner und Forscher unter anderem bei Prozeduren gewinnen, wie sie vor der Implan­tierung des britischen Babys angewendet wurden. Der kleine Zusatz »Prä« hat große Bedeutung, es handelt sich um eine bewusste Begriffswahl, mit der auch das Londoner University College die Botschaft von der Geburt des Kindes in seiner Pressemitteilung annoncierte. Die Wortwahl des University College macht es unmöglich, den Prozess der Eliminierung der vermeintlich schäd­lichen Gensequenz rein medizinisch oder technisch zu betrachten. Man kommt um philologische Beurteilung nicht herum.

Das kleine Baby wird nämlich im Erwachsenenalter nicht dem »Gespenst« (specter) der Ausbildung des Brustkrebses ins Auge blicken müssen, teilte das College mit. Nun zeichnet Gespenster aber normalerweise aus, dass man sie nicht sieht und ihnen also auch nicht in die Augen blicken kann. Mit diesem Widerspruch muss man aber le­ben, wenn man dem Londoner Fall folgen will, aussteigen kann man aus der Logik des Vorgangs nur, indem man ihn überhaupt verwirft. Womit man aber nichts anderes tut, als vor den Tatsachen zu fliehen, und die bergen so viele Ungeheuerlichkeiten wie kein anderer bisher bekannt gewor­dener Fall von künstlicher Befruchtung und so genannter pränataler Diagnostik. Es ist nicht die kleinste Ungeheuerlichkeit, dass der ganze Prozess freiwillig und auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern eingeleitet worden ist. Die Eltern sind jetzt stolz darauf, ihrem Kind nicht die Last des Risikos der Krankheit »aufgebürdet« zu haben, wie sie selbst sagen.
Das Schicksal hatte Miglieder der Familie der El­tern über Generationen immer wieder an einer bestimmten Form von Brustkrebs erkranken lassen. Die verbesserte, auch gentechnische Diagnostik hat für diesen Typ von Brustkrebs eine Ver­bindung mit einer bestimmten Gensequenz hergestellt. Die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, wird dabei für Patientinnen mit der entsprechenden Gensequenz je nach Studie zwischen 50 und 85 Prozent angegeben. Das heißt eigentlich, dass der Zusammenhang von Gen und Erkrankung nicht zwingend ist, trotzdem wird er in den klinischen Studien als kausal gegeben be­schrie­ben.

Die Gefahr einer Erkrankung trieb die Eltern zum Handeln, und weil die Wahrscheinlichkeit der Übertragung des Gens auf das Kind in der Neukom­bination der Chromosomensätze 50 Prozent beträgt, ist auch immer die Möglichkeit gegeben, dass ein Kind oder Embryo oder Präembryo von den Eltern hervorgebracht werden kann, das dieses böse Gen nicht trägt. Und um die Produktion eines solchen Kindes ging es im besagten Fall.
Um zu gewährleisten, dass ein Embryo ohne das unerwünschte Gen implantiert werden kann, mussten mehrere verfügbar sein. Dafür wurden zuerst der Mutter Stoffe injiziert, die eine exzessive Eiproduktion fördern. Die Eier wurden dann im Reagenzglas mit dem Sperma des Mannes befruchtet, daraus wuchsen elf Embryonen. Diese Embryonen wurden dann einem Gentest unterzogen, mit dem Ergebnis, das sechs von ihnen das böse Gen trugen und drei weitere »andere Ab­normitäten« aufwiesen. Diese neun wurden dann beseitigt und die beiden übrigen der Mutter implantiert, aus einem wuchs dann das kürzlich geborene Kind heran.
Hier beginnt die Philologie: Um die »schlechten« Embryonen aussortieren zu können, nennt man sie in diesem Stadium schlicht »Präembryonen«. Dafür gibt es aber weder eine technische noch eine biologische Basis. Denn bei den guten wie bei den schlechten Präembryonen sind bereits die männliche und die weibliche Keimzelle verschmolzen, und ein Unterschied zu Embryonen besteht nicht. Der Begriff »Präembryon« ist nichts als eine willkürliche Festlegung, die es allerdings erleichtert, die »Zellhaufen«, wie die Befürworter der Stammzellenzucht wie der Prä­im­plan­ta­tions­dia­gnos­tik dieses Embryonenstadium auch nennen, ohne schlechtes Gewissen ihren verschiedenen Verwendungszwecken zuzuführen, unter anderem der Forschung.
Ein weiterer Verwendungszweck ist die Im­plantierung der für gut befundenen Embryonen im Leib der Mutter. Wenn sich dann einer dieser Embryonen in der Gebärmutterwand einnistet, kann die Schwangerschaft beginnen und ein Kind heranwachsen, das zur Welt kommt. Niemand muss seine Finger zählen. Das hat jedoch unabsehbare Folgen für unkontrolliert gezeugte und während der Schwangerschaft nicht untersuchte Kinder, wenn sie mit sechs Fingern oder anderen Abweichungen nach dem ersten Schrei auf die Waage gelegt werden. Auch ihre Eltern dürften erheblich größere Probleme bekommen.

