Giota Masouridou im Interview über die Situation von Flüchtlingen und Migranten in Griechenland nach dem Aufstand von Dezember

»Wir müssen ihnen auf den Fersen bleiben«

Der Aufstand in Griechenland Ende vergangenen Jahres wurde vor allem mit der prekären Lage der Jugendlichen erklärt. Weil sich die polizeiliche Repression vor allem gegen demonstrierende Migranten richtete, wird nun auch ihre besondere Lage thematisiert. Giota Masouridou ist Anwältin beim Legal Team Athen und arbeitet außerdem in der Anwaltsvereinigung für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten, die kürzlich gemeinsam mit Pro Asyl eine Dokumentation veröffentlichte, in der unter anderem die katastrophalen Haftbedingungen im Auffanglager Mitilini auf der Insel Lesbos beschrieben werden. Dort wird im August das internationale No Border Camp stattfinden.

Am 6. Dezember 2008 wurde Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten in Athen erschossen. Konnten mittlerweile die genauen Umstände seines Todes aufgeklärt werden?

Es steht zweifelsfrei fest, dass der Polizeibeamte Epaminodas Koroneos den 15jährigen Alexandros ohne jeden Grund durch einen gezielten Schuss ins Herz getötet hat. Ein Freund von mir rief mich an jenem Abend auf meinem Handy an und teilte mir mit, er habe vor fünf Minuten beobachtet, wie ein Jugendlicher von einem Polizisten erschossen worden sei. Er war wie zahlreiche andere unmittelbarer Augenzeuge des unglaublichen Geschehens. Koroneos und sein ihn begleitender Kollege sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Ihnen wird Mord beziehungsweise Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Sie werden allerdings von anderen Gefangenen streng getrennt, da die Behörden Racheakte durch Mithäftlinge befürchten.

Das heißt, dass die anfängliche Behauptung, ein in die Luft abgegebener Warnschuss habe als Querschläger Alexandros »versehentlich« getötet, widerlegt ist?

Ja. Zunächst haben sich die kriminalistischen Untersuchungen ungewöhnlich lange hingezogen und das ballistische Gutachten ist mit großer zeitlicher Verzögerung veröffentlicht worden. Doch das Ergebnis ist eindeutig: Es war ein direkter Schuss, der Alexandros getötet hat. Dass Spuren am Projektil gefunden wurden, die darauf hinzudeuten schienen, dass es ein Querschläger gewesen sein könnte, erklärt sich durch die Praxis von Polizisten, Patronen vor dem Laden beispielsweise durch das Reiben an Mauern entsprechend zu manipulieren.

Die Demonstrationen haben sich schnell zu einer andauernden Protestbewegung ausgeweitet. Wie erklären Sie sich diese außerordentliche Dynamik, die Griechenland an den Rand einer Staatskrise gebracht hat?

Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Frage. Ich glaube, dass man sich die unterschiedlichen Teilnehmer der Demonstrationen und Aktionen anschauen muss. Noch in der Nacht des 6. Dezember waren es zunächst autonome politische Gruppen, die auf einen staatlichen Mord reagiert haben. Dann sind massenhaft Schüler und Schülerinnen auf die Straße gegangen, weil einer von ihnen erschossen worden ist. Natürlich waren die Schülerdemonstrationen politisch, aber nicht im Sinne einer theoretisch ideologischen, fundierten Opposition zum Staat. Dann waren da noch die Studierenden, die seit drei Jahren gegen die staatliche Bildungspolitik nahezu täglich auf der Straße protestieren. Und schließlich haben sich auch Arbeiter und Arbeiterinnen solidarisiert, indem zahlreiche gewerkschaftliche Basisgruppen Solidaritätsstreiks organisiert haben. Die einen demonstrierten dafür, dass die Verantwortlichen für den Tod von Alexandros bestraft werden. Die anderen wollten die Regierung zum Rücktritt zwingen und wieder andere lieber gleich den Staat stürzen. Aber allen gemeinsam ist die Gewissheit, dass sich etwas ändern muss. Viele Schüler, Arbeiter, Rentner haben genug von der etablierten Politik. Doch soziale Gerechtigkeit und eine bessere Gesell­schaft werden wir uns nur erkämpfen können.

Welche Rolle haben Migranten und Flüchtlinge in den Auseinandersetzungen gespielt?

Migranten gehören selbstverständlich zur Bewegung, weil sie zur Schule gehen, studieren und arbeiten oder in politischen Gruppen organisiert sind. Während die Regierung versucht hat, die Proteste als Randale von vermummten Chaoten zu denunzieren, hat die Polizei eine eigene Strategie verfolgt. Sie hat gezielt demonstrierende Migranten festgenommen und sie mit völlig überzogenen Anschuldigungen in Untersuchungshaft gebracht. Allein in Athen sind 50 Migranten seit Dezember in Haft, weil sie sich an Plünderungen beteiligt haben sollen, ohne dass es gegen sie konkrete Beweise gäbe. In Larissa ist ein junger Albaner inhaftiert worden, als er zusammen mit ande­ren den Brand in einem bei einer Demonstration angezündeten Geschäft in der Nachbarschaft löschen wollte. Nun sitzt er im Gefängnis, weil er angeblich der Brandstifter sein soll.

Wie hat die Protestbewegung darauf reagiert?

