Marxens Schriften und die marxistische Staatstheorie

Theorie to come

Staatlichkeit ist ein Feld, das sich ständig verändert und auf dem sich soziale Kämpfe widerspiegeln. Für eine marxistische Staats­theorie reichen Marxens Schriften aber nur bedingt.

So wichtig die Warnung vor einem linken Etatismus auch ist, so ahistorisch und monolithisch ist der Begriff, den Uli Krug (Jungle World, 02/09) und Stephan Grigat (Jungle World, 04/09) vom Staat zeichnen. Auch wenn sie versuchen, ihre Bei­träge mit entsprechender Marx-Exegese abzusichern, so können sie sich für ihre Argumentation letztlich doch nicht auf Marx berufen, und Grigat muss ihn schon äußerst selektiv rezipieren. Lassen wir einmal beiseite, dass nun auch noch Marx zur Formulierung einer gegen den Islam ge­richteten Feindschaft herhalten muss. Niemand würde auf die Idee kommen, Marx aufgrund von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten aus der »Judenfrage« für antisemitische Propaganda heranzuziehen. Ähnlich seriös ist es jedoch, wenn Grigat mit aus eben solchen aus dem Zusam­menhang gerissenen Zitaten Marx zum großen »Islamkritiker« erklären will.

Bemerkenswerter im Zusammenhang mit der hier geführten Diskussion ist hingegen, dass Grigat schlicht und einfach nicht bereit ist, etwas von den staatstheoretischen Debatten des westlichen Marxismus zur Kenntnis nehmen, wenn er Felix Klopoteks Hinweis auf Nicos Poulantzas (Jungle World, 03/09) schlicht zum »Softcore-Leninismus« erklärt und glaubt, damit bereits ein abschließendes Urteil über die gesamte Debatte gefällt zu haben. Grigats und Krugs Hinweis darauf, »dass Marx keine reine Ökonomiekritik geschrieben hat«, ist eine Binsenweisheit. Deshalb verfasste er schließlich auch eine »Kritik der po­litischen Ökonomie«.
Marx hat aber auch sein ursprünglich geplantes Buch über den Staat nie geschrieben. Damit ist es – abgesehen von der Frage, wie weit ein exe­getischer Zugang zu Marx etwas zur Analyse und Kritik gegenwärtiger Herrschaftsverhältnis­se aussagen kann – problematisch, Marx voreilig eine bestimmte Form von Staatskritik zu unterstellen. Verschärft wird dieses Problem noch, wenn die Entwicklung des Marxschen Denkens selbst außer Acht gelassen wird.
Die ausführlichsten Überlegungen von Marx zum Staat finden sich in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, wobei diese noch in die »vorkritische« Phase des Marxschen Denkens fallen und somit nicht auf der Höhe der Entwicklung seiner »Kritik der politischen Ökonomie« liegen, deshalb auch nicht ohne weiteres mit dieser kombinierbar sind. »Der Staat hat seine Wirksamkeit nicht nach seiner spezifischen Natur zu unterscheiden und zu bestimmen, sondern nach der Natur des Begriffs, welcher das mystificirte Mobile des abstrakten Gedankens ist«, schreibt Marx in dieser noch stark »philosophisch« geprägten Phase seines Werkes. Erst mit der »Deutschen Ideologie« ist eine empiris­tische Wende erkennbar, nach der der Staat vor allem instrumentell aufgefasst wird.
Dabei beschreibt Marx einerseits die sozialen Bedingungen zur Staatsbildung als »selbstän­dige Gestaltung«, andererseits die Verbindung zur »Nation«, wobei gerade vor dem Hintergrund des deutschen Nationsbegriffs unter anderem von »Fleisch und Blut« als einigendem Band eines »Stamm-Konglomerats« die Rede ist. Allerdings weist Marx in diesem Zusammenhang bereits darauf hin, »daß alle Kämpfe innerhalb des Staats, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokratie und Monarchie, der Kampf um das Wahlrecht etc. etc., nichts als die illusorischen Formen sind, in denen die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen untereinander geführt werden«.
Marx spricht hier allerdings von Kämpfen innerhalb des Staats und eben nicht vom Staat selbst, den er in dieser Phase noch vielfach als Instrument der Bourgeoisie begreift. Was Marx trotzdem mit den in der »Deutschen Ideologie« angelegten staatstheoretischen Überlegungen verdeutlicht, ist einerseits die relative Autonomie des Staats und andererseits die Funktion des Staats als Feld der Auseinandersetzungen von »wirklichen Kämpfen«.
Unklar bleibt dabei jedoch, ob der Staat aufgrund seiner Form ein Klassenstaat ist oder das Instrument einer Klasse darstellt. Eine instrumentelle Sichtweise auf den Staat findet ­ihren Höhepunkt im »Manifest der Kommunistischen Partei«, das jedoch wegen seines »Programmcharakters« nur begrenzte Aussagekraft für Marxens theoretische Entwicklung besitzt.

