Die Arbeitskämpfe der Wasserverkäufer in Guatemala

Von Coca-Cola lernen

Wer in Guatemala in einer Gewerkschaft aktiv ist, lebt gefährlich. Wie zum Beispiel die Wasserverkäufer, die sich gegen Lohnkürzungen wehren wollten, eine Gewerkschaft gründeten und deshalb ihren Job verloren. Seit Monaten demonstrieren sie täglich vor dem Präsidentenpalast und werden dabei von Unbekannten terrorisiert. Ein Arbeiter wurde erschossen.

Die Fotos sehen aus, als ob sie mindestens 60 Jahre alt sind, aber Rafael Sanchez versichert, dass dieser Eindruck täuscht. Rahmen aus messingfarbenem Blech fassen große, schwarz-weiße Porträts von zehn jungen Männern ein. Inmitten der Bilder hat jemand etwas ungelenk eine graue Justitia, mit Waage, Schwert und Augenbinde, an die Wand gemalt. Die Fotos stammen aus dem Jahr 1978, als die zehn versucht haben, eine Gewerkschaft in der guatemaltekischen Niederlassung von Coca-Cola zu gründen. Keiner von ihnen überlebte das Vorhaben.
Die Bilder hängen wie eine Ahnengalerie an der Wand des Büros von Rafael Sanchez, in einem unscheinbaren, zweistöckigen Gebäude am Bahndamm in Guatemala-Stadt. Sanchez ist der Anwalt von Festras, dem Verband der guatemaltekischen Lebensmittelgewerkschaften. Und wenn man ihm eine Weile zuhört, dann kann man finden, dass er die juristischen Interessen eines recht traurigen Verbandes zu wahren hat.
»Genau genommen«, so sagt er, »gibt es in der Branche nämlich kaum Gewerkschaften. Die meisten existieren fast ausschließlich auf dem Papier.« Viele würden von der Betriebsführung komplett kontrolliert. Während des Bürgerkriegs, der bis 1996 im Land wütete, wurden viele Gewerkschaften »befriedet« oder ausradiert. »Seit der Unterzeichnung der Friedensverträge sind fast alle Versuche im Keim erstickt worden, Gewerkschaften aufzubauen, die diesen Namen verdienten«, sagt Sanchez und blickt über den Tisch, auf Edwin Enrique Alvarez, der seit einiger Zeit sein Mandant ist.