Wegen zweier Vorfälle um den Jahreswechsel herum ist die besondere Situation von Migranten einerseits und Flüchtlingen andererseits ins Bewusstsein gerückt. Am 23. Dezember ist die bulgarische Arbeitsmigrantin Konstantina Kuneva durch einen gezielten Säureanschlag von Unbekannten schwer verletzt worden. Sie hatte sich gegen einen Betrugsversuch ihres Arbeitgebers zur Wehr gesetzt, der sie und zahlreiche Kollegen zwingen wollte, Lohnleistungen per Unterschrift zu bestätigen, die ihnen nie gezahlt worden waren. Als Antwort auf diesen Anschlag gegen Konstantina gab es zahlreiche weitere Demonstrationen, Besetzungen und spontane Diskussionsversammlungen. Am 3. Januar ist in Athen dann ein Flüchtling aus Bangladesch bei einem Polizeieinsatz vor der zentralen polizeilichen Anlaufstelle für Asylsuchende getötet worden.

Was wissen Sie über die Umstände dieser neuerlichen polizeilichen Tötung?

Dazu muss man die Situation von asylsuchenden Flüchtlingen in Griechenland kennen. Es gibt landesweit nur eine einzige behördliche Anlaufstelle, und die befindet sich in Athen. Diese Behörde hat nur samstags für wenige Stunden geöffnet. Das bedeutet, dass tagelang Tausende Flüchtlinge aus­harren und hoffen, zu den höchstens 200 Menschen zu gehören, die an diesem einen halben Tag in der Woche ihren Antrag stellen können. Alle anderen werden oft mit brutaler Polizeigewalt aus­einandergeprügelt und vertrieben. Dabei ist schon im vergangenen Oktober ein Flüchtling umgekommen, ein anderer liegt seitdem im Koma. Um diese Fälle haben sich einige politische Gruppen damals gekümmert. Aber jetzt ist die Solidarität ungleich größer. Der konkreten Situation der Flüchtlinge wird wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Ende Januar kam es zu einer zweitägigen Besetzung der griechischen Flüchtlingsbehörde in Athen, die maßgeblich von griechischen Gruppen organisiert wurde. Seitdem gibt es jeden Samstag eine große Diskussionsversamm­lung, auf der es um die Perspektiven eines Kampfes geht, der auch die Interessen von Flüchtlingen berücksichtigt.

In Deutschland würde man technokratisch dazu sagen, dass sich unterschiedliche Teilbereichskämpfe annähern. Trifft das die aktuelle Entwicklung in Griechenland?

Was die Diskussionen innerhalb der vielen organisierten Gruppen, die während der vergangenen zwei Monate in Athen auf der Straße gewesen sind, würde ich dem zustimmen. Es gibt eine neue Qualität in der Frage, welche Inhalte Teil unserer Protestaufrufe und Kämpfe sind. Denn es ist doch so: Wer in Griechenland mit der Polizei konfrontiert ist, befindet sich möglicherweise in Gefahr. Wenn aber Flüchtlinge mit den Sicherheitsbehörden konfrontiert sind, befinden sie sich in tödlicher Gefahr. Wir haben derzeit als politische Bewegung die Kraft, gemeinsam mit den Flüchtlingen eine Öffentlichkeit für ihre Situation zu schaffen und auf diese Weise Druck aufzubauen, damit sich etwas ändert. Und viele haben in den vergangenen Wochen verstanden, dass wir den Kampf um die Rechte von Flüchtlingen intensivieren müssen.

Was bedeutet das konkret?

In der Ägäis sind allein 2007 nach offiziellen Angaben 257 Flüchtlinge beim Versuch, Griechenland über das Meer zu erreichen, ertrunken. Wenn man die Schätzung des UNHCR zugrunde legt, dass für jeden dieser Toten 45 nicht entdeckte Tote anzunehmen sind, bekommt man eine Ahnung von dem Drama, das sich vor den Stränden Griechenlands abspielt. Zudem hat meine Organisation zahlreiche Zeugnisse von Überlebenden gesammelt, die schildern, dass von der griechischen Marine aufgebrachte Flüchtlingsboote wieder auf das offene Meer zurückgeschleppt wurden. Auf hoher See wurden den Booten Lecks zugefügt, und die Menschen, darunter Kinder und Jugendliche, wurden dann ihrem Schicksal überlassen. Wir müssen diese mörderische Praxis stoppen. Kaum jemand in Griechenland weiß bisher etwas über Frontex oder die »Dublin-II-Verordnung«. Die katastrophalen Zustände in den Auffanglagern, in denen es an den elementarsten Dingen fehlt, müssen wir beenden. Und zwar am besten, indem wir die Lager schließen und die Flüchtlinge als Menschen, die unsere Unterstützung brauchen, in der Mitte unserer Gesellschaft willkommen heißen.

Sind das auch die Gründe dafür, warum das diesjährige internationale No Border Camp Ende August auf der Insel Lesbos geplant ist?

Wir hoffen, die vielversprechenden politischen Ansätze aus der Revolte der vergangenen zwei Monate weiter bündeln zu können. Auf Lesbos selbst gibt es eine antirassistische Initiative, die seit zwei Jahren die Flüchtlinge dort unterstützt. Und da das politische Europa mit seiner Frontex-Agentur durch internationale Kooperationen die Festung Europa ausbauen will, müssen wir ihnen auf den Fersen bleiben, indem wir uns international organisieren und unsere Kämpfe um globale Rechte global führen.