Der Mord an einem regimekritischen Anwalt in Russland

Mord im toten Winkel

In Moskau wurden die Regimekritiker Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa ermordet. Zu den zahlreichen Feinden Markelows gehörten der tschetschenische Warlord Kadyrow, russische Offiziere und Neonazis. Auch der Regierung kommt sein Tod nicht ungelegen.

Die Tat wurde sorgfältig geplant. Dafür sprechen die Umstände des Mordes an Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa gegen Mittag des 19. Januar im Stadtzentrum von Moskau. Der Anwalt und die Journalistin gingen nach einer Pressekonferenz gemeinsam zur nächsten Metrostation. Ein Augenzeuge soll ausgesagt haben, dass ein Mann von hinten schnellen Schrittes auf die vor ihm Gehenden zutrat und aus unmittelbarer Nähe zuerst zwei Schüsse auf Markelow abfeuerte. Die kampfsporterfahrene 25jährige soll versucht haben, den Killer festzuhalten, erst dann wurde auch auf sie geschossen. Der 34jährige Markelow war auf der Stelle tot, seine Begleiterin erlag ihren Verletzungen wenige Stunden später.
Keine einzige Videoüberwachungskamera hat den Doppelmord aufgezeichnet. Offenbar hatten der Täter oder seine Komplizen die Umgebung sehr sorgfältig inspiziert. Der Weg zwischen Pressezentrum und Metro ist gespickt mit Kameras, allerdings nur bis kurz vor dem Tatort, der in einem toten Winkel liegt. In der Metro spazierte der Mörder unerkannt an Milizionären vorbei, die Videoaufzeichnungen aus dem Eingangsbereich zeigen eine Aufnahme von ihm in schlechter Qualität.
Der ermordete »Stas«, wie er von Freunden genannt wurde, war eine schillernde Figur, wie es im heutigen Russland keine zweite gibt. Niemand schaffte es, sich so selbstverständlich in diversen mehr oder weniger abgeschlossenen politischen Milieus zu bewegen wie er. Wer ihn nur oberflächlich kannte, legte ihn gerne auf die Rolle eines energischen, mutigen, erfolgreichen, überaus cleveren, witzigen und sprachgewaltigen Anwalts fest. Die Reduzierung auf seinen Beruf mag es leichter machen, ihn in ein vertrautes Sche­ma einzuordnen, wird ihm aber keinesfalls gerecht, denn er verstand sein gesamtes Handeln, ob beruflich oder privat, als politisch.

Stanislaw Markelow arbeitete mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zusammen, nahm gemeinsam mit Anarchisten und Umweltschützern an Protestaktionen teil, unterhielt enge Kontakte zur jungen antifaschistischen Bewegung, fand Anerkennung bei Kommunisten und verschaffte sich als Bürgerrechtler Respekt. Mit der Gründung und dem Aufbau seines Instituts für Rechtshoheit schuf er ein Netzwerk, in dessen Rah­men er versuchte, bei Juristen das Gespür für politische Fragen zu schärfen. Anastasia, genannt Nastja, schrieb nicht nur journalistische Beiträge über Aktivitäten der Neonaziszene, sondern verstand sich als Angehörige der antifaschistischen Bewegung und arbeitete seit kurzem auch als Markelows Assistentin.
An einem politischen Hintergrund der Mordtat besteht keinerlei Zweifel, die Frage nach den Schuldigen lässt sich hingegen nicht so einfach beantworten. Die Liste der möglichen Auftraggeber ist lang, denn Markelow kam einer ganzen Rei­he von Leuten in die Quere, die nicht nur ein Motiv hatten, sondern auch die Möglichkeit, eine solche Tat in Auftrag zu geben.
Zunächst wurde ein Zusammenhang mit dem Fall Jurij Budanow vermutet. Der für die Vergewaltigung und Tötung einer jungen Tschetschenin verurteilte Oberst der russischen Armee war nur wenige Tage vor dem Mord vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Stanislaw Markelow wollte als Vertreter der Eltern des Opfers die Freilassung Budanows verhindern und kündigte auf seiner letzten Pressekonferenz eine Klage vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg an, sollten die Rechtsmittel in Russland erschöpft sein.

