Die antiisraelische Stimmung in der Türkei

Erdogan macht Stimmung

Mit seiner Kritik an Israel steigerte der türkische Ministerpräsident seine Popularität. Er sieht sich als Vermittler zwischen West und Ost, doch er könnte sich bald mehr und mehr der islamischen Welt zuwenden.

Im Nahen Osten herrscht geradezu Verzücken über Tayyip Erdogan. Und die in London erscheinende arabische Zeitung Al-Arab schrieb über Erdogans Auftritt beim World Economic Forum in Davos, der türkische Ministerpräsident habe mit goldenen Buchstaben Geschichte geschrieben. Dann fügt sie noch ein Zitat des erzkonservativen britischen Historikers Thomas Carlyle an, wonach die Geschichte der Marsch großer Helden ist.
Vor allem hat Erdogans Kritik am Gaza-Krieg der Israelis als innenpolitischer Befreiungsschlag gewirkt. Sofort nach dem Beginn der Militäroffensive hatte Erdogan die Kritik daran zu seiner Sache gemacht. Der Ministerpräsident reiste durch den Nahen Osten und gab Israel an allem die Schuld. Gott werde Israel bestrafen, prophezeite er im Stile des iranischen Präsidenten Mah­moud Ahmadinejad und behauptete, Muslime würden im Gaza-Streifen getötet, weil sie Muslime seien. Derweil wurden in der Türkei Massendemonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser organisiert und das Erziehungsministerium ließ die Schulkinder zu einer Schweigeminute für die getöteten Kinder in Gaza antreten.
Dass der überforderte Moderator David Ignatius in Davos Erdogan keine Redezeit mehr gewähren wollte, wurde in der Türkei allgemein als respektlose Behandlung gewertet. Selbst die Op­position musste sich hinter den Ministerpräsidenten stellen. Als es dem Oppositionsführer Deniz Baykal schließlich einfiel, darauf hinzuweisen, dass Erdogans Kritik an Israel im Widerspruch dazu stehe, dass israelische Militärpiloten nach wie vor im türkischen Kayseri ausgebildet werden, war es zu spät. Für die meisten Türken war der Ministerpräsident endgültig ein Held.
Das dürfte auch das innenpolitische Ziel Erdogans gewesen sein. Er arbeitet seit über einem Jahr daran, dass seine Partei die Kommunalwahlen am 29. März gewinnt. Diese Wahlen sind für die türkischen Parteien sehr wichtig, denn wer die Rathäuser beherrscht, kontrolliert die Beziehungen zur Wirtschaft und kann erfolgreich Stadtteilarbeit leisten. Niemand versteht dies besser als Erdogans AKP, deren traditionelle Basis das Bürgertum und Kleinbürgertum der Dör­fer und Kleinstädte ist. Außerdem sind die Kommunalwahlen der einzige Popularitätstest zwischen zwei Parlamentswahlen.

Mögen die innenpolitischen Effekte für Erdogan auch wichtiger sein als der Prestigegewinn im Nahen Osten, so hofft der Ministerpräsident sicherlich auch, die neu gewonnene Popularität in der regionalen Politik nutzen zu können. Darin einfach eine Abwendung vom Westen zu sehen, greift zu kurz. Der Vorstellung, dass die Türkei außenpolitisch zu wählen habe, ob sie Teil des Westens oder des Nahen Ostens bzw. der islamischen Welt sein wolle, widerspricht der Ankaraer Politologieprofessor Ahmet Davutoglu. Nach seiner Ansicht schließen sich diese beiden Rol­len nicht nur nicht aus, sie bedingen einander sogar gegenseitig. Dass die Türkei Beitrittsgespräche mit der EU führt, habe ihr Ansehen im Nahen Osten erhöht. Umgekehrt werte ihr Einfluss im Nahen Osten und in der islamischen Welt die Türkei auch in Europa und den USA auf. Der vom Staatspräsidenten in den Rang eines Botschafters erhobene Professor ist derzeit der eigentliche Stratege der türkischen Außenpolitik, er führt auch selbst diplomatische Verhandlungen.
Obwohl Erdogan betonte, er habe nie gesagt, die Hamas sei eine »gute Organisation«, die »keine Fehler macht«, hegt er offenbar gewisse Sympathien. Seine Parteinahme für die Hamas hat sicher viele Gründe. Für ihn ist sie schlicht eine islamische Partei, die zwar Wahlen gewinnt, aber trotzdem nicht anerkannt wird. Dies mag ihn an die Geschichte seiner eigenen Partei erinnern, die von der kemalistischen Oligarchie bedrängt wurde. Zweimal beantragten seine politischen Gegner ein Verbot der AKP vor dem Verfassungsgericht. Doch neben solchen ideologischen und emotionalen Sympathien gibt es auch ein rationales Konzept. Weder Israel noch der Westen wissen, wie sie die Hamas loswerden können. Irgendwann, so offenbar die Kalkulation Erdogans, werden sie einen Broker für Verhandlungen brauchen, und dann kommt seine Stunde. Dass ihm der Westen oder Israel das Vertrauen entziehen könnten, fürchtet Erdogan dagegen nicht ernsthaft, denn für seine Rolle als Mittler zwischen den Welten sieht er keinen Ersatzmann.

