In Israel wurde nationalistisch gewählt

Sharon lebt

Israel erlebte bei der Parlamentswahl am 10. Februar einen Rechtsruck. Das Wahl­ergebnis offenbart aber auch einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend zu einem neuen Nationalismus.

Das verwirrende Wahlergebnis in Israel ließ auf den ersten Blick nicht erkennen, welche Regierung die israelischen Wähler nun haben wollten. Die EU gratulierte mangels einer klaren Entscheidung für Zipi Livni (Kadima) oder Benjamin Netanjahu (Likud) einfach »den Wahlsiegern«. ­Israel ist zwar immer für Überraschungen gut, aber diesmal gestalten sich die Koalitionsverhandlungen besonders schwierig. Eine große Koalition von Kadima und Likud hängt vor allem von der Größe der Egos der beiden Parteivorsitzenden ab. Da beide Parteien zusammen nicht genügend Mandate für eine regierungsfähige Mehrheit auf sich vereinen, sind sie auf die Un­ter­stützung einer weiteren Partei angewiesen. Livni will nicht als Vorzeigepolitikerin für Netanjahu dienen, falls er die Partei Israel Beiteinu (Unser Haus Israel) des rechtspopulistischen Avigdor Lieberman mit den besten Ministerposten ausstattet. Netanjahu wäre nicht bereit, mit der auf 13 Mandate abgerutschten Arbeitspartei am Kabinettstisch zu sitzen. Der Likud hat zudem eine Rotation zwischen Livni und Netanjahu als Ministerpräsidenten ausgeschlossen, was Livni wiederum als »Minimalforderung« versteht, um sich auf eine Koalition unter Netanja­hu ein­zulassen.
Livni hat mit dem zusammengebrochenen »linken Block« keine echte Chance für eine Mehrheit, selbst wenn sie noch einige fromme Partei­en mit üppigen Subventionen für deren Erziehungseinrichtungen locken könnte. Beide Linksparteien, Arbeitspartei und Meretz, sind auf einen kümmerlichen Rest von zusammen 16 Mandaten zusammengeschrumpft. Mehr Spielraum hat Netanjahu mit den Rechtsparteien. Doch dieser so genannte Rechtsblock ist beileibe nicht homogen. So ist die Partei Israel Beiteinu des russischen Einwanderers Lieberman klar säkular orientiert. Bei vielen seiner Wähler verursacht eine saftige Schweinshaxe keine Abscheu. Die sephardisch-religiöse Schas-Partei hingegen sieht in Lieberman einen »Satan«, dem traditionelle jüdische Werte ein Gräuel sind. Während Lieberman die standesamtliche Ehe zum Ziel seiner Wahlkampagne erhoben hat, halten die orthodoxen Parteien ein derartiges Ansinnen für eine Gefahr für den Bestand des Judentums.

