Bewaffnete Nazis in Niedersachsen

Gewehr bei Stiefel

Niedersächsische Nazis sind bewaffnet, wie eine Großrazzia gezeigt hat. Im Innenministerium des Landes will man bisher aber nicht von einem allzu großen Problem reden.

Die Einschätzung der Gesamtlage lasse »nicht den Schluss zu, dass die im südniedersächsischen Raum bzw. in der Südharzregion festgestellten rechtsextremistischen Bestrebungen einen Schwer­punkt mit landesweiter Bedeutung darstellen«. Dies antwortete der niedersächsische Innenminis­ter Uwe Schünemann (CDU) noch im Mai vergangenen Jahres im Landtag auf eine Anfrage der Linkspartei. Das sieht mittlerweile jedoch selbst die Polizei anders. Bereits im September 2008 wurde im Lagebild »Rechtsex­tremismus« der Polizeiinspektion Northeim/Osterode betont, dass es in der Region eine »deutliche Zunahme rechts­extremistischer Bestrebungen« in der Region gebe, die sich unter anderem am Zuzug »mehrerer bundesweit bekannter Rechtsextremis­ten nach Bad Lauterberg« zeige. Vier NPD-Direktkandidaten für die niedersächsische Landtags­wahl vor einem Jahr hatten ihren Wohnsitz in der Stadt im Harz. Die Vorfälle und polizeilichen Maßnahmen der vergangenen Wochen könnten nun auch Schünemann zu denken geben.
Am Dienstag voriger Woche durchsuchten in Süd­niedersachsen 439 Polizisten insgesamt 30 Wohnungen und stellten dabei neben Hakenkreuz­fahnen, rechtsextremer Musik und Propagan­davideos auch zahlreiche Waffen sicher, darunter neun Karabiner, sieben Faustfeuerwaffen, 15 so genannte Softair-Waffen, eine Doppelflinte, ein Luftgewehr, eine Handgranate und Munition unterschiedlichen Kalibers. Auch Messer und Bajonette, Schlagringe, Wurfsterne und Baseball-Schläger wurden beschlagnahmt, einer von diesen war mit »Nationaler Widerstand« und »Hass« beschrieben. Dem Göttinger Polizeipräsidenten Hans Wargel zufolge wurden die Beamten in jeder zweiten Wohnung fündig.

Anlass für die Ermittlungen war eine Schießerei in einem Göttinger Strip-Lokal Ende November. In den frühen Morgenstunden hatten damals meh­rere bekannte Nazis in dem Rotlichtlokal »Strip« den Geburtstag eines Kameraden gefeiert und wa­ren mit einem Mitarbeiter des Ladens in Streit geraten. Einer der Rechtsextremen zog dabei eine Flinte und schoss auf den 42jährigen Widersacher. Dieser konnte die Waffe jedoch wegstoßen, so dass der Schuss in die Wand ging. Der Mitarbeiter warf daraufhin die fünf Nazis aus dem Laden, die aber kurz darauf zurückkehrten und das Lokal mit zwei Brandsätzen angriffen.
Die alarmierte Polizei nahm wenig später fünf Tatverdächtige im Stadtgebiet fest. Bei anschließenden Hausdurchsuchungen stellte die Polizei weitere Waffen sicher, darunter eine kroatische Maschinenpistole mit 400 Schuss Munition, ein Repetiergewehr mit Zielfernrohr und Schalldämpfer sowie eine doppelläufige Schrotflinte. Polizeipräsident Wargel sprach damals von einer »neuen Qualität« der Bewaffnung. Der Angreifer mit der Flinte, der 34jährige Mario M. aus Göttingen, war bereits ein halbes Jahr zuvor als Veranstalter eines Rechtsrockkonzerts im »Strip« in Erscheinung getreten. Die Stadt hatte jedoch kurzfristig das Konzert verboten – offiziell aus konzessionsrechtlichen Gründen.
Die jüngsten Durchsuchungen fanden hauptsächlich im Landkreis Osterode statt, wo organisierte Nazis besonders aktiv sind; sie versuchen, im Dreiländereck des Harz langfristig Fuß zu fassen. Die Region ist deshalb schon häufiger in die Schlagzeilen geraten. In Herzberg fand 2007 der Landesparteitag der NPD statt, unter Teilnahme des CDU-Bürgermeisters Gerhard Walter. Als er auf die anwesende Presse aufmerksam wurde, drohte der ehemalige Polizist der Journalistin Andrea Röpke mit »heftigstem Ärger«, sollten die Bilder irgendwo auftauchen, und schlug gegen die Kamera. Im nahe gelegenen Dorste hatte ein halbes Jahr zuvor ein Mob Rechtsextremer am Rande einer »Mallorca-Party« mehrere türkischstämmige Besucher unter »Heil-Hitler«-Rufen durch den Ort gehetzt und verprügelt.
In Bad Lauterberg sitzt mit Michael Hahn ein NPD-Vertreter im Stadtrat, es gibt einen Tattoo-Laden von und für Nazis und eine »braune Straße«, die deshalb so genannt wird, weil dort etliche Nazis wohnen. Zuletzt fand in dem Ort Ende 2008 im Wanderheim des Harzklubs die »deutschlandpolitische Akademie« verschiedener rechtsextremer Gruppen statt. Zwar hatten mehrere NPD-Kreisverbände aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen bereits im Oktober 2008 beschlossen, in Zukunft als »Festung Harz« zusammenzuarbeiten. Trotzdem antwortete Innenminister Schünemann noch im gleichen Monat auf eine kleine Anfrage der Linkspartei, dass »länder­übergreifende Strukturen nicht festzustellen« seien.