Eine konkrete historische Auseinandersetzung mit dem Staat findet sich schließlich in den beiden historischen Schriften zu Frankreich, in »Der 18. Brumaire des Luis Bonaparte« und in »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850«. Im »18. Brumaire« benutzt Marx den Begriff der Staatsmaschinerie, »ein Beamtenheer von einer halben Million neben einer Armee von ­einer anderen halben Million, dieser fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netzhaut um den Leib der französischen Gesellschaft schlingt und ihr alle Poren verstopft«.
Eine Staatstheorie lässt sich aber auch aus diesen Textstellen nicht ableiten, erst recht keine, die über das kritische Potenzial der späten Marxschen »Kritik der Politischen Ökonomie« verfügt. Marxens 1858/59 ursprünglich als vierter Band eines sechsbändig geplanten Werks vorgesehener Text zum Staat ist nie erschienen. Bereits während seiner Arbeit am Manuskript des ersten Bandes entschied er sich stattdessen, ein selbständiges Werk unter dem Titel »Das Kapital« herauszubringen, von dem zu seinen Lebzeiten nur der erste Band erschien und Friedrich Engels einen zweiten und dritten Band nachreichte.

So etwas wie eine marxistische Staatstheorie bildete damit ein Problem für die marxistische Arbeiterbewegung und für die mit ihr verbundenen Intellektuellen, zu denen auch jene Vertreter der Kritischen Theorie gehören, auf die sich »Antideutsche« wie Grigat oder Krug heute so gerne berufen. Im Bereich der Kritischen Theorie war es vor allem Franz Leopold Neumann, der sich mit Staatstheorie auseinandersetzte. Mit seinem Buch »Behemoth« schuf er ein sich am Nationalsozialismus abarbeitendes Werk und formulierte damit die am weitesten reichenden staatstheoretischen Überlegungen innerhalb der Frankfurter Schule. Hierfür nahm Neumann durchaus auch Anleihen beim frühen Carl Schmitt, den er zeitweise von links zu lesen versuchte. Bereits in der Weimarer Republik hatte sich Neumann mit dem Staat auseinandergesetzt und dabei den Rechtsstaat aus den Klassenverhältnissen hergeleitet. Recht diene dazu, den Tausch berechenbarer zu machen und die wirkliche Herrschaft hinter der äußerlichen Form des Gesetzes zu verhüllen.
Zwar bezieht sich der Titel von Neumanns »Behemoth« auf Thomas Hobbes’ »Leviathan«, doch bereits die Tatsache, dass Neumann den NS-Staat eben nicht mit dem »Staatsungeheuer« vergleicht, sondern mit seinem Gegenteil, dem Behemoth, ist programmatisch. Auch wenn im Titel »Behemoth« immer noch das Schmittsche Konzept des starken Staats anklingt, hält Neumann den NS-Staat nicht für einen solchen. Vielmehr analysiert er ihn als ein System, hinter dessen geordneter Fassade Willkür, Terror und die Herrschaft rivalisierender Banden herrschen.

Spätere Schüler der Frankfurter Schule beschäftigten sich kaum mehr mit Staatstheorie, jedoch sollten die staatstheoretischen Überlegungen Neumanns in der materialistischen Staatstheorie der siebziger Jahre über einen Umweg wieder an Relevanz gewinnen. Die Politik- und Rechtswissenschaftlerin Sonja Buckel argumentiert, dass Neumanns Ansatz einer »relativen Unabhängigkeit« des Rechts in den siebziger Jahren auch den griechischen Marxisten Nicos Poulantzas beeinflusst habe.
Womit wir wieder beim von Grigat geschmähten Ansatz wären, den Staat eben nicht als monolithischen Block zu begreifen, sondern als Feld, auf dem und um den soziale Kämpfe stattfinden. Den Staat als »eine materielle und spezifische Verdichtung eines Kräfteverhältnisses, das ein Klassenverhältnis ist« (Nicos Poulantzas), zu be­greifen, bedeutet nämlich keineswegs, auf Staatskritik zu verzichten, wie dies Grigat zu suggerieren versucht.
Im Gegenteil umfasst Poulantzas’ Staatstheorie eine gerade für die derzeitige Debatte nicht zu unterschätzende Kritik des »autoritären Etatismus«. Diese kann als Ansatzpunkt einer Kritik der gegenwärtigen Transformation von Staat und Kapital viel eher dienen als eine ahistorische Sicht auf einen als monolithisch gedachten Staat. Der Etatismus ist für Poulantzas »keine eindeu­tige Verstärkung des Staates, er resultiert vielmehr aus einer Tendenz, deren Pole sich ungleichmäßig auf eine Stärkung und Schwächung des Staates hin entwickeln. So bleibt der gegenwärtige Staat, obwohl sein autoritärer Etatismus erschreckend real ist, ein Koloss auf tönernen Füßen, der sich bei seiner Flucht auf schwankendem Boden bewegt, was auf der politischen Ebene noch deutlicher wird. Man denke jedoch da­ran, dass verwundete Tiere am gefährlichsten sind.«