Die Skiweltmeisterschaft in Val d’Isère

So nah und doch so fern

Österreich und die Schweiz sind Nachbarn. Und haben dennoch oder gerade deswegen wenig Ahnung voneinander. Bei der Skiweltmeisterschaft in Val d’Isère kommen sie sich ein wenig näher – als Rivalen.

Die Österreicher lieben Traditionen. Sachertorten, Sisi, Fiaker und den ganzen bekannten Schmonzes. Es gibt aber auch wenig bekannte Gepflogenheiten wie diese: Den ersten Auslandsbesuch statten neue österreichische Bundeskanzler oder Bundespräsidenten immer der Schweiz ab. So traf Werner Faymann Anfang Januar in Bern auf Hans-Rudolf Merz, um die gewohnt formida­ble Nachbarschaft hochleben zu lassen. So weit, so gut. Nur: »Wer ist dieser Faymann?« haben sich die Schweizer gedacht. Und: »Hans-Rudolf Merz, von dem haben wir überhaupt noch nie gehört!« klagten die Österreicher.
Zur Aufklärung: Bei Werner Faymann handelt es sich um den neuen Bundeskanzler der Republik Österreich, seit vergangenem August ist er Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Hans-Rudolf Merz wiederum gehört der Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz an, er ist Finanzminister und im Jahr 2009 auch Schweizer Bundespräsident. Genauso mysteriös wie diese beiden Namen erscheinen auch die jeweiligen politischen Systeme jenseits der Grenzen: In Österreich amtiert eine seit 1945 nur ganz selten nicht regierende Große Koalition, in der Schweiz mit der Konkordanzdemokratie eine noch größere.
Bekannter als derlei politische Kuriosa und ihre Protagonisten sind den durchschnittlichen Fernsehzuschauern deshalb auch Namen wie Michael Walchhofer, Kathrin Zettel und Reinfried Herbst bzw. Didier Cuche, Silvan Zurbriggen und die ihren Sport schon namentlich treffende Fränzi Aufdenblatten. Ums Skifahren geht es, und bei der entsprechenden Weltmeisterschaft im französischen Val d’Isère hoffen seit 3. Februar wieder Millionen auf den Sieg ihrer Eid- bzw. Neidgenossen.
Skifahren ist neben der Neutralität und der Wahrung des Bankgeheimnisses das liebste gemeinsame Hobby. Österreich gegen die Schweiz ist im alpinen Skisport so etwas wie Deutschland gegen England im Fußball. So viele Menschen wie in keinem anderen Land haben auch in den vergangenen Wochen wieder live die Skirennen in Schladming und Kitzbühel, in Adelboden und Wengen verfolgt. Die »Länderspielstimmung«, über die sich Sportreporter immer freuen, wenn aus einer Individualsportart ein Dienst am Volksganzen wird, erzeugen Skifans mit Kuhglocken, Jagertee und rot-weiß-bemalten Wangen. Voodooartig ist der Glaube, dadurch den Benjamin Raichs und Didier Defagos ein paar Hundertstelsekunden abzuzwacken und sie so aufs Siegertreppchen zu heben.
Die Politiker nehmen auf den immer mehr Fußballstadien ähnlichen Tribünen im Zielraum die Ehrenplätze ein, freuen sich über ihr Wahlvolk, und die Massenmedien spielen die Begleitmusik. Das Schweizer Boulevardblatt Blick schrieb nach der österreichischen Niederlage in der Abfahrt von Wengen: »Seit Samstag ist das Österreicherloch 4,5 Kilometer lang, recht breit und ziemlich tief.« Auf der anderen Seite wird, sobald der Team-Benjamin gewinnt, mit vermeintlich geistreichen Sprüchen gekontert wie: »Das Öster-Raich schlägt zurück.«
Österreich und die Schweiz finden im Skifahren also nicht nur zu sich selbst, sondern auch zueinander. Die Geografie hilft ihnen ­dabei, denn sie teilen sich die Alpen und rutschen sie im Winter ähnlich begeistert wie kindisch hinunter. Ansonsten aber ignorieren sie sich auf hohem Niveau, kulturell, politisch und ganz alltäglich. Und das ist auch durchaus verständlich. Wer einen DJ Bobo hat, braucht sich nicht auch noch um einen DJ Ötzi zu kümmern. Wer einen Haider hat(te), den juckt kein Blocher. Und wer selbst neutral ist, dem ist die Neutralität seines Nachbarn schnuppe.