Der Grund für die Durchsuchungen war also nicht das Vorhaben der Nazis, »eine so genannte national befreite Zone mit festen Strukturen zu schaffen«, wie der Linkspartei-Landtagsabgeordnete Patrick Humke-Focks im Mai 2008 die Situation im Harz beschrieben hatte. Vielmehr war durch die private bewaffnete Auseinandersetzung Ende November die Öffentlichkeit aufgeschreckt worden, die Polizei geriet unter Druck. Diese richtete die 20köpfige Sonderkommission »ZAGI« – benannt nach der sichergestellten kroatischen Maschinenpistole – ein, deren Ermitt­lungen nun zu der Razzia führten.
Für Polizeipräsident Wargel war die Maßnahme ein »erfolgreicher Schlag gegen die rechte Szene«, der in Zukunft zu Verunsicherung führen werde. Die Linkspartei verlangte mittlerweile von Innenminister Schünemann, seine bisherige Bewer­tung des Rechtsextremismus in Südniedersachsen zu revidieren. Ob die Razzia wirklich als ein großer Erfolg zu werten ist, bleibt fraglich. Es gab keine Festnahmen, die nun laufenden Ermitt­lungen richten sich gegen Einzelpersonen, jedoch nicht gegen die Kameradschaften. Sonderlich große Angst vor der Polizei scheinen die Nazis nicht zu haben. Trotz der Hausdurchsuchungen und Waffenfunde nach der Auseinandersetzung im Strip-Lokal hielten es die meisten offensichtlich nicht für nötig, ihre Wohnungen aufzuräumen. Die Kameradschaft Northeim und »andere freie Kräfte aus Südniedersachsen, Nordhessen und Westthüringen« gaben vergangene Woche so­gar eine gemeinsame Pressemitteilung heraus, in der sie sich über den »ungebetenen Besuch durch die verbeamteten Handlanger der herrschen­den politischen Kaste« beschwerten und »kreative Aktionen« ankündigten.

Neben den Waffenfunden könnte bei anti­fa­schis­tischen Gruppen auch die rechtliche Grundlage der Razzia für Bedenken sorgen: Die Durch­such­ungs­beschlüsse beruhen auf dem niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetz. Dass die Amts­gerichte 30 von 31 Durchsuchungsanträgen statt­gaben, fand selbst Polizeipräsident Wargel »außergewöhnlich«. Denn die Begründung für den Polizeibesuch war die bloße Zugehörigkeit zur regionalen rechtsextremen Szene.
Dieses Vorgehen könnte ebenso Linke treffen. Dass die Bekämpfung linker Kreise Innenminister Schünemann ein wichtiges Anliegen ist, zeigt er immer wieder. Im Anschluss an die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm forderte er eine europaweite Datei für »Linksextremisten«. Als der Innenminister Anfang November 2008 in Hannover das »norddeutsche Lagebild Rechtsextremismus« vorstellte, legte er auch einen »Fünf-Punkte-Plan« vor – allerdings gegen den »Links­­extremismus«.