Der Bruch mit den bisherigen Gepflogenheiten der Betrachtung Neugeborener, der mit dem britischen Baby manifest geworden ist, besteht nämlich in der Verlagerung der Verantwortung für das Leben der Kinder, für das bisher auch immer noch die Gesellschaft verantwortlich war, allein auf die Eltern oder die Mutter. Das Individuum hat von nun an selbst dafür zu sorgen, dass seine Nachkommen nicht mehr der Gesellschaft durch Krankheit oder Behinderung zur Last fallen. Und das in einem prospektiven Rahmen, der das ganze Leben umfasst.
Allein die vermutete Wahrscheinlichkeit einer irgendwann vielleicht erfolgenden Erkrankung im Lebenslauf wird in die Verantwortung der Individuuen übertragen. Wie fortgeschritten dieses Denken bereits ist, merkt man auch an der Formulierung der Eltern, in der sie mitteilen, stolz darauf zu sein, ihrem Kind die »Bürde« der Möglichkeit der Krankheit genommen zu haben.
Wer wissen will, wie weit diese Sicht bereits ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen ist, muss sich nur die Kommentare über die kontroversen Artikel zu diesem Thema auf der Website der britischen Tageszeitung Guardian ansehen. Kritik am Verfahren der Genkontrolle vor der Schwangerschaft im Mutterleib ist wesentlich seltener als der Wunsch nach der Ausdehnung der Dia­gnos­tik auf alle möglichen Erkrankungen oder vermeintlichen Abweichungen.
Diskutiert, und überwiegend befürwortet, wird auch die Aussortierung von Embryonen, bei denen eine Anlage zum Autismus diagnostiziert wird, sobald ein solcher Test möglich ist. Dass viele Autisten ihren Bewusstseinszustand weder als Leiden noch als Krankheit oder Behinderung eingestuft sehen wollen (Jungle World, 17/08), stört die Befürworter offenbar nicht.
Staatliche Zwangsmaßnahmen wie ein Entzug der Sozialleistungen, falls Eltern bewusst, oder weil sie auf die pränatale Diagnostik verzichtet ha­ben, etwa ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen lassen, sind denkbar. Doch die Her­richtung des Nachwuchses für die Gesellschaft und die Kontrolle der eingebildeten Genrisiken müssen in den meisten Fällen gar nicht von Polizisten oder Bürokraten erzwungen werden. Der Bürger ist so frei, dass er das schon selbst in Ordnung bringt. Wer da noch meint, mit der Kritik am industriell-molekulargenetischen Komplex etwas gegen den Unsinn der Genmacht ausrichten zu können, hat die Rechnung ohne die Individuuen in der bürgerlichen Gesellschaft gemacht. Thomas Lemke hat in seiner großartigen, aber bedrückenden Studie »Die Polizei der Ge­ne« beschrieben, dass die Genpolizei bereits im »eigenen Haus« sitzt.