Alvarez ist 35, hat den Kopf voller dunkler Locken und seinen Bart mit Gummibändern zu Rastazöpfen gedreht. Seitdem auch er versucht hat, eine Gewerkschaft zu gründen, »die diesen Namen verdient«, ist er seinen Job los. Mit 31 Kollegen begann er deshalb vor einigen Monaten, den Haupteingang des guatemaltekischen Präsidentenpalastes zu belagern und eine der mächtigsten Familien des Landes zu kritisieren, weil sie Arbeitnehmerrechte missachtet. Mittlerweile hat Alvarez nur noch 30 Kollegen.
Er war einer der über 10 000 Arbeiter im Firmen­imperium der Castillo-Familie. Vor 123 Jahren hatte Mariano Castillo in Guatemala-Stadt eine Brauerei gegründet. Verwandte dehnten später das Geschäft aus und begannen, die Brausen von Pepsi-Cola abzufüllen. Mit dem Geld, das sie damit verdienten, kauften sie Banken, Lebensmittelfabriken und Einkaufszentren. Über 83 Gesellschaften gehören den Castillos heute; einer von 30 Dollars, die im Land erwirtschaftet werden, geht durch ihre Hände. Und wem es zu umständlich ist, das keimverseuchte Leitungswasser vor dem Trinken abzukochen, der kommt am »Agua Pura Salvavidas« des Castillo-Clans kaum vorbei.
Alvarez, Vater dreier Kinder, arbeitete seit 1995 bei der Distribuidora del Peten S.A., einer Castillo-Firma, die das Salvavida-Wasser in der Hauptstadt vertrieb. Er war dort Verkäufer. Von Montag bis Samstag begann er um fünf Uhr früh mit zwei Gehilfen, 450 hellblaue, durchsichtige Plastikfässer mit je 19 Litern Agua Pura Salvavidas auf einen LKW zu laden. Den ganzen Tag fuhren die drei dann durch die Straßen der Zona 4 von Guatemala-Stadt. Ein festes Gehalt bekamen sie nicht, alles, was sie hatten, war eine Art Gebietsschutz; nur sie durften in ihrem Bezirk das Wasser verkaufen. 15 Quetzales, 1,50 Euro pro Fass, berechneten sie ihren Kunden, 6,6 Cent davon durfte Alvarez behalten, je 3,9 Cent seine beiden Gehilfen. Gegen sieben, acht Uhr abends hatten sie meist alle Fässer verkauft.
Das klingt nach saurem Lohn für eine üble Plackerei, doch am Ende jedes Monats hatte Alvarez umgerechnet rund 700 Euro eingenommen. In Guatemala, wo ungelernte Arbeiter oft kaum mehr als 100 Euro verdienen, ist das viel Geld. Hinzu kamen die Sozialleistungen, die die Castillos gewährten: 30 Tage Urlaub gab es im Jahr und im Dezember eine Weihnachtsgratifikation, die fast doppelt so hoch war wie ein Monatslohn, Angestellte und ihre Familien wurden krankenversichert, in Notfällen gab es günstige Kredite. Alvarez findet, dass es Bedingungen waren, um die es sich zu kämpfen lohnt.
2004 lagen die dunklen Jahre des Bürgerkriegs eine Weile zurück, die ersten Investitionen ausländischer Firmen begannen, nach Guatemala zu fließen, die Wirtschaft des Landes öffnete sich langsam. In jenem Jahr brachte die brasilianische Am-Bev-Brauerei »Brahva-Bier« ins Land. Und die Guatemalteken waren nach fast 120 Jahren einer Abwechslung zur Cerveza Gallo der Castillos nicht abgeneigt. Nach neun Monaten enthielt jede dritte Bierflasche, die in Guatemala über eine Theke geschoben wurde, Brahva-Bier.
Die Castillos ließen die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Nach und nach riefen sie die Arbeiter all ihrer Firmen zusammen – auch derer, die nichts mit Bier zu tun hatten, so wie Salvavidas. Die Konkurrenzsituation sei ernst, teilten die Branchenmanager den Arbeitern mit, weshalb man gezwungen sei zu sparen. In Zukunft werde es deshalb keine Gesundheitsleistungen mehr geben, keine Kredite und nur noch halb so viel Urlaub und Weihnachtsgeld wie bisher; auch mit Entlassungen sei zu rechnen.