Einen konkreten Hinweis auf die Mörder enthält diese Theorie jedoch nicht, selbst wenn man annimmt, dass der Kampf gegen Budanows Freilassung das Motiv war. Verschiedene Gruppen kämen in Frage, der Offizier hat nicht nur beim Mi­litär fanatische Anhänger, sondern genießt auch unter Neonazis Heldenstatus.
Markelow, der einzige nicht in Tschetschenien ansässige Anwalt, der in der Kaukasus-Republik arbeitete, befasste sich auch mit anderen Mordfällen. Das Verfahren gegen Oberleutnant Sergej Lapin gehörte zu seinen spektakulärsten. Der nach Tschetschenien abkommandierte Milizoffizier mit dem Spitznamen »Kadett« hatte einen als »ver­schwunden« gemeldeten jungen Tschetschenen zu Tode gefoltert. Markelow erwirkte durch seine Hartnäckigkeit nicht nur die erste und bislang einzige Verurteilung eines Angehörigen der russischen Sondereinheiten in Tschetschenien wegen eines Folterdelikts. Er erreichte sogar, dass die Richter die Schuld der beiden unmittelbaren Vorgesetzten des zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilten Lapin anerkannten. Den beiden Offizieren gelang jedoch rechtzeitig die Flucht; obwohl sie zur Fahndung ausgeschrieben wurden, ist ihr Aufenthaltsort unbekannt. Auch sie und ihre Helfer hatten ein Motiv.
Nicht gänzlich ausschließen lässt sich auch eine Beteiligung des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Der für seine Brutalität berüch­tigte Warlord kritisierte zwar selbst russische Kriegsverbrechen, um Distanz zur Zentralregierung zu gewinnen und seinen Einfluss zu meh­ren. Er würdigte Markelow sogar posthum mit einer Medaille für dessen besondere Verdienste. Nicht verzeihen dürfte der Präsident jedoch, dass Markelow nicht davor zurückschreckte, auch Fälle tschetschenischer Regimekritiker zu übernehmen. Er vertrat unter anderem den im August vorigen Jahres spurlos verschwundenen Ma­go­medsalach Masajew, der die Existenz von Folter­gefängnissen auf tschetschenischen Militärbasen öffentlich kritisierte. Die Aussichten, dass ein anderer Anwalt solche Fälle übernimmt, sind extrem gering, denn in der Vergangenheit wurden bereits mehrere Kontrahenten Kadyrows in Moskau erschossen.
»Wir müssen alles daran setzen, dass Kadyrow wenigstens einem Verhör unterzogen wird«, sagte Natalja Estemirowa von der Menschenrechts­organisation Memorial im tschetschenischen Grosny der Jungle World. »Er darf nicht das Gefühl bekommen, gesiegt zu haben.« Kadyrow dürfte über Markelows Tod frohlocken, doch das muss nicht bedeuten, dass er der Täter war.
Zu Stanislaw Markelows Mandanten zählt auch Michail Beketow, der am 13. November vorigen Jahres im Moskauer Vorort Chimki von Unbekann­ten fast zu Tode geprügelte Chefredakteur der Chimkinskaja Prawda. Sein Vergehen bestand offen­sichtlich in der Aufdeckung skrupelloser Machenschaften der lokalen Behörden. Auch Markelow selbst übte deutliche Kritik an den herrschen­den politischen Verhältnissen und wusste um die Gefahr, in der er sich befand. Weil er sich nicht zurückhielt, nannte ihn so mancher fälschlicherweise »furchtlos«.
Mit einer Kundgebung in Moskau zwei Wochen nach dem Überfall wurde gegen gewalttätige Übergriffe auf politische Aktivisten protestiert. Dort sagte Markelow, dass die Oppositionellen sich selbst verteidigen müssen: »Ich habe es satt, meine Bekannten in den Kriminalchroniken wiederzufinden. Das ist längst keine Arbeit mehr, sondern eine Frage des Überlebens. Wir benötigen Schutz vor Nazis, wir benötigen Schutz vor der mafiösen Staatsmacht, auch vor den Rechtsschutzorganen, die ihr oft genug zuarbeiten. Wir verstehen sehr gut, dass außer uns selbst niemand sonst uns diesen Schutz gewähren wird. Kein Gott, kein Zar, kein Gesetz – niemand außer uns selbst.«

Die Drohungen gegen ihn häuften sich. Im vergangenen Jahr erzählte er von einem Videospiel, das er im Internet entdeckt hatte. Wahlweise galt es, einen tadschikischen Mann oder ihn zu töten. Neonazis drohten ihm per SMS, seine Adresse wurde auf Naziseiten veröffentlicht. Zwei Monate vor seinem Tod stellten junge Antifaschisten fest, dass Neonazis ihm auf der Straße auflauerten. Markelows Engagement beschränkte sich nicht auf seine Tätigkeit als Anwalt. Er publizierte Texte gegen den Nationalismus, der sich im­mer extremer und gewalttätiger äußert, und unter­stütz­te Antifaschisten mit wertvollen Ratschlägen.
Überdies untersuchte Stanislaw Markelow rechtsextremistische Gewalttaten und versorgte die polizeilichen Ermittler mit Informationen über Neonazigruppen, er trug dadurch zur Aufklärung einiger Fälle bei. Sein Interesse war dabei nicht rein beruflicher Art, sondern politisch motiviert. Dieser Umstand ließ ihn zu einem erklärten Feind russischer Neonazis werden.
Möglich ist auch, dass die gesamten Aktivitäten Markelows der Anlass für den Mordauftrag waren. Dass die russische Regierung sich mit Kommentaren zurückhält, ist nur konsequent, denn letztlich kommt der Mord auch der politischen Füh­rung nicht ungelegen. Der Tod Markelows wirkt sich auf die gesamte Opposition aus. Er hat für alle seinen Kopf hingehalten. Für sein Andenken und um ihre eigene Wut auszudrücken, demonstrierten bislang jedoch hauptsächlich Menschen in Grosny und Anarchisten, teils gemeinsam mit jungen Kommunisten.
Die russischen Liberalen und die verschworene Gemeinde der Bürgerrechtler halten sich hingegen zurück. Nach dem Mord an Anna Politkowskaja im Oktober 2006 war ihnen das Entsetzen viel stärker anzumerken. Das ist einfach zu erklären; wegen seiner linken Überzeugungen war Markelow keiner von ihnen, auch wenn jetzt gerne ein direkter Vergleich zwischen ihm und der berühmten Journalistin Politkowskaja gezogen wird. Womöglich haben aber noch nicht alle begriffen, was der Verlust von »Stas« bedeutet.