Der Versuch, dieses Jahr die lange vernachlässigten Beziehungen zur EU wieder zu festigen, kommt bei Erdogan sicher weniger von Herzen als sein Engagement für Gaza. Angesichts des offensichtlichen Unwillens der europäischen Politiker, die Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen, ist es verständlich, dass Erdogan die Europapolitik eher als lästige Pflicht betrachtet. Trotzdem ist seine Initiative in der EU-Politik ernst gemeint. Zu Jahresbeginn hat Erdogan mit Egemen Bagis einen seiner engsten Vertrauten zum Minister für die Beziehungen zur EU gemacht. Er selbst ist zum ersten Mal seit vier Jahren nach Brüssel gereist.
Erdogan will sich nicht vom Westen abwenden, vielmehr spielt er mit seiner Rolle als Vermittler zwischen Ost und West. Die Frage ist allerdings, ob er eine solche Position halten kann. Ihm und vielen seiner Wähler sind die westlichen Gesellschaften suspekt. Es besteht die Gefahr, dass er sich mehr und mehr einer »islamischen« Politik zuwendet.
Mit seiner Kritik an Israel hat Erdogan den Bogen bereits überspannt. Er sagt zwar immer wieder, Antisemitismus sei ein Verbrechen gegen die Menschheit und seine Kritik richte sich nur gegen Politiker und ihre Unterstützer. Doch in öffentlicher Rede sagt er dann nach einer scharfen Kritik am Gaza-Krieg rhetorisch an die Juden gewandt: »Wir haben euch vor 500 Jahren unsere Türen geöffnet!« Er erinnert damit daran, dass der osmanische Sultan 1492 die von den christlichen Eroberern vertriebenen spanischen Juden aufnahm. So stehen die türkischen Juden dann doch als schuldig und als undankbare Bürger zweiter Klasse da. Auch die religiöse Überhöhung des Konflikts verträgt sich nicht mit dem Anspruch, nur punktuelle Kritik zu äußern. Es war auch sicherlich kein Zufall, dass nach der Schweigeminute an den Schulen jüdische Schüler angepöbelt wurden.

Auf der offiziellen Webseite der AKP in Ankara erschien eine antisemitische Schrift. In ihr wurde u. a. behauptet, Hitler und seine »jüdischen Berater« hätten nur ein paar Massaker inszeniert, um in Übereinstimmung mit den Zionisten die Auswanderung nach Palästina zu fördern, wo die Juden »wie Heuschrecken« über palästinensisches Land hergefallen seien. Nachdem ein türkischer Journalist dies bemerkt und in der Parteizentrale angerufen hatte, wurde der Link sofort gelöscht. Angeblich hatte jemand die Seite gehackt und den Text ohne Wissen der Partei daraufgestellt.
Wer auch immer für den Vorfall verantwortlich ist, es wird jedenfalls schwer sein, die einmal in Gang gebrachte Entwicklung unter Kontrolle zu halten. Das gilt nicht nur für latenten Antisemitismus, sondern für das Lavieren zwischen Ost und West.
Zu den Verheißungen, die Erdogans AKP immer wieder im Osten entdeckt, gehört nicht zuletzt auch die Aussicht, dass die ölreichen Länder am Golf künftig ihr Kapital nicht mehr in New York, sondern in Istanbul anlegen. Diese Hoffnung mag für den Augenblick übertrieben sein. Die Investoren aus den Golfstaaten haben in den USA gerade erst viel Kapital verloren, die Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten gehört derzeit nicht zu ihren größten Sorgen. Ihre Investitionen im eigenen Land haben sie in der Erwartung geplant, dass der Ölpreis hoch bleibt. Doch auch wenn kurzfristig nicht viel zu erwar­ten ist, ist es nicht ausgeschlossen, dass langfristig die reichen Ölmonarchien etwas springen lassen. Spätestens dann besteht die Gefahr, dass sich die AKP mit ihrer Politik so weit der östlichen Seite zuwendet, dass viele die Türkei nicht mehr wiedererkennen werden.