Das Verschwinden von Kaufhäusern

Das Aussterben der Durchsagen vom kleinen Paul, der an der Kasse auf seine Mutter wartet

Schiesser, Märklin, Rosenthal und dann noch Hertie. Ein Leben ohne Feinripp, Edelporzellan und Modelleisenbahn ist ohne weiteres vorstellbar. Aber das gute alte Kaufhaus möchte unsere Autorin eigentlich nicht missen.

Als die Finanzkrise vor einigen Monaten losbrach, wirkte sie surreal und beunruhigend. Plötzlich konnten Staaten pleite gehen, und die Finanzexperten konzen­trierten sich in ihren Deutungsversuchen überwiegend auf die Psychologie der Börse und die hohe Emotionalität von Daten. Dabei schauten sie oft verlegen zu Boden oder ratlos in einen imaginären Himmel. Abgesehen von dieser Verhaltensauffälligkeit, irritierte auch die Tatsache, dass man Psychologie vorher nicht unbedingt als Kernkompetenz von Wirtschaftmathematikern wahrgenommen hatte.
Mit den Insolvenzen der Traditionsmarken Schiesser, Rosenthal, Märklin und Hertie erreicht die Krise die so genannte Realwirtschaft, und an der eigenen Reaktion auf diese Nachrichten wird zumindest die psychologische Dimension erfahrbar. Kindheitserinnerungen kehren zurück, man sieht die akkurat gefaltete Wäsche im Schrank der Großeltern, denkt an das gute Porzellan, das »zu schade für den Geschirrspüler« war, und erinnert sich an den freundlichen Herrn Hille aus der Nachbarschaft. Der trug stets Pullunder und Hemd und hatte auf seinem Dach­boden eine riesige Modelleisenbahn, und immer, wenn eine neue Lokomotive eintraf oder eine Schienennetzerweiterung anstand, wurden wir Kinder zur Besichtigung eingeladen. Heute kenne ich keine Männer mehr, die am Wochenende Bahnschaffner spielen.
Angesichts der Hertie-Insolvenz wirkt auch die mantraartige Wiederholung des Namens Ludwig Erhard in den politischen Debatten um »Rettungs­maßnahmen« nicht ganz zeitgemäß. Schließlich war das Kaufhaus eines der wirkungsmächtigsten Symbole der Wirtschaftswunderrepublik. In der Nachkriegszeit wurden in sämtlichen west­deutschen Städten mit rasender Geschwindigkeit Kaufhäuser hochgezogen. Keine neoklassizistischen Kathedralen, wie sie noch in der Gründerzeit typisch waren, sondern eher unästhetische Bauklötze. Glücklicherweise waren aus der Fußgängerperspektive, dank meterhoher Schaufenster, die oft fragwürdigen Fassaden kaum sichtbar. Kaufhäuser entwickelten sich zum innerstädtischen Zentrum, in ihrer Um­gebung gruppierten sich die kleinen Fachgeschäfte, die meistens den Namen der lokalen Besitzer trugen. In Kleinstädten war ein solches Kaufhaus oft das einzige Gebäude mit Rolltreppe. Bis Mitte der siebziger Jahre war das Konzept »Alles unter einem Dach«, mit einem Markt­anteil von über zwölf Prozent am gesamten Einzelhandel, eine Erfolgsgeschichte. Danach liest sich die Entwicklung der Kaufhäuser wie die Chronik eines angekündigten Todes. Die erste Konkurrenz entstand auf der »grünen Wiese« an der Peripherie. Ein­rich­tungshäuser, Baumärkte und Discounter lock­ten ihre Kundschaft vor allem mit unbegrenzten Parkmöglichkeiten an. Seit den neunziger Jahren verschärfen gläserne Arkaden, als Imitate idyllischer Einkaufsstraßen, die Situation.
