Der Film »Der Vorleser«

Reue statt Rente

Das Böse aus dem luftleeren Raum der Geschichtsschreibung holen und es ins prekäre Leben junger Deutscher holen: Das will der außer Konkurrenz laufende Berlinale-Wettbewerbsbeitrag »Der Vorleser«.

Das Böse ist schön, es liebt, es ist auch nur Mensch. Um dies anhand eine Spielfilms zu beweisen, hätte es keine bessere Vorlage geben können als Bernhard Schlinks literarische Gratwanderung »Der Vorleser«. Darin lernt der 15jährige Schüler Michael (David Kross) Ende der fünziger Jahre die wesentlich ältere Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz (Kate Winslet) kennen. Hanna fackelt nicht lange und schickt den Bengel erst mal in den Keller, Kohlen holen. Wieder oben angekommen, ist er starr vor Dreck. Sie steckt ihn in die Badewanne, kurz darauf steht sie nackt hinter ihm.
Baden und Lieben werden zum Ritual der beiden, wie auch – das Vorlesen: Zunächst ist es die Schullektüre, dann ausgesuchte Literatur, die Michael zum Besten gibt.
Bis Hanna eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwindet – es war ihr zusehends peinlich geworden, dass sie so viel älter war als die Mitschülerinnen Michaels.
Dann beginnt der zweite des aus drei Teilen bestehenden Films. Acht Jahre später studiert Michael Jura und besucht während eines Studienausflugs mit Kommilitonen die Prozesse gegen KZ-Aufseherinnen Mitte der sechziger Jahre. Er traut seinen Augen nicht: Da sitzt die ehemalige Geliebte Hanna mit weiteren Angeklagten, allesamt Wärterinnen eines Außen­lagers des KZ Auschwitz, denen vorgeworfen wird, bei einem Todesmarsch Gefangene in eine Kirche gepfercht zu haben und ihnen nicht die Tür geöffnet zu haben, als die Kirche brannte.
Nun schmieden die Mitangeklagten ein Komplott, wie es scheint. Hanna soll die Hauptverant­wortliche gewesen sein. In dieser Funktion habe sie auch das Protokoll über das Geschehene geschrieben. Der ansonsten kritische Richter scheint seinen Verstand komplett auszuschalten und glaubt den Frauen – die im Übrigen so wirken, als seien sie noch im Dienst. Hanna hingegen schweigt dazu. Dass man die 300 nicht hät­­te laufen lassen können, da ansonsten das Chaos ausgebrochen wäre, sagt sie aus. »Was hätten Sie denn an meiner Stelle gemacht?« fragt sie den Richter.
Und diese Stelle wurde immerhin nach den Tarifen des Öffentlichen Dienstes bezahlt.
Dass sie gar nicht schreiben und lesen kann, mithin das Protokoll nicht verfasst haben kann, wie die anderen behaupten, scheint ihr so peinlich zu sein, dass sie ihren Analphabe­tismus verschweigt und, ohne mit der Wimper zu zucken, lebenslänglich in den Knast geht.
Michael auf der Tribüne kriegt vor Scham über die Verbindung zu Hanna den Mund ebenfalls nicht auf – wie der Zuschauer im Kinosaal seinen vor Staunen nicht mehr zu. Die ­nationalsozialistische Aufarbeitung kriegt Fallhöhe. Achtung, Drama, wenn nicht Tragödie!
Die mitangeklagten Nazi-Weiber erhalten milde Strafen, Hanna geht als vermeintliche Chefin lebenslänglich in den Bau. 20 Jahre wird sie am Ende im Gefängnis gesessen haben, wo sie sich doch noch das Lesen beigebracht und sich durch die NS-Aufarbeitungsliteratur gearbeitet haben wird. Am Tag ihrer Entlassung wird sie Selbstmord begehen.
Michael, mittlerweile Anwalt (Ralph Fiennes), hätte also genug Zeit, Courage zu entwickeln und die Seltsamkeiten der Beweisführung auf­decken können. Stattdessen nimmt er mit Hanna (immer noch die nun mit Müh und Not auf alt geschminkte Winslet) Kontakt auf. Aber nicht etwa, um ihr aus dem Knast zu helfen. Sondern um ihr kartonweise die mittlerweile auf dem Markt befindlichen Kassetten zu schicken, auf denen er literarische Klassiker wie Homers »Odyssee« liest.
Der Film soll provozieren. Die Frage ist nur, was und wen? Ob »Der Vorleser« nun hochdramatisch ist oder auch nur Farce oder wahrscheinlich beides – sein Anliegen scheint zu sein, den Nationalsozialismus und seine Parteigänger nicht mehr als monolithisch Böses darzustellen, sondern gleichsam differenziert als aus menschlichen Schwächen gemacht. Was andere an ihrer Stelle getan hätten, das ist die Frage, die auch manchen Kritikern zu schaffen macht, weil sie auch noch heute einer Antwort harre. Anderen stehen die Haare zu Berge. »Die alten Klischees verschwinden zwar, aber auch die letzte Distanz vor dem Nichtdarstellbaren«, schreibt Georg Seeßlen. Noch sei man zwar entfernt von der heimeligen Nostalgie mancher deutscher Nazifilme. »Aber aus dem großen Bruch werden kleine Übergänge.«
