Interview mit Rudolf Oswald über die Ideologie der »Fußball Volksgemeinschaft«

Der Fußball und die Volksgemeinschaft

Rudolf Oswald forschte in seiner Dissertation unter anderem über rückwärtsgewandte Topoi im Arbeitersport und Fußballkrawalle in der Nazizeit

In Ihrer jetzt als Buch vorliegenden Dissertation haben Sie sich mit der Ideologie der »Fußball-Volksgemeinschaft« beschäftigt. Warum ist ein für die jüngere deutsche ­Vergangenheit derart wichtiger Begriff wie der der Volksgemeinschaft im Zusammenhang mit der Geschichte des deutschen Fußballs bisher nicht ausführlich untersucht worden?

Als sich die Zeitgeschichte mit dem Thema Fußball im Nationalsozialismus zu beschäftigen begann, lag es nahe, dass zunächst im Mittelpunkt stand, welche Rollen Funktionäre und teilweise auch einzelne Stars gespielt haben. Vergleichbares gilt ja auch für andere Bereiche der Zeitgeschichte: Am Anfang steht immer zuerst die Frage der persönlichen Verstrickung, der persönlichen Schuld im Vordergrund, erst später richtet sich das Augenmerk eher auf strukturelle Zusammenhänge.

Ihr Untersuchungszeitraum beginnt aber bereits 1919.

Das hat zwei Gründe. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg hat sich die bürgerliche Sportkultur ideologisch neu formiert. Als Ableger des kulturpessimistischen Gegenmodells zu Parlamentarismus und ­Plu­ralismus entstand die Idee von der Fußballmannschaft beziehungsweise des Sportvereins als »Volksgemeinschaft im Kleinen«. Vor 1914 hatte die Position dominiert, Körperertüchtigung sei zweckfrei, nunmehr sollte sie aber als »Wehrersatz« und der »Volksgesundung« dienen. Außerdem etablierte sich der Fußball erst nach dem Ersten Weltkrieg als Massenkultur. Der einstmals bürgerliche Sport gewann Anhänger aus der Arbeiterschaft.

Sie schreiben, dass in der Weimarer Republik die Konkurrenten des bürgerlichen Sports, die Arbeitersportorganisationen, die konfessionellen Verbände und auch die jüdischen Sportorganisationen – der »Schild« des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten sowie die Verbände Makkabi und Vintus – zu einem sehr starken Grad die Volksgemeinschafts­ideologe verinnerlicht und gepredigt haben. Wie sah das konkret aus, und wie lässt sich das erklären?

Ich greife da auf eine These von Erich Geldbach zurück, der in den späten siebziger Jahren zum protestantischen Sport geforscht hat. Er hat den Begriff von der »Strategie des Doublettierens« geprägt. Ob es nun die Arbeitersportler, die konfessionellen oder die jüdischen Sportler waren, ob Sport der katholischen Glaubensgemeinschaft dienen sollte, dem Sozialismus oder auch dem Zionismus: Körperliche Betätigung wurde vor allem als Dienst am Ganzen aufgefasst. Man wollte zwar etwas eigenes formu­lieren, aber im Grunde war die Sportsprache, das Denken über Sport weitgehend schon in ­festen Bahnen, es war geprägt von der Tradi­tion Turnvater Jahns, von Sprach- und Denk­figuren des bürgerlichen Lagers im 19. Jahrhundert. So überlebten viele rückwärtsgewandte Topoi in der Ideologie des sich ja eigentlich als fortschrittlich verstehenden Arbeitersports.

Ist der Volksgemeinschaftsgedanke ein Resultat der deutschen Ideengeschichte und der Enttäuschung über die Nieder­lage im Ersten Weltkrieg? Oder hat sich die Fuß­ball­ideologie anderswo ähnlich entwickelt?

Das ist ganz gewiss eine spezifisch deutsche Entwicklung. Man kann in den zwanziger Jahren Vergleiche ziehen zum mittel- und osteuropä­ischen Fußball mit seinen Zentren Wien, Prag und Budapest. Dort ging es nicht darum, das spielerische Individuum völlig der Mannschaft unterzuordnen. Vielmehr sprach etwa der große österreichische Journalist Willy Meisl davon, eine Mannschaft zu formen wie ein Konzert­orchester, bei dem die einzelnen Instrumente harmonisieren, aber nicht verschwinden sollen. Das ist eine ganz andere Sichtweise als die von deutschen Sportideologen formulierte Gleichmacherei. Das hängt auch damit zusammen, dass die Vordenker aus diesen Zentren, wie Willy Meisl und sein Bruder Hugo, der als Trainer und später als Funktionär eine wich­tige Rolle spielte, eher dem liberalen Bürgertum entstammten.

Gab es solche Vordenker überhaupt in Deutschland?

Die großen Figuren, die das Spiel interpretierten, gab es nicht, man zog viel aus geschichtsphilosophischen Werken, zum Beispiel aus Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«, wo ja auch die Kommerzialisierung für den Untergang einer Kultur steht. Das kulturpessimistische Gedankengut, das spätestens ab 1918 en vogue war, ging einher mit der Ideologie des Amateurismus, die später teilweise antisemitisch aufgeladen wurde. Der Ex-Reichstrainer Otto Nerz schrieb 1943, »die Juden und ihre Hörigen« seien vor 1933 verantwortlich gewesen für die »Tendenz zum Berufs­fußball«.

