Der Staat als Wolfsrudel

Die Aufhebung des staatlichen Herrschaftsverhältnisses kann auch einen barbarischen Rückfall bedeuten. Das Streben nach Überwindung des Staates muss daher mit der Forderung nach mehr Selbstorganisierung einhergehen.

»Ein Depp ist er, der Staat!« heißt es im ersten Bild. Und im zweiten: »Es lebe der Staat!« So versuchte der Comiczeichner Gerhard Seyfried während der Anti-Repressions-Kampagnen der frühen achtziger Jahre die Begriffe der »Verunglimpfung des Staates« und der »Verglimpfung« desselben zu illustrieren. Die »Verunglimpfung« ist ein im Strafgesetzbuch vorgesehenes Delikt, die »Verglimpfung« hingegen eine freie Erfindung des Zeichners. Das eine sei verboten, das andere sei erlaubt, erfuhr das geneigte Publikum.
Dass die gesellschaftliche Wirklichkeit bisweilen ein wenig komplizierter ist, als diese vermeintliche Alternative nahelegt, wusste vermutlich auch der Karikaturist. Er behauptete auch nicht wirklich, eine Gesellschaftstheorie aufgestellt zu haben. Den Eindruck, dies tun zu wollen, hat man hingegen bei Philipp Lenhard (Jungle World 7/09), der eine Seite lang – reichlich allgemein bleibend – über das Thema doziert, ob kommunistische Kritik »nun auf die Abschaffung des Staates oder auf die Erringung der Macht zwecks Veränderung des Staatszwecks abzielen sollte«.
Dabei ist die Frage vom Grundsätzlichen her längst beantwortet. Noch der autoritärste Marxismus-Leninismus im 20. Jahrhundert hatte, zumindest theoretisch, auch das Ziel, auf dem Weg zum Kommunismus das »Absterben des Staates« zu organisieren. Auch dann noch, als dies längst zum Lippenbekenntnis verkommen war, da sich in Gestalt der autoritären Staatsbürokratie in der Sowjetunion eine neue eigenständige Gesellschaftsschicht herausgebildet hatte, die alles wollte, nur nicht das Verschwinden des Staates, ihrer Existenzgrundlage.

Die Frage, ob das »Absterben des Staates« ein erstrebenswertes Ziel sei, war also als theoretische Streitfrage – und nur als solche behandelt Philipp Lenhard sie – längst geklärt. Bei Lenin war, etwa in den Aprilthesen von 1917, sogar von der »Zerschlagung des Staatsapparats« die Rede. Allein, in der Praxis haperte es. Denn auch wenn die Bolschewiki anfänglich nicht die Staatsmacht ergriffen, um nur den Zweck ihrer Ausübung zu ändern, sondern tatsächlich um sie (perspektivisch) abzuschaffen, so kam das Gegenteil dabei heraus. Die Ursachen dafür liegen auf zwei Ebenen: anfänglich überwiegend bei äußeren Fak­toren – Entfesselung eines grausamen Bürgerkriegs durch die Konterrevolution, militärische Interventionen gegen die junge Sowjetrepublik –, aber alsbald auch bei handfesten inneren Faktoren in Gestalt des Eigeninteresses einer neuen Herrschaftsschicht.
Wäre es auch anders gegangen? Sicherlich: An Versuchen, Perspektiven einer alternativen revolutionären Entwicklung zu zeichnen, bestand zu allen Zeiten kein Mangel. Von der revolutionären Commune von Paris im Frühjahr 1871 über die linke Opposition in den Kommunistischen Parteien und die Anarchosyndikalisten in Madrid 1937 bis zu den Experimenten im sandinistischen Nicaragua versuchte man oft, die Tendenz zur Festigung und Verewigung einer »revolutionären« Führungsschicht zu bekämpfen und zu verhindern.
Freilich, Philipp Lenhard und einige der anderen Autoren der Diskussionsreihe zum Etatismus haben damit schlichtweg nichts am Hut. Ihnen geht es überhaupt nicht darum, die Frage danach, wie man das Umschlagen einer revolutionären Entwicklung in Unterdrückung – unter neuen politischen Formen – verhindern kann, zu klären. Sind doch Lenhard und auch Uli Krug (Jungle World 2/09) in Bälde Referenten auf einem Berliner Kongress, der sich »ideologiekritisch« nennt – weil man »antideutsch« nicht mehr heißen möchte – und dabei lediglich abgestandenen bürgerlichen Antitotalitarismus feilzubieten hat, der in erster Linie Antikommunismus ist. Im Aufruf zu dem Kongress heißt es: »Dass es Kommunisten gibt, die allen Ernstes im Herbst 2008 die Revolution (…) empfehlen, stellt nachhaltig unter Beweis, dass hier lediglich am eigenen Leben verzweifelnde Menschenhasser den westlichen Gesellschaften ein Ende mit Schrecken herbeiwünschen« – um, wie es sinngemäß weiter heißt, deren Bürgern ihren Wohlstand zu rauben. Ähnliches lernte man über die kommunistische Bedrohung auch schon im Schulunterricht während der Adenauer-Ära. An der Macht­übernahme der Nationalsozialisten sei, so heißt es im Kongressaufruf, »der Revolutionarismus von Nazis und KPD vor 1933« schuld, der sich »in aggressiver Weise gegen die Bosse gerichtet« habe – wie man ja bemerken konnte, möchte man spöttisch hinzufügen, als Adolf Hitler seine berühmte Rede vor dem »Herrenclub« in Düsseldorf hielt. Hätten sie bloß die armen Bosse in Ruhe gelassen, die bösen Kommunisten – ja, dann wäre das mit den Nazis nicht passiert.

