„Twin Peaks“

Nochmal: Fire Walk With Me

Serie über Serien. Die kranken Geheimnisse von »Twin Peaks«. Über den Moment, als Laura Palmer in einer Plastiktüte angeschwemmt wurde und David Lynch die Eulen durch unsere Wohnzimmer flattern ließ

Anfang der Neunziger. Ich sitze mit meinen beiden besten Freundinnen auf dem Sofa, die eine ist schwarzhaarig, ein Musik-Nerd mit panischer Angst vor Vögeln, die andere hat wilde blonde Locken, stapft traumwandlerisch durch ihr Leben, und vielleicht ging ihre Mutter als Zwölfjährige einmal ins Moor mit dem Vorsatz, sich umzubringen. Wir sind jung und belegen Rilke-Seminare, wir jobben in Kneipen, wir trinken viel zu viel schwar­zen Kaffee, wir verlieben uns hin und wieder.
Die Straßen sind an diesem Abend wie leergefegt. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen unserer idyllischen Heimatstadt starren wir gebannt auf den Fernseher, und zum ersten Mal ist es, als schaue die Flimmerkiste auch uns an: Die Serie hieß »Twin Peaks«, und ich kenne niemanden, der sagen würde, dass es sich dabei um eine klassische Detektivgeschichte handelt, in der es darum ginge, den Mörder von Laura Palmer dingfest zu machen. Auch David Lynch und sein genialer Kom­pagnon Mark Frost hatten nie vor, den Mör­der dieses postmodernen Schneewittchens, das in einem durchsichtigen Plastiksack angeschwemmt wurde, zu entlarven.
Ihr Geldgeber, die Fernsehgesellschaft ABC, zwang sie jedoch dazu, aber diese Geschichte hat uns nie wirklich interessiert.
Wir waren vielmehr alle drei in einem Alter, wie Lynch sagen würde, in dem das Fenster ganz weit offen steht und einen die Dinge besonders hart treffen – genau wie Laura und ihre Cousine Maddie, Audrey, Donna, Shelly und all die anderen, scheinbar naiven »Twin-Peaks«-Schönheiten, die wie wir an den widersinnigen Anforderungen der spätkapitalistischen Gesellschaft scheiterten: Wie unsere Serienhelden leb­ten wir in Familien voller Widersprüche, in Familien, die ihre Kinder nicht mehr beschützen konnten. Wir wussten um die vielfältigen Verbrechen, auf denen unser Wohlstand aufgebaut war. Sobald wir anfingen, an der Oberfläche der Dinge zu kratzen, begegneten wir Doppelbö­digkeiten, Brüchen, Zweideutigkeiten, Verschiebungen. Wir litten unter all unseren kranken Ge­heimnissen und denen der uns nahe stehenden Menschen.
Für ein paar Wochen hausten wir in unseren Tag- und Nachtträumen im kollektiven Unterbewussten, beschäftigten uns mit Dingen, die uns schon immer vertraut gewesen waren, die wir aber wohlweislich verdrängt hatten.
Aug’ in Aug’ mit dem schieres Grauen erregen­den Bob, dem zerstörerischen Prinzip des Bösen, das die Menschen in Besitz nahm, solange sie ihm von Nutzen waren, begann sich vor uns ein Abgrund zu öffnen.
Wir hatten keine andere Wahl mehr, als uns – lediglich bewaffnet mit Humor und Ironie und den zeitgeloopten Surfgitarren von Lynchs Haus­komponisten Angelo Badalamenti – dort hinein und auf die Suche nach dem (Un-)Sinn der Postmoderne und ihren unbegrenzten Möglichkeiten zur Veränderung zu begeben.
Wir kombinierten und fühlten mit Special Agent Dale B. Cooper, dessen allzu optimistische, vom Buddhismus inspirierte Weltsicht ihn zwar weiter trug als je einen postmodernen Men­schen zuvor – der jedoch letztlich auch scheitern musste.
Wir vergötterten die heimliche Heldin der Serie, Audrey Horne – Tochter eines üblen, von Machtgier getriebenen Vaters – , die Cooper bei der Aufklärung des Mordfalls half und infolge ihrer Eigenwilligkeit und ihres Hangs zum Voyeurismus zumindest an der Seele relativ un­beschadet blieb.
Wir sogen Agent Dennise/Dennis Bryson in uns auf, der ganz souverän mit den Geschlechterrollen spielte, weshalb er vielleicht nicht – wie fast alle anderen in »Twin Peaks« – unter Persönlichkeitsspaltung litt.
Als mir meine Freundin von damals im vergangenen Jahr zu Weihnachten die komplette »Twin-Peaks«-DVD-Box schenkte, war ich überrascht, wie sehr dieses große Werk auch heute noch durch meine durchlässigen Hautporen zu dringen vermag.
Diese Serie ist wie der Spiegel der bösen Königin in dem Märchen Schneewittchen, ich sehe hinein und spüre: Die Eulen sind immer noch nicht, was sie scheinen.