Einige zeittypische Begebenheiten, die Sie beschreiben, waren bisher kaum bekannt, etwa, dass es speziell in der Weimarer Republik, aber auch in der NS-Zeit regelmäßig schwere Ausschreitungen gegen Schiedsrichter oder gegnerische Spieler gab. Waren die ­damaligen Randalierer Vorläufer der Hooligans?

Der Hooliganismus der siebziger und frühen achtziger Jahre ist etwas anderes. Der Krawall der zwanziger Jahre ist unorganisiert, immer vom Geschehen auf dem Platz abhängig und immer an das Stadion gebunden. Ab 1919 tra­ten im Fußball gewalttätige Massen in Erscheinung: Die Konflikte zwischen Stadt und Vorstadt oder Vorstadt und Dorf wurden in die Stadien getragen, wo fortan die lokale Ehre Wochenende für Wochenende verteidigt wurde, oft mit Mitteln des Landfriedensbruchs.

War den Vereinsfunktionären, die die Volksgemeinschaft priesen, bewusst, dass die Krawalle diese Ideologie konterkarierten?

Ein Vereinsvorsitzender konnte sich nicht gegen die Vorhaben des Dachverbandes und gegen eine vermeintlich vorherrschende Ideologie im Sport stellen, schon gar nicht nach 1933. Ein Vereinsvorsitzender war spätestens zu Beginn der zwanziger Jahre, als sich in den industri­ellen Ballungszentren diese spezielle Form des Vereinsfanatismus formiert, integraler Bestandteil dieses Milieus. Auf der einen Seite fanden jetzt die Arbeiterschichten Anschluss über den lokalen Verein, sie konstruierten sich Identität, andererseits konnte aber auch der Vereinsvorsitzende, der ja meist aus dem lokalen Bürgertum stammte, an dieser Identität partizipieren. Diese lokale Identität überwog im Zweifelsfall dann doch. Wir haben beispielsweise in den zwanziger Jahren das Phänomen, dass gerade bei Ausschreitungen Vertre­ter des lokalen Bürgertums, die exponierte Stellungen in den Vereinen hatten, maßgebliche Rollen bei diesen Krawallen spielten.

Hatte diese Art des Vereinsfanatismus, ohne ihn jetzt glorifizieren zu wollen, einen gewissen subversiven Charakter?

Absolut. Dieser Vereinsfanatismus war für je­de Institution, für jedes politische Regime unbe­rechenbar. Fangruppen gingen mit einer bestimmten Erwartungshaltung ins Stadion. Wurde diese durch das entsprechende Ergebnis ­erfüllt, konnte man auf die Fans bauen. Wurden sie nicht erfüllt, musste ein Regime wie das nationalsozialistische, das ja sehr auf Repräsentanz, auf Darstellung basierte, mit dem Schlimmsten rechnen, und das ist ja auch eini­­ge Male passiert. Interessanterweise schlug sich das nie in der allgemeinen Rezeption nieder, die Beurteilung solcher Ereignisse blieb den Fachzeitschriften und den Sportteilen der Tageszeitungen vorbehalten. Deshalb wurde die Forschung wahrscheinlich auch kaum aufmerksam auf diese Art der Subversion im Dritten Reich.

Sie haben 1964 als Endpunkt Ihrer Unter­suchung gewählt. Sind gewisse Topoi der Fußball-Volksgemeinschaftsideologie nicht dennoch bis in die heutige Zeit lebendig ­geblieben?

Das ist bei solchen diskursiven Prozessen gar nicht anders möglich. Man muss sich nur die ­Figur des ehemaligen Bundestrainers Sepp Herberger anschauen, der sich ja auch aus dem Ruhestand immer wieder zur Wort meldete und durchaus in den siebziger Jahren noch Versatzstücke der Volksgemeinschaftsideologie bemühte. Die erleben immer wieder eine Renaissance. Nehmen wir die WM 2006 in Deutschland. In der Selbstdarstellung einiger Spieler war wieder dieses fast schon zwanghafte Kleinreden der eigenen Leistung zugunsten des Mannschafts­gedan­kens auszumachen. Die Volksgemeinschafts­ideologie stirbt 1964 sicherlich nicht aus, aber es gibt zwei entscheidende Faktoren, die sie nachhaltig schwächen: die Einführung der Bundesliga und damit die endgültige Akzeptanz des Professionalismus in Westdeutschland sowie die Berufung Helmut Schöns zum Bundestrainer – ein Ideengeber, der eine völlig andere Auffassung des Fußballs vertrat. Er stellte das Indi­viduum in den Mittelpunkt und rückte von diesem ideologischen Mannschaftsgedanken ab. Gerade die Position des Bundestrainers darf man in Deutschland ja nicht unterschätzen.

Heute wird die Kommerzialisierung des Fußballs aus gutem Grund angeprangert. In Ihrem Buch stehen die entsprechenden Entwicklungen allerdings immer für Fortschritt. Muss man die Geschichte der Kommerzialisierung des Fußballs grundsätzlich anders ­betrachten?

Das würde ich fast ganz unterschreiben. Es griffe zu kurz, sich nur auf die heutigen negativen Auswirkungen zu fokussieren. Die Einführung der Bundesliga beispielsweise war eine Liberalisierung, denn die Spieler hatten ihren Sport bereits hauptberuflich betrieben, sich aber nicht Berufsfußballer nennen dürfen. Dass aber im Laufe der neunziger Jahre die Gehälter in Höhen getrieben wurden, die jeder Beschreibung spotten, ist eine andere Geschichte.

Rudolf Oswald: »Fußball-Volksgemeinschaft«. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919–1964. Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2008, 342 Seiten, 34,90 Euro