Und so ist das Wahlergebnis jenseits von Koalitionsrechnereien vor allem hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung Israels von Interesse, besonders, wenn man das Ergebnis dieser Wahl mit den Ergebnissen der vergangenen Wahlen vergleicht. Die Kadima-Partei wurde erst 2005 von Ariel Sharon gegründet, um den Rückzug aus Gaza durchzusetzen. Der Kadima traten Likud-Spitzenpolitiker bei wie Zipi Livni, Zachi Hanegbi und andere Konservative. Ebenso gab es Übertritte aus der sozialistischen Arbeitspartei. Der prominenteste Abtrünnige der Arbeitspartei war Shimon Peres. Vom Likud abgespalten hatte sich auch Avigdor Lieberman, dessen Partei jetzt eine Schlüsselrolle zukommt.
Wenn man Kadima, Likud und Israel Beiteinu als nicht-religiöse, nationalistisch-jüdische Parteien definiert, so ist dieser Block insgesamt gewaltig gewachsen. In der 16. Knesset 2003 war dieses politische Lager mit 45 Abgeordneten vertreten, im Jahr 2006 waren es 52, jetzt verfügt es über eine gewaltige Mehrheit von 70 Abgeordneten. Kadima erhielt 2006 auf Anhieb 29 Mandate und hat jetzt unter Livni 28. Der Likud war 2003 noch mit 38 Abgeordneten in der Knesset vertreten, wegen der Gründung von Kadima waren es 2006 nur noch zwölf, jetzt sind es 27 Abgeordnete. Einen steten Aufwärtstrend erlebte Avigdor Liebermans Partei, von vier auf elf und jetzt auf 15 Mandate.
Dieser Zuwachs des nationalen Lagers ging vor allem auf Kosten des linken »Friedenslagers«. Die Arbeitspartei verlor bei den letzten drei Parlamentswahlen stetig Sitze, von 21 Abgeordneten blieben 19, und jetzt sind es nur noch elf. Isra­els Linkspartei Meretz erlebte einen ähnlichen Niedergang, von sechs auf fünf auf jetzt nur noch drei Abgeordnete. Diesem antireligiösen »liberalen« Lager könnte man auch noch die zionistisch-säkulare Shinui-Partei hinzurechnen, die 2003 noch zwölf Abgeordnete in die Knesset entsenden konnte, sich 2006 aber quasi in Luft auflöste. Ihre Wähler stimmten 2006 vor allem für die neugegründete Rentnerpartei, die mit sieben Abgeordneten in die Knesset einzog. Bei der Wahl vor zwei Wochen scheiterte die Partei an der Zwei-Prozent-Hürde.

Für den Zusammenbruch der Linken gibt es mehrere Erklärungen, jenseits personeller Unfähigkeiten oder interner Misswirtschaft. Die Arbeitspartei wird mit den Osloer Verträgen, der Rück­kehr Yassir Arafats, der Entstehung der Au­tonomiebehörde und dem Friedensprozess identifiziert. Meretz steht für Konzessionen an die Palästinenser und für die Genfer Initiative. Aus Sicht der israelischen Wähler hat diese Poli­tik nicht den ersehnten Frieden gebracht, sondern auf Israels Straßen zu mehr Toten geführt als ­jemals zuvor in der Geschichte des Staates.
Die Enttäuschung über den mit den Linksparteien identifizierten Osloer Friedensprozess steht keineswegs im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung längst die Ziele und Prinzipien dieses Prozesses akzeptiert hat. Eine Abtrennung von den Palästinensern und deren Entlassung in irgendeine Selbständigkeit gilt längst als nationaler Konsens, zumal zwei rechte Ministerpräsidenten gegen­über den Palästinensern in den besetzten Gebieten mehr territoriale Konzessionen gemacht haben als die linken Präsidenten Yitzhak Rabin, Shi­mon Peres und Ehud Barak zusammen. Netanjahu räumte Teile der heiligen Stadt Hebron und stellte etwa 15 Prozent des Westjordanlandes unter palästinensische Kontrolle. Sharon räumte den gesamten Gaza-Streifen und riss dort alle Siedlungen ab. Ebenso räumte er den gesamten Norden des Westjordanlandes, in­dem er vier Siedlungen nördlich von Nablus aufgab.
Ariel Sharon hat der Vorstellung von einem palästinensischen Staat neben Israel Auftrieb gegeben, indem er mit Zaun und Mauern den möglichen Verlauf einer Grenze zwischen beiden Staaten betonierte. Natürlich beklagen die Palästinenser den »Landraub« der Israelis und halten deshalb das gigantische Bauwerk für illegal. Doch politisch hat Sharon eine neue Wirklichkeit geschaffen. Israel führte den Palästinensern vor Augen, dass sie eines Tages »jenseits der Mauer« leben werden, während den israelischen Siedlern klar wurde, dass die Checkpoints, die Straßenkontrollen auf dem Weg ins Kernland Israels, eines Tages reguläre Grenzübergänge werden könnten. Die Gebäude für Zollabfertigung und Passkontrollen sind schon mit Millionenaufwand errichtet worden. Nichts deutet darauf hin, dass die Mehrheit der Israelis am ganzen Westjordanland festhalten will.