Die kleinen Fachgeschäfte kapitulierten und wurden von Ketten übernommen, das Kaufhaus hält mittlerweile mühsam die Drei-Prozent-Marke. Unbeeindruckt von der Krise scheinen nur die Luxuskaufhäuser, die findet man allerdings nur in Metropolen, und dort leistet man sich auch nicht gleich mehrere KaDeWes, Harrods’ oder Lafayettes. Außerhalb der Zeiten von großangelegten Rabattaktionen verlässt die Kundschaft die Kaufhäuser der Mittelklasse nur mit kleinen Tüten. Experten sprechen mitt­ler­weile vom hybriden Konsumenten. Der erledigt die Beratung selbst mit Google, kauft Elektroschrott im Discounter, shoppt bei Amazon, und wenn er viel Geld ausgeben möchte, dann geht er dafür auch in einen richtig teuren Laden. Die Versuche, in Anlehnung an Shopping Malls, mit Optikern, Apotheken, Reisebüros und Friseuren neue Anlaufstationen zu schaffen und einen neuen Typus Kaufhaus zu entwickeln, scheiterten.
Die aufgerüstete Form verringert nur die Orien­tierungsmöglichkeiten, und ansonsten sehen Kaufhäuser immer noch so aus, wie sie schon immer ausgesehen haben.
Vielleicht hatte George A. Romero im Hinblick auf die Kaufhauskrise düstere Vorahnungen, als er 1978 die Handlung seines Zombiefilms »Dawn of the Dead« in ein Einkaufszen­trum verlegte. Chaplin und die Marx Brothers entdeckten das Kaufhaus als Abenteuerspielplatz, und in dieser Version scheint der »Mythos Kaufhaus«, zumindest in der Vorstellung der Menschen, die sich noch an erfolgreichere Zeiten dieser Institution erinnern, weiter zu existieren. Auch heute antworten Prominente auf die Frage nach dem größ­ten Kindheitstraum häufig, dass sie gerne mal eine Nacht in der Süß- oder Spielwarenabteilung eines Kaufhauses verbracht hätten.
Vielleicht liegt es an der Heißluftdüse im Eingangsbereich, die auf besonders eigenwillige Art den Eintritt in die Kaufhauswelt markiert, dass man sich mit dem aktuellen Wissen um die Vergänglichkeit plötzlich wieder an so viele Einkaufserlebnisse aus Kinderzeiten erinnert. Oder an den Verkäuferinnen, deren Brillen wie vor 30 Jahren an einer goldenen Kette um den Hals baumeln und zur Demonstration ihrer Beratungskompetenz auf die Nase gesetzt werden.
Zum Beispiel als mir mein erster Tornister mit dem strengen Hinweis, »dass jetzt der Ernst des Lebens beginnt«, an der Kasse überreicht wurde. Die Pfeile, die den Weg Richtung Kaufhausrestaurant weisen, erinnern mich daran, dass vielleicht der extrem dünne Filterkaffee und die trostlosen Plastikgewächse die Einsicht befördert haben, dass das Schwänzen von Unterrichtsstunden nicht unbedingt ein erhebendes Gefühl sein muss. Beim Studieren der Infotafel an den Rolltreppen entdeckt man längst verschollene Wörter wie »Kurzwaren« oder die Kombination »Garten und Heimtier«. Und spätestens, wenn die Lautsprecherdurchsage erschallt, dass der kleine Paul von seiner Mutter in der Elektro­abteilung abgeholt werden kann, befindet man sich wieder in der frühkindlichen Entwicklungsphase.
Meine erste Durchsage hatte ich im Alter von knapp drei Jahren, und ich fand sie großartig. Die Expedition in Richtung Spielwarenabteilung scheiterte allerdings ziemlich schnell an nicht vorhandener Lesefähigkeit und gewaltigem Respekt vor der Rolltreppe. Während ich mit einer Trosttüte Gummibärchen auf meine Eltern wartete, stellte ich mir ihre verzweifelte Suche nach dem abhanden gekommenen Kind vor und dachte, sie müssten bei der Nachricht aus dem Lautsprecher vor Freude in die Hände klatschen. Zur Begrüßung sagten sie dann aber nur: »Wir haben gar nicht bemerkt, dass du weg warst.« In Einkaufspassagen habe ich noch nie derartige Durchsagen gehört, vielleicht wollen Kinder da ganz einfach nicht verloren gehen, oder ihre Eltern sind um einiges wachsamer, weil sie nur noch selten komplizierte Informationsgespräche mit Verkäufern führen.