»35 Rum«

Mein Block, mein Kind, mein Glück

Keine sozial verwahrloste Unterschicht, sondern eine innige Vater-Tochter-Beziehung inszeniert die französische Regisseurin Claire Denis mitten in der Banlieue in der Nähe von Paris.

Fremdheitserfahrungen sind in den Filmen der französischen Regis­seurin Claire Denis allgegenwärtig und immer existenziell. Die in der Anonymität eines Pariser Hotels abtauchende litauische Schauspielerin Daiga in »Ich kann nicht schlafen«, der ausgezehrte, hungrige Vampir in »Trouble Every Day« oder auch die in der Isolation der afrikanischen Wüste stationierten Fremdenlegio­näre in »Beau Travail« – gemeinsam ist diesen Figuren eine Rastlosigkeit, ein sperriges Gefühl gegenüber der Außenwelt, ihr Nicht-zu-Hause-Sein. Dieser komplizierte Grundzustand jenseits von schematischen Konzepten des »Anderen« ist in einigen ihrer Filme mit dem Leben in (post)kolonialen Verhältnissen verbunden.
Auch »35 Rum« – nach acht Jahren der erste Film der französischen Regisseurin mit einem regulären deutschen Kinostart – erzählt von Entwurzelung, von displacement und dem damit verbundenen Wunsch, in den privaten Beziehungen so etwas wie ein Zuhause zu finden.
Mit dem Blick auf Eisenbahnschienen, die vom Pariser Stadtrand in die Vororte führen, beginnt der Film. Erst später wird man diese Per­spektive Lionel zuordnen, der als Lokführer sein Geld verdient und aus dem Führerhaus auf die Gleise hinausblickt. Allerdings inszeniert Denis den RER-Zug (Réseau Express Régional) nicht sozialrealistisch als einen Arbeitsplatz, sondern vielmehr als einen mit Melancholie aufgeladenen Ort. Unterlegt mit dem Soundtrack der britischen Dark-Wave-Band Tindersticks, erzeugen die Aufnahmen von Zügen und Gleisen einen traumwandlerischen Sog, und einmal bricht die Erzählung sogar ganz aus der Wirklich­keit aus. Man sieht Lionel und seine Tochter, die zusammen auf einem Pferd über die Schienen reiten – wie in einem bizarren urbanen Märchen. Seitdem Lionel seine Frau verloren hat, ist Tochter Joséphine sein ganzer Lebensinhalt; mittlerweile aber ist sie erwachsen geworden, und beide beschäftigt die bevorstehende Loslösung voneinander.
Mit dem Regionalzug fahren auch die Figuren in »35 Rum« in ihre Vorstadtbehausungen. Denis führt sie ohne charakterisierende Auftritte ein. Wer zu wem gehört und warum, das wird ganz allmählich entfaltet, und wie man es von anderen Filmen der Regisseurin kennt, sind die verschiedenen Erzählstränge fast unmerklich virtuos miteinander verwoben. In einem grauen, aber aufgeräumt und gepflegt wirkenden Betonbau unweit der Rue de la Guadeloupe – das Straßenschild wird unübersehbar als Hinweis auf den mit der französischen Kolonialgeschichte verbundenen Background der Figuren eingeblendet – haben sich Lionel (Alex Descas), der auratisch wortkarge Witwer, und seine Tochter Joséphine (Mati Diop) eine Idylle errichtet, die mit der trostlosen sozialen Realität der meisten Banlieue-Filme rein gar nichts gemein hat. Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter ist von stillem Einvernehmen bestimmt, es gibt viele Blicke zwischen den beiden (auch Blicke »in sich hinein« als Reaktion auf den anderen), viele Berührungen, wenig Worte; eine vergleichbar unneurotische und aggressionsfreie Darstellung von Familie kennt man so eigentlich nur aus den Filmen des japanischen Regisseurs Ozu Yasujiro, dessen Arbeiten wohl auch zu der Idee von »35 Rum« beigetragen haben.
Die täglichen Abläufe sind eingespielt und trotz ihrer Routine immer auch ein bisschen festlich und besonders. Der dampfende Reis im Kocher, das gemeinsame Abendessen strahlen eine gewisse Großzügigkeit aus und eine Wärme, die verständlich macht, warum beide ihre Zweisamkeit hüten wie einen Schatz und ihre bevorstehende Trennung hinauszögern. Für die Nachbarn, Noé (Grégoire Colin) und Gabrielle (Nicole Dogue), wirkt diese idyllische Enklave natürlich schmerzhaft ausschließend. Die Tür, hinter der wehmütige Musik erklingt, die den toten Hausflur mit Leben erfüllt, ist verschlossen, die Wohnung der beiden ein ebenso unnahbarer wie begehrter Ort. Gabrielle, die Lionel liebt, wird bei ihren hartnäckigen Versuchen, an dem Vater-Tochter-Verhältnis teilzuhaben und die Position der Mutter einzunehmen, mehrfach scheitern. Und Noé, der mit einer fetten altersschwachen Katze in der von den verstorbenen Eltern zurückgelassenen Wohnung lebt, traut sich erst gar nicht, sich anzunähern.
Dennoch ist dieses soziale Gefüge intakt und dabei nahezu familienähnlich organisiert. Einmal bricht man zu viert zu einem gemeinsamen Konzertbesuch auf, es gibt eine Autopanne bei strömendem Regen, und der Abend bekommt etwas von einem ganz gewöhnlich missratenen Familienausflug. Erst in einer Bar löst sich die Viererkonstellation wieder