Eine Gewerkschaft zu gründen, ist in Guatemala eigentlich nicht schwierig. Es genügt, wenn 20 Arbeiterinnen oder Arbeiter eines Betriebs eine Satzung festlegen, ein Gründungsformular unterschreiben und sich dann beim Arbeitsministerium regis­trieren lassen. Einer Gruppe um Alvarez schien dies ein vertretbarer Aufwand, um die Grundlage für den Kampf gegen ihre angekündigte Schröpfung zu schaffen. Beim ersten Mal unterschrieben 150 der 640 Auslieferer eine Gründungsurkunde, die Alvarez im Februar 2007 beim Arbeitsministerium einreichte. Einige Wochen später wurde die Registrierung abgelehnt – aus formalen Gründen.
Der Geschäftsleitung entging dies nicht. Sie setzte Alvarez und einige andere vor die Tür. Die übrigen Unterzeichner bekamen unmissverständlich bedeutet: Wer noch einmal den Betriebsfrieden stört, der fliegt. Die Gruppe um Alvarez klagte ihre Wiedereinstellung ein – und versuchte erneut, ihre Gewerkschaft registrieren zu lassen. 108 Arbeiter unterschrieben diesmal, die Ablehnung aus dem Ministerium kam nach drei Wochen. Fünf Ablehnungen, alle aus formalen Gründen, handelten sie sich insgesamt ein, und bis auf 43 Kollegen machten ihre Chefs ihnen alle Unterstützer abspenstig. Im März 2008 schickten sie den sechsten Antrag auf Registrierung des Sindicato de Trabajadores de la Empresa Distribuidora del Petén S.A., kurz Sitrapeten, an das Arbeitsministerium.
Am 2. Mai 2008, einem Freitag, bekamen die Auslieferer zum Feierabend eine Einladung in die Hand gedrückt. Sie mögen am nächsten Morgen um sechs Uhr zu einem »Fahrsicherheitstraining« erscheinen. Die Kurse sollten in verschiedenen Hotels stattfinden, in keines wurden mehr als 50 Arbeiter bestellt. Doch statt Fahrlehrern erschienen Anwälte der Geschäftsführung, begleitet von bewaffneten Sicherheitskräften. Ihre Botschaft an die Arbeiter war kurz: Die Distribuidora del Petén sei geschlossen, Salvavidas habe den Vertriebsvertrag gekündigt. Ab sofort sei eine Firma namens Distribuidora Primordíal für den Vertrieb von Agua Pura Salvavidas zuständig. Für jeden der Arbeiter hatten die Anwälte einen neuen Arbeitsvertrag dabei – zu weitaus schlechteren Konditionen. Außer für die 43, die auf der Mitgliederliste von Sitrapeten standen. Für sie gab es nichts. Die meisten der übrigen unterschrieben.
Am Montag ging alles weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Arbeiter belieferten die gleichen Kunden mit dem gleichen Wasser, mit den gleichen LKW, den gleichen Uniformen, und sie hatten die gleichen Chefs. Viele waren wütend; zu Alvarez und seiner Gruppe Kontakt aufzunehmen, traute sich aber niemand.
Sanchez, der Anwalt, hätte dies vorhersagen können. »Diese Strategie ist typisch. Firmen, deren Beschäftigte sich zu organisieren versuchen, handeln in Guatemala meistens so: Entlassungen, Drohungen, Übergriffe«, sagt Sanchez. »Scheitert dies, dann gehen die Firmen urplötzlich ›bankrott‹, und neue Gesellschaften der gleichen Besitzer übernehmen das Geschäft. Wir konnten das noch nie anzeigen«, klagt er, denn »die Arbeiter haben immer Angst, dass alles noch schlimmer wird, wenn sie sich wehren«.
Dieses Mal war das jedoch anders. Am 5. Mai bauten Alvarez und seine geschassten Kollegen ein Lager vor dem Werkstor auf. »Wir bleiben hier, bis wir wieder eingestellt werden«, schrieben sie auf Transparente.
Am Mittwoch, dem 7. Mai, bekamen sie Post vom Arbeitsministerium. Sitrapeten sei offiziell als Gewerkschaft anerkannt, war darin zu lesen, mit Alvarez als Generalsekretär und vier Kollegen als Vorstand. Sie sind die erste echte Gewerkschaft im Imperium der Castillos. Am selben Tag gingen sie in das Büro von Rafael Sanchez und beauftragten ihn, ihre Wiedereinstellung einzuklagen.
Zu fünf Vermittlungstreffen hat das Arbeitsministerium die Parteien seither einberufen. Ein Ergebnis gibt es bisher nicht: »Absolut nichts«, sagt Sanchez. »Ihre Anwälte haben immer nur auf die Schließung des Betriebes verwiesen.« Offiziell schweigt der Konzern zu dem Streit.
Nach einiger Zeit bauten die Gekündigten ihr Lager vor dem Palast des sozialdemokratischen Präsidenten Alvaro Colóm auf. Einen öffentlichkeitswirksameren Platz gibt es im Land kaum, und so ist ihre Anwesenheit dort nicht gerade von Vorteil für den Ruf der Castillo-Familie. Denn seitdem steht ihr Zelt da und bleibt immer besetzt. Die Arbeiter wechseln sich in Schichten ab. Auf dem Weg dorthin seien sie manchmal von Motorradfahrern verfolgt worden, erzählen sie. Einmal sei eine Tränengasgranate auf sie geworfen worden. Eines Nachts seien bewaffnete Männer am Zelt aufgetaucht. »Wenn ihr nicht bald verschwindet, werden wir sehr abstoßende Dinge tun«, so die Botschaft. Die Protestierenden berichten außerdem von Anrufen, manchmal habe man ihnen Geld angeboten, meist seien sie bedroht worden. »›Lassen Sie uns das ein für allemal klären‹, haben sie gesagt«, erinnert sich Alvarez an einen der Anrufe. Er wollte seinen Job zurück, doch das Angebot lautete: »Nimm Geld – und gib Ruhe.« Zwölf Arbeiter hielten dem Druck nicht stand und lösten sich von Sitrapeten.

Auch der 27 Jahre alte Fredy Fernando Villagrán erhielt Drohungen. Seit 2003 war er Auslieferer bei El Peten und Mitglied im Vorstand von Sitrapeten. Doch er blieb bei der Stange. Bis zum 8. Juni vorigen Jahres. Da rief ihn ein alter Kollege an, der auch für die Castillos arbeitete und noch dort beschäftigt war. Ob sie nicht einen trinken gehen wollten, fragte der Ex-Kollege, und sie verabredeten sich in der Ceviceria Lupita. Gegen 19 Uhr trafen sich die beiden in dem Lokal. Kurz nach ihrer Ankunft, so berichtete Villagrán später, standen zwei Männer in der Tür des Lupita. Die beiden feuerten in den Raum. Vier Gäste starben sofort, darunter auch der Kollege, der Villa­grán eingeladen hatte. Die Polizei stellte anhand von Patronenhülsen fest, dass einer eine 9-Millimeter-Pistole und sein Begleiter ein AK-47-Sturmgewehr bei sich trug. In Villagráns Körper blieben vier Kugeln stecken, Sanitäter brachten ihn ins Krankenhaus, die Ärzte konnten sein Leben fürs Erste retten. Fast sechs Wochen lag er auf der Intensivstation. Am 20. Juli starb er.

»Gewerkschafter in Guatemala werden vor allem aus ideologischen Gründen verfolgt«, meint Alvarez. »Die Kriegspropaganda, die sie als ›Verbündete der Guerilla‹ gebrandmarkt hat, wirkt bis heute nach. Man glaubt, dass wir verderblich für die Wirtschaft und die Gesellschaft sind.«
Der blanke Terror des Bürgerkriegs sei allerdings subtileren Strategien gewichen, sagt der Anwalt Sanchez. »Das heißt nicht, dass es jetzt Gewerkschaftsfreiheit gäbe, aber die Wege, sie zu verhindern, sind andere. Vieles läuft über juristische Tricks, die Firmen sind viel flexibler geworden.« Sanchez vermutet, dass das Vorgehen gegen Gewerkschaften »viel mit der Öffnung der Märkte zu tun hat. Sie hat eine Erosion sozialer Errungenschaften ausgelöst.«
In ihrem neuesten Bericht für die WTO schreibt der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB), dass Arbeiter in dem Land »anhaltender gewaltsamer Unterdrückung, einschließlich des Mordes an Gewerkschaftern«, ausgesetzt sind. Die Justiz begegne diesem Problem in »absolut unzureichender Weise«. Dies gelte insbeson­dere für die Export Processing Zones und den Agrarsektor. Insgesamt würden »alle möglichen zweifelhaften Praktiken eingesetzt, um Gewerkschaften loszuwerden, ohne dass Sanktionen erfolgen«.
Die Liste der Opfer dieser gewaltsamen Unterdrückung ist lang. Wenn Rafael Sanchez wollte, dann könnte er die Galerie an seiner Wand alle paar Monate erweitern. 2007 töteten Unbekannte Pedro Zamora, den Generalsekretär der Hafenarbeitergewerkschaft von Quetzal, mit 20 Schüssen; im März 2008 wurde Miguel Ramírez, Gründungsmitglied der Bananenpflückergewerkschaft, in Escuintla ermordet; im September desselben Jahres brachten Unbekannte José Ixtacuy, Sekretär der Gewerkschaft der Elektrizitätswerke von Retalhuleu, um, und am 12. Januar 2009 schossen Unbekannte Amado Monzón, den Sprecher der Straßenhändlerbewegung von Coatepeque, dreimal in den Kopf. Die »subtilen Strategien« sind in Guatemala nur das erste Mittel der Wahl.
Am 6. Februar entschied die 6. Kammer des Arbeitsgerichts von Guatemala-Stadt, dass die 30 verbliebenen Mitglieder von Sitrapeten von der Distribuidora Primordíal wieder eingestellt werden müssen – zu den alten Bedingungen. Sanchez ist sich nicht sicher, ob das schon ein Erfolg ist. »Das Wahrscheinlichste ist, dass sie sich irgendetwas ausdenken werden, um sie auf keinen Fall wieder in den Betrieb zu lassen«, fürchtet er. Ob es bis jetzt überall so gelaufen sei? Sanchez schüttelt den Kopf.
Er deutet auf die Wand mit den Bildern der toten Coca-Cola-Arbeiter. Dort sei es anders gekommen: »Nach den Morden hat es in den Abfüllanlagen mit internationaler Unterstützung einen langen, harten Kampf der Beschäftigten gegeben«, sagt er. »Die Gewerkschaft Stecsa, die dabei entstand, hat den Bürgerkrieg überstanden, seitdem zählen die Arbeiter bei Coca-Cola zu den am besten organisierten des Landes.«