Zehn Jahre nach der Räumung des Autonomen Zentrums in Heidelberg

Asbest und Abenteuer

Vor zehn Jahren wurde das Autonome Zentrum in Heidelberg geräumt. Ehemalige erzählen von der Geschichte des ersten und letzten linken Hauses in der verschlafenen Universitätsstadt.

»Wir waren traurig, wütend, so richtig angefressen eben.« Lena* sitzt in einem Café in Sichtweite der alten Bergheimerstraße 7a. Dort, auf dem Areal der ehemaligen Glockengießerei und Weberdruckerei, stand einst das Autonome Zentrum (AZ) Heidelberg, bis es am 1. Februar 1999 geräumt und abgerissen wurde. Durch die große Fensterfront ist mittlerweile ein Block schicker Neubauten zu sehen. Nichts erinnert mehr an die Zeit, als dort neben alten Gründerzeit-Mietshäusern das von Wildwuchs und baufälligen Mauern eingerahmte linke Zentrum stand. Lena war Mitte Zwanzig, als das Zentrum schließen musste, und hat einen Großteil ihrer Jugend in den Räumen des AZ verbracht. Nach wie vor engagiert sich die Sozialarbeiterin in der Initiative für ein neues selbstverwaltetes Zentrum.
Zehn Jahre nach dem Abriss des Zentrums ist die linke Szene der Stadt bedeutend kleiner geworden. Immer wieder organisieren Gruppen Veranstaltungen an der Universität, »Aktionstage« oder auch Demonstrationen für ein neues Zentrum. Aber die Aktivitäten werden von einem überschau­baren Kreis getragen, eine wirkliche Szene existiert kaum. Die einzige Gruppe, die häufiger auftritt, ist die Antifaschistische Initiative. Vor einigen Jahren charakterisierte Die Zeit die Gruppe als »eine Mischung aus Heimatgeschichtsgruppe, Bürgerwehr« und – was die Überwachung vermeintlich rechtsextremistischer Studentenverbindungen betrifft – »eine Art alternativem Verfassungsschutz«.
Die Erinnerungen an den Tag der Räumung sind inzwischen etwas verblasst, die Wut ist aber immer noch da. »Nur wenige Unterstützer kamen an diesem Morgen«, erzählt Lena weiter. »Sie wussten, dass wir das Haus ohne Widerstand übergeben würden. Als der Bagger damit begann, das Haus einzureißen, flogen Schneebälle und ein paar Steine. Letztlich blieb uns aber nichts anderes übrig, als zu gehen.«
Wie zu Beginn der neunziger Jahre musste sich die einst sehr rege Heidelberger linke Szene nun wieder mit einem kleinen Laden in der Altstadt begnügen.
Im Zuge der Achtundsechziger-Bewegung war Heidelberg vorne mit dabei gewesen: Tausende Studenten suchten in den siebziger Jahren den Strand unter dem historischen Pflaster der Altstadt, das Sozialistische Patientenkollektiv brachte einige RAF-Mitglieder hervor, und die Erhöhung der Busfahrpreise um zehn Pfennig sorgte 1969 für wochenlange Straßenschlachten. Eine autonome Szene entwickelte sich in den achtziger Jahren aber erst sehr spät. Bei einem Spaziergang durch die Fußgängerzone berichtet Eva von den Anfängen der autonomen Bewegung in der Stadt. »Als ich etwa 16 Jahre alt war und angefangen habe, mich politisch zu engagieren, gab es in Heidelberg einfach nichts, wo man hätte hingehen können, um politisch engagierte Menschen zu treffen. Es gab eigentlich nicht mal eine Kneipe mit klarem linken Bezug, außer den Friedensladen, aber das war irgendwie langweilig«, erzählt die heute 40jährige Agrarökonomin, die in einer Kooperative zur Zertifizierung von Fair-Trade-Produkten arbeitet. »Ende der achtziger Jahre gab es dann eine recht aktive, kleine linksradikale Szene, die ihren ersten Treffpunkt in der Altstadt in einem kleinen Laden hatte.«