Wie sieht das aus? Sicher dürfte der Zweite Welt­krieg auch eine Ansammlung von Zwickmühlen gewesen sein; Leute sind gestorben, weil sie sich falsch entschieden haben, weil sie das Falsche gesagt haben, weil sie Pech gehabt haben. Hanna aber sagt Folgendes: Sie sei auf der Suche nach einem Job gewesen, da habe sie sich gefreut, als die Gefängnisbehörden Leute gesucht haben.
Der ökonomische Druck war so groß, dass es nicht anders ging? Nicht einmal auf eine Zwangs­verpflichtung der KZ-Hilfskräfte muss ausgewichen werden. Eine schöne Geschichte mag dies sein, die sich wie Schlinks Buch millionenfach verkauft hat und in 40 Sprachen übersetzen ließ.
Im Jahr 2004 gab es eine Ausstellung im KZ Ravensbrück, wo alle der insgesamt 3 500 Aufseherinnen ausgebildet worden waren, von denen später nur wenige vor Gericht gestellt wurden. Wenn sie dort landeten, dann sah die Verteidigungslinie oft so aus: Die Frauen rechtfertigten die Gewalt gegenüber den Häftlingen als maßvoll, wohingegen das Verhalten der Häftlinge als unvernünftig oder chaotisch beschrieben wurde. Die Aufseherinnen beriefen sich auf die Befehlskette, angeblich rationale Überlegungen und die Dienstpflicht. Handlungsspielräume wurden verschwiegen.
Ganz so benimmt sich auch Hanna. Aber »Der Vorleser« rückt die Perspektive des Films hinter die Position seiner Protagonistin: Aus einem »Es wäre auch anders gegangen« wird ein »Es ging nicht anders«. Hanna wird Opfer, wo sie Täterin war. Es verkehren sich Ursache und Wirkung – die Konzentrationslager waren keine rechtmäßige Institution.
Die Ravensbrücker Ausstellungskuratorin Simone Erpel gab auch über Begegnungen mit ehemaligen Fachkräften des Nazi-Regimes Auskunft. Sie hätten ihre frühere Tätigkeit auch nach dem Krieg bis heute als »ganz normale Arbeit« bewertet. Dies zeigen auch die im Begleitband ausgewerteten Interviews. Die Frauen hätten sich beschwert, dass sie nie hätten einen Rentenantrag stellen können, weil im Rentenausweis ein Verweis auf Ravensbrück und Auschwitz vermerkt gewesen sei.
Nun ist es nicht auszuschließen, dass es Ambivalenzen in der Biografie dieser Personen gab. Dennoch ergibt sich ein verzerrtes Bild: Reue war in der Regel nicht der Hauptcharakterzug der ehemaligen KZ-Bediensteten. Ebenso muss man nicht entscheiden wollen, ob die Geschichte der Hanna Schmitz wahr sein kann oder nicht. Ein Stück deutscher Vergangenheitsbewältigung sei das Drama, lautet eine Kritik aus den USA, denn: »Wer braucht einen weiteren Film, der die Schrecken des Holocaust mit kunstvoll vergossenen Tränen salbt und uns um Mitleid für eine Lageraufseherin bittet?« (New York Times) Derlei Einwände werden von Apologeten gern mit dem Verweis auf »poli­­­­tische Korrektheit« fortgewischt.
Wie sieht die Reue in »Der Vorleser« aus? Hanna überlässt Michael ihr Geld und möchte es einer jüdischen Analphabeten-Organisation ver­machen. Dafür reist Michael in die USA, um die Hinterlassenschaft einer mittlerweile stinkreichen KZ-Überlebenden zu überbringen. So verdichtet der Film, gewollt oder ungewollt, was zusammengehört: Das Nazipersonal landet im Knast. Die jüdischen Überlebenden landen weich.
»Der Vorleser« operiert in dieser Sichtweise nicht nur auf einem schmalen Grat; dieser ist auch noch aus dünnem Eis, möchte man hinzufügen. Sicherlich mag die Grenzverwischung dieser Art interessant für Schauspieler wie auch für Filmemacher sein. So lassen sich sicher Preise gewinnen.
Auffällig ist die Parallele zu einem ähnlich an der Kante operierenden Film: dem Berlinale-Beitrag »Der englische Patient« von 1997. Hier stellt ebenfalls die Absurdität des Kriegs Menschen auf die Nazi-Seite, nicht der freie Wille, indem Kollaboration als Handeln in der Not dargestellt wird.
Im Übrigen muss man sich auch nicht an allzu viele neue Gesichter gewöhnen. Anthony Minghella, der Regisseur, mittlerweile verstorben, wirkte bei »Der Vorleser« als Produzent. Und Ralph Fiennes spielt wie in »Der englische Patient« die Hauptrolle.
Aber was ist nicht alles business as usual: Die Autoren des Begleitbuchs zur Ausstellung in Ravensbrück stellten damals fest, dass Lehrer mit ihren Schulklassen häufig nur die Aufseherinnen-Ausstellung sehen wollten, einen Besuch der Gedenkstätte, also mithin die Wahrnehmung der Opfer-Perspektive, als »nicht zumutbar« für die Jugendlichen ablehnten. In dieser Logik sind Hannas Gefühle folgerichtig: dass sie sich dafür schämt, dass sie Analphabetin ist. Nicht dafür, dass sie im KZ gearbeitet hat.
Man geht mit dem Gefühl aus dem Kino, dass dieser Film Maßstäbe setzt.

»Der Vorleser«. USA/D 2008. R: Stephen Daldry. D: Kate Winslet, David Kross, Ralph Fiennes. Im Kino ab 26. Februar