Ein Anzeichen dafür ist auch der Niedergang der klassischen Siedlerparteien. Bei den vergangenen drei Wahlen schrumpften die Nationalreligiöse Partei und ihre Abspaltungen von 14 auf neun auf jetzt nur noch sieben Mandate. Die Intifada, die Selbstmordattentate, die feindselige Propaganda der palästinensischen Regierung und der Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen haben auf der israelischen Seite wachsende Feindseligkeit erzeugt. Die bisher vor allem von linken Parteien propagierte Politik der »Versöhnung«, des »Verständnisses« und des »Ausgleichs« mit den Palästinensern ist längst einem Wunsch nach Ausgrenzung, Abspaltung und Distanz gewichen. Beim Abspaltungsprozess jedoch stören die Siedler.
Der religiöse Block wuchs zunächst von 29 auf 37 und verkleinerte sich jetzt auf 30 Mandate, so dass sich keine eindeutige Entwicklung bei den Parteien der Orthodoxen ablesen lässt. Anders bei den drei arabischen Parteien kommunistischer bzw. islamistischer Ausrichtung, die jeweils mit drei bzw. vier Abgeordneten in der neuen Knesset vertreten sind. Das arabisch-israelische Mossawa-Zentrum verzeichnete mit Genugtuung, dass die arabischen Parteien insgesamt 304 794 Stimmen auf sich vereinen konnten. Dabei entfielen auf Chadasch und Balad, die Kommunisten und Linksnationalisten, etwa 200 000 Stimmen und auf die Islamisten das übrige Drittel. Etwa 14 Prozent der 3 416 587 abgegebenen Stimmen stammten von Arabern, erklärte ein Mitarbeiter von Mossawa. So bleibt die Frage, wohin die restlichen Stimmen gegangen sind.
Die Zeitung Jedijot Achronot hat die Ergebnisse genauer analysiert. In nicht-jüdischen arabischen Städten erhielten die Kommunisten und Linksnationalisten demnach rund die Hälfte der Stimmen, während die Islamisten sich mit 30 bis 36 Prozent, also einem Drittel, behaupteten. Der Rest ging an jüdische Parteien, allen voran an Arbeitspartei und Kadima, gefolgt von der orthodoxen Schas und Liebermans Partei. Je kleiner die arabische Ortschaft, desto mehr Zuspruch erhielt der araberfeindliche Lieberman. Bei den Beduinen, die teilweise in nicht offiziell anerkannten Siedlungen oft ohne Strom und fließendes Wasser leben, hat die islamistische Partei ganze 79 Prozent der Stimmen erhalten. Lieberman erhielt dort fast fünf Prozent, gefolgt von der Schas und, mit weniger als zwei Prozent, der Arbeitspartei. In der von Christen und Drusen bevölkerten Ortschaft Shfaram in Galiläa erhielten arabische Kommunisten und Linksnationalisten die meisten Stimmen. Doch Lieberman schlug mit 14,4 Prozent die Islamisten und die zionistischen Parteien.
Diese Zahlen zeigen: Der jüdische wie der arabische Teil der Gesellschaft wählten mehr und mehr nationalistisch, wobei beide Bevölkerungsgruppen auseinanderdriften. Ein Anzeichen dafür ist der jüdische Zulauf zu Liebermans anti-arabischer Partei und der arabische Zulauf zu den »antizionistischen« Parteien. Der heutige israelische Nationalismus drückt sich bei den Juden eher als pragmatische Rückbesinnung auf die jüdische Identität ihres Staates aus und kaum noch als Siedlungsbegeisterung in biblischen Gefilden im Westjordanland. Die 1,2 Millionen arabischen Bürger Israels lehnen ihren Staat immer mehr ab. Spiegelbildlich zu dem jüdischen Nationalismus entwickelt sich ein arabischer Nationalismus.