Parallel zu der geschäftigen Fußgängerzone verläuft die Plöck. Eine enge Straße, in der regelmäßig Autofahrer und gegen die Fahrtrichtung radelnde Studenten aneinandergeraten. In dieser Straße trat 1991 die neu gegründete Initiative für ein Autonomes Zentrum mit der Besetzung eines leer stehenden Hauses erstmals öffentlich in Erscheinung. Das Haus wurde bald geräumt, die Autonomen besetzten in den folgenden Monaten zwei weitere Gebäude. Der damalige Zeitpunkt war glücklich gewählt. Nach 24jähriger Amtszeit des konservativen Oberbürgermeisters Reinhold Zundel trat Beate Weber (SPD) den Posten an und zeigte sich demonstrativ offen. So stellte die Stadt nach kurzen Verhandlungen der AZ-Initiative das Gebäude der alten Weberdruckerei zur Verfügung.
Das neue Zentrum bot auf drei Etagen ausreichend Platz für etliche unterschiedliche Aktivitäten. Im Keller probten Punkrock-Kapellen, der erste Stock beherbergte eine Frauen/Lesben-Gruppe, und im Erdgeschoss befand sich der große Konzertsaal. Außerdem gab es ein Café, Gruppenräume, einen Infoladen und den obligatorischen Kicker. Die Außenfassade hatte die rege Graffiti-Szene der Stadt schnell für sich beansprucht und so zumindest für ein ansprechendes äußeres Erscheinungsbild gesorgt. Im Inneren herrschte hin­gegen der typische Charme linker Zentren: schlecht ausgeleuchtete Räume, Plakate und Aufkleber auf jedem Zentimeter Wandfläche. Dazu der ganz spezielle Geruch, der vermutlich irgendwann in den achtziger Jahren in einem Berliner Squat komponiert wurde: aus verschütteten Getränken, Zigarettenqualm, ausgelassenen Festen und einer Prise nassem Hund. Sofern man nicht am Wochenende abends zu einer der gut besuchten Partys kam, verursachte das AZ bei Neuankömmlingen vor allem das diffuse Gefühl, hier nicht wirklich willkommen zu sein. Die mit Asbest verseuchten Mauern versprachen jedenfalls subversives Flair und Abenteuer. Einerseits wollte das Zentrum schlicht als cool erscheinen, anderer­seits stand sich der Laden regelmäßig selbst im Weg, wenn es darum ging, diesem Ruf in der linken Szene gerecht zu werden. Hip war zum Beispiel der große HipHop-Jam mit dem Heidelberger Rapper Torch und den Absoluten Beginnern 1993. Am Eingang durchsuchte aber erst mal die Antifa die Gäste nach Spray­dosen und Waffen. Irgendwann thronte gar ein Salami-Brötchen auf der Kiste mit den konfiszierten Gegenständen. »Kein Fleisch im AZ!« lautete die Devise.
Im Vergleich mit anderen autonomen Szenen in deutschen Großstädten verliefen die politischen Auseinandersetzungen in der verschlafenen Universitätsstadt relativ harmlos. »Was für Zerwürfnisse?« fragt Max, der mittlerweile in einer anderen großen Antifa-Gruppe in Berlin gelandet ist. »Außer, dass die Rocker von der Kuhlen Wampe aus der Vokü ausgestiegen sind, weil sie kein Gulasch kochen durften, gab es doch sonst keinen richtigen Ärger«, erzählt er mit einem Lächeln.
Wie viele andere autonome Zentren auch war das AZ für einen Großteil der Aktivisten eine Durchgangsstation. Der Weg führte dann weiter in eine größere Stadt, oder aber in das zuvor so verächtlich belächelte bürgerliche Leben.
Die Suche nach Ehemaligen, aber auch derzeit Aktiven führt heute in Wohngemeinschaften, Squats, linke Häuserkommunen und queere Wohn­projekte in Frankfurt, Berlin und Köln ebenso wie in schicke Altbauwohnungen und Reihenhäuser in der gesamten Republik. Die meisten der Ehemaligen haben studiert, viele arbeiten als Lehrer, Sozialarbeiter oder auch als Anwälte, IT-Spezialisten oder Bauingenieure. Ein Pärchen, das sich im AZ kennenlernte, lebt mit Kindern auf einem Biobauernhof, ein ehemaliger Autonomer ist inzwischen Geschäftsführer mehrerer Elektro-Clubs. Viele der damaligen Aktiven sind über lose Freundeskreise miteinander verbunden, einige schwer zerstritten.
Wie es bei selbstverwalteten Projekten häufig der Fall ist, wurde die autonome »Politik der ersten Person« auch im AZ praktiziert. Auch in diesem Umfeld sind die heutzutage von Unternehmen so schwer gesuchten soft skills sehr gefragt. Von linksradikalen Ideen und regelmäßig vorkommenden Gesetzesbrüchen einmal abgesehen, taugt das Milieu zur Aneignung essenzieller Fähigkeiten für eine erfolgreiche Manager-Karriere: die Übernahme von Verantwortung, das Regeln von Konflikten, die argumentative Verteidigung der eigenen Überzeugung und das Managen von komplexen Abläufen. Wer schon mal vier Stunden über das Verhängen eines Hausverbots debattiert, der weiß, was »Einsatz für die Betriebsatmosphäre« bedeutet. Angesichts dessen müssten sich eigentlich auch die FDP und Unternehmensverbände umgehend in die Liste der Unterstützer für ein neues AZ eintragen.