Auch sportlich endet das Interesse aneinander schnell. Bei der gemeinsam ausgetragenen Fußball-Europameisterschaft war von Gemeinsamkeit wenig zu spüren. Die Tourismusbehörden etwa vermarkteten das sportliche Groß­ereignis getrennt, so als ob sie von der Exis­tenz des anderen Landes gar nichts wüssten. Wien warb mit dem etwas holprigen Claim »Vienna: Where the 2008 European Championship will be decided«. Auf die Frage, was vor dem Finale ist, wurde gar nicht erst eingegangen. So blieb das Scheitern von der Schweiz und Österreich in der Vorrunde der »Euro 08« die größte Gemeinsamkeit.
Dass die beiden Länder wenig gemein haben, ist zumindest in Österreich nur Ausdruck einer generellen Amnesie, der dort beliebtesten Art der Aufarbeitung der Vergangenheit – 1945 auf den bisherigen Höhepunkt gebracht, als man sich nach dem verlorenen Weltkrieg zum »ersten Opfer der Nazis« stilisierte. Ebenfalls erstaunlich ist der Gedächtnisverlust in Sachen Habsburg. Die Stammburg jenes Herrschergeschlechts, das in Österreich immerhin bis 1918 regierte, steht im Kanton Aargau in der Schweiz. Und zwar schon seit dem frühen 11. Jahrhundert. Bis die damaligen »Länder Österreich und Steiermark« unter die Fuchtel der Habsburger gerieten, sollte es zwar noch über 250 Jahre dauern, einmal im Land, ließen sie von ihrem Herrschaftsanspruch aber so schnell nicht wieder ab. Gegenwärtige Vertreter ihrer Jahrhunderte langen Geschichte aus territorialer Expansion und gesichtsprägender Inzucht träumen noch heu­te vom Kaiserthron.
Die Eidgenossen auf der anderen Seite waren klüger. Sie schmissen die Habsburger ab dem 14. Jahrhundert peu à peu aus ihren Kantonen und verlagerten das Problem somit nach Österreich. Der Spuk war 1918 zwar mit der Gründung der Republik vorbei, die Geschichte Österreichs blieb im 20. Jahrhundert aber »bewegt«, um einen Euphemismus zu verwenden. Im Gegensatz dazu ist die Historie der Schweiz eine von Kontinuität. Kein Imperium, kein Hof, keine Expansion, einmal neutral, immer neutral. Die Schweizer Idee der Neutralität kam den Österreichern nach Hitler derart zupass, dass sie heute noch eine Art zweites Religionsbekenntnis ist. Neutralität wird gerne zu Desinteresse, und das bezieht sich auch auf die Ideenlieferanten aus der Schweiz.
Dankenswerterweise gibt es aber noch den Skisport, in dem das Unverhältnis in ein Verhältnis umschlägt. Hier öffnet sich doch etwas Historisches, und das nennt sich Rivalität. Der Schweizer Skiverband wurde 1904 gegründet, der österreichische ein Jahr später. Seit den ersten Weltmeisterschaften in den dreißiger Jahren waren es vor allem Fahrer dieser beiden Länder, die Titel errangen. 247 WM-Medaillen haben österreichische Skifahrer bisher gewonnen, 174 die Schweizer.
Höhepunkte der einen Skination bedeuteten oft Tiefpunkte der anderen. Die Schweiz gewann bei der WM 1987 in Crans Montana acht von zehn möglichen Goldmedaillen, Österreich erhielt keine einzige.
Bei der WM 1999 in Vail sammelten die Österreicher 13 Medaillen, die Schweizer nur zwei. In Val d’Isère geht nun die muntere Medaillenjagd weiter und bringt zwei Länder wieder zusammen, die sich so nah und doch so fern liegen. Sollten die Triumphe derart exorbitant werden, dass sich Werner Faymann oder Hans-Rudolf Merz einfinden müssen, um ihre Skihelden zu ehren, gibt es zumindest eine Chance, dass auch deren Namen im Nachbarland bekannter werden.