Dabei stimmt es im Übrigen nicht einmal, dass Adolf Hitler auch nur halb so etatistisch gewesen wäre, wie etwa Uli Krug suggeriert – um ein vermeintliches Kontinuum hin zur Sozialdemokratie zu unterstellen, aber keineswegs zu den liberalen Parteien wie der Deutschen Volkspartei und der Wirtschaftspartei. Obwohl es deren kleinbürgerliche Massenbasis war, die 1929 bis 1933 scharenweise zur Nazipartei überlief, während der soziale Block rund um SPD und KPD bis zu den letzten freien Wahlen weitgehend stabil blieb.
»Menschenrecht bricht Staatsrecht«, lautet eines der berühmteren Zitate Hitlers. Es besagt freilich nicht, dass der nationalsozialistische »Führer« ein Freund der Menschenrechte gewesen wäre: Im Blick hatte er, als er dies in »Mein Kampf« schrieb, vor allem das Aufsprengen von »Völkergefängnissen«, um ethnisch definierten und vor allem »volksdeutschen« Minderheiten innerhalb von multinationalen Staaten zum »Ausbruch« zu verhelfen.
Dennoch zeigt das Zitat ganz gut das Verhältnis der Nationalsozialisten zum Staat als solchem, als einem Gebilde, das auf bürokratisierten, unpersönlichen Regeln und Funktionsweisen fußt und abstrakten Rechtsregeln unterworfen ist. Weit entfernt davon, ihr Ideal darzustellen, strebt die nationalsozialistische Ideologie im Prinzip nach einer Aufhebung des bürgerlichen Staates. Allerdings selbstverständlich nicht in eine Gesellschaft ohne Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse. Angestrebt wird vielmehr die Rücknahme des Staates in eine Gesellschaft, die wie ein Wolfs­rudel vorgestellt wird und nach »natürlichen Prinzipien« – welche keiner Kodifizierung bedürfen – unter Anführung eines Leitwolfs funktionieren soll. Die »Natur« soll auf diese Weise wieder zu ihrem Recht kommen, und das »Künstliche«, gesellschaftlich Hergestellte und Abstrakte soll ihr weichen.
Das staatliche Herrschaftsverhältnis, in seinem »normalen« Zustand, ist etwas völlig Anderes. Und mit ihm verhält es sich letztlich sehr ähnlich wie mit dem Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis: Beider Aufhebung muss, als Ziel emanzipatorischer Kritik, angestrebt werden. Aber in beiden Fällen gleichermaßen gilt, dass es eine negative wie eine positive Aufhebung gibt, also eine »Höherentwicklung« und ein »Zurückfallen« im Sinn der historischen Bewegungsrichtung. Eine negative Aufhebung des staatlichen Herrschaftsverhältnisses, einen barbarischen Rückfall finden wir etwa auch bei Formen des Staatszerfalls – begleitet von der Übernahme der Macht durch Warlords und ihre Banden –, wie in Somalia, Liberia oder Sierra Leone im zurückliegenden Jahrzehnt.

Vorwärts weisend hingegen wäre ein Streben nach Überwindung staatlicher Herrschaft, durch eine verbreiterte Tendenz zu Selbstorganisierung und Selbstregierung. Natürlich nur dann, wenn das zu Grunde liegende soziale Kollektiv universalistisch und nicht national oder »ethnisch« definiert wird. Dies wäre das positive Dritte sowohl zum staatlichen Herrschafts- als auch zum kapitalistischen Ausbeutungszusammenhang: die Selbstverwaltung der Produzierenden, die kollektive Selbstbestimmung und -organisierung jenseits des Kapitalverhältnisses. Solches wird freilich weder vom Himmel fallen noch allein durch den klugen Gedanken in die Welt kommen. Vielmehr kann es ausschließlich als Produkt gesellschaftlicher Kämpfe und historischer emanzipatorischer Erfahrungen entstehen.
Einstweilen aber stehen staatliche Herrschafts- und kapitalistische Ausbeutungspraxis in einem engen Zusammenhang. Die Erstgenannte hat die Letztgenannte abzusichern. Und die Konzentration der zentralen Entscheidungen über Produktion und Investition in privaten Händen sorgt ihrerseits dafür, dass es dem Wahlvolk letztinstanzlich versagt wird, über zentrale Fragen der Lebensgestaltung und Reichtumsverteilung zu verfügen. Die private Verfügungsgewalt zumindest über wesentliche Teile der Ökonomie sorgt dafür, dass eines der grundlegenden Funktionsprinzipien der bürgerlichen Demokratie – die Elitenkonkurrenz, die zum periodischen Austausch der Führungsspitze führen sollte – nicht zu dem unerwünschten Ergebnis führt, dass tatsächlich einmal zentrale Herrschaftsfragen zur Disposition stehen.
Staat und Kapitalmacht bilden also zwei wesentliche Bestandteile einer gesellschaftlichen Totalität. Was sich zwischen beiden ändert, solange revolutionäre Brüche ausbleiben – etwa im Wechselspiel eher sozialdemokratischer und eher konservativer Regierungen, zwischen eher keynesianischer Krisen- und wirtschaftsliberaler »Angebotspolitik« –, ist nicht das grundsätzliche Zusammenspiel zwischen beiden. Es ist lediglich das Mischungsverhältnis, die Dosierung zwischen den Interventionen beider Akteure. Daran wird sich auch in der jetzigen Krise mit Sicherheit nichts ändern.