»Natürlich waren die Leute, die ins AZ kamen, bei weitem nicht alle radikale Linke«, sagt Michael Csaszkóczy, der als Sprecher des AZ auftritt. »Es trafen ganz unterschiedliche Lebenswelten zusammen. Von Punks und Obdachlosen, die einfach gern ein billiges Bier oder eine warme Mahlzeit wollten, über Studis, denen die kommerziellen Party-Locations nicht passten, Schwule und Lesben, die keine Lust hatten, beim Flirten und Knutschen schräg angegafft zu werden, bis hin zu linken Politaktivisten«, berichtet der Realschullehrer, dessen Engagement ihm Jahre später ein Berufsverbot einhandeln sollte (Jungle World, 29/08).
Neben den Möglichkeiten, die ein selbstverwaltetes Zentrum für experimentierfreudige Menschen bietet, war das AZ in seiner fast achtjährigen Existenz aber doch vor allem ein Zentrum linker Politik in Heidelberg.
Bernd, der mittlerweile in Köln als Rechtsanwalt arbeitet und Mobaction-Jacke mit Armanibrille kombiniert, berichtet bei einem Spaziergang über den Heidelberger Weihnachtsmarkt: »Ich habe das AZ Heidelberg und auch das JUZ in Mannheim immer als die wichtigsten Organisations- und Kristallisationspunkte der antifaschistischen, linksradikalen und autonomen Szene der Region empfunden. Zahlreiche politische Projekte und Kampagnen sind hier entstanden, es fanden regionale und überregionale Vernetzungstreffen statt, es gab politische Infoveranstaltungen und Lesungen, aber auch geile Partys und Konzerte, eine Menge Leute wurden hier politisiert und radikalisiert.«
Der Einfluss auf das politische Klima in Heidelberg ist bis heute spürbar. Ein Beispiel dafür ist das traditionelle öffentliche »Maiansingen« rechter Burschenschaften auf dem Marktplatz am 30. April. Seit über zehn Jahren findet das Spektakel nicht mehr statt, da die Proteste zu heftig wurden. Seitdem richtet die örtliche Szene alljährlich am gleichen Tag in der Innenstadt ein linkes Straßenfest aus.
1997 erfolgte noch mal ein Aufschwung des AZ. Neben Punkrock-Konzerten fanden ab Mitte der neunziger Jahre regelmäßig Elektro-Partys statt, diverse Unigruppen feierten im AZ ihre Fachschaftspartys, es fand sich eine neue Café-Gruppe, und sogar die Autonome Antifa wurde entspannter und organisierte Schlager-Discos und Single-Partys unter dem ebenso viel versprechenden wie fragwürdigen Motto »Hammer sucht Sichel«.
Genau in dieser Zeit kündigte die Stadt auch zum ersten Mal die Auflösung des Mietvertrags an. Das AZ bemühte sich um intensivere Öffentlichkeitsarbeit. Mit Erfolg. Zur Oberbürgermeisterwahl 1998 trat mit Peter Plattmann auch ein Kandidat des AZ an. Unter dem Motto »Wir machen euch Plattmann!« ließ er sich von seinen Anhängern in einer Sänfte durch die Stadt zur Kandidatenvorstellung tragen und machte das AZ kurzzeitig zum lokalen Sympathieträger.
In den letzten sechs Monaten vor dem 1. Februar 1999 gab es in Heidelberg die unterschiedlichsten Aktivitäten für ein neues AZ. Die Party-Besetzungen zum Beispiel. War auf Party-Flyern der Vermerk »Pünktlich!« zu lesen, war klar, was kommen würde: Gegen Mitternacht zogen die AZler gemeinsam mit dem Partypublikum zu einem leer stehenden Gebäude und verwandelten die Location in ein temporäres Zentrum. Die »Test Your AZ«-Reihe wurde stets beliebter, zuletzt tanzten knapp 1 000 Leute in dem alten Bahnbetriebswerk. Die Polizei ließ sie gewähren, und die AZler hinterließen dafür die Gebäude stets besenrein. Trotz großer Unterstützung und ständig größer werdenden Demonstrationen gegen eine Räumung konnte diese nicht verhindert werden. Die damalige Zusage von Oberbürgermeisterin Beate Weber, ein gleichwertiges Gebäude zur Verfügung zu stellen, wurde nicht eingehalten. Mit dem Ende des AZ begann nicht nur für die Aktivisten in Heidelberg eine neue Ära.

Heidelberg, zehn Jahre später. Die in Heidelberg bekannte Reggae-Band Irie Revoltés spielt vor ausverkauftem Haus in der Halle 02. Sänger Pablo aka Mal Élevé denkt sehnsüchtig an die alten Zeiten im AZ zurück. »Am liebsten würden wir natürlich in einem neuen Zentrum auftreten«, erzählt er nach dem Ende des Konzerts. Zuvor hat er auf der Bühne ein neues AZ gefordert und Jubel von über 1 000 jungen Leuten bekommen. Ungewiss bleibt, ob dem Großteil der Besucher das AZ oder das Nachfolgeprojekt Café Gegendruck in der Innenstadt überhaupt ein Begriff ist. Auf knapp 60 Quadratmetern bietet der selbstverwaltete Treffpunkt zumindest Räume für Veranstaltungen, Kneipenabende und einen Infoladen.
An einem der Tische, die vermutlich noch aus alten Tagen stammen, sitzt Silke und berichtet von der Entwicklung in der Stadt seit dem Ende des Zentrums. »Der Abriss war wirklich ein harter Schlag, auch wenn wir damals noch davon überzeugt waren, dass es im Bahnbetriebswerk am Ochsenkopf bald ein neues Zentrum geben würde. Für die politischen Strukturen wurde es schwieriger, eine größere Menge an interessierten Menschen zu erreichen, die sich früher bei Partys zu Hunderten im AZ getummelt hatten«, sagt sie und ergänzt: »Das Fehlen eines politisch interessierten subkulturellen Umfelds machte auch den Kampf für neue Räume schwieriger – die Aktionen für ein neues AZ wurden immer kleiner und seltener.« An dieser Situation hat sich bis heute wenig geändert. Vergangenes Jahr gingen noch einmal 500 Menschen für ein neues Zentrum auf die Straße. Die Versuche, gemeinsam mit dem Jugendstadtrat eine Räumlichkeit zu finden, blieben auch vergebens. Aber einen Rest Optimismus lassen sich die AZler auch zehn Jahre später nicht nehmen. Michael Csaszkóczy, Aktivist der ersten Stunde, blickt im Café Gegendruck zurück: »Mitten im deutschnationalen Wiedervereinigungstaumel hätte sich ein außenstehender Beobachter kaum ernsthaft vorstellen können, dass die Bewegung für ein solches Zentrum Erfolg haben könnte. Ein Jahr später war es dann aber so weit.« Und das in der tiefsten deutschen Provinz.
Viele der heutigen Aktivisten steckten noch in den Kinderschuhen, als das Zentrum abgerissen wurde. »Es gibt weiterhin viele junge Leute, die bereit sind, für ein neues Zentrum zu kämpfen«, meint Ellwood*. Der Aktivist der ersten Stunde besetzte damals das Gebäude in der Plöck und lebt heute in einem Squat in Frankfurt. »Das wird schon noch. Irgendwann«, meint der 40jährige optimistisch. Im Hinblick auf die riesige Lücke, die durch den Abriss des AZ im politischen und kulturellen Leben in der Stadt entstand, wäre dies auch dringend nötig.

* Namen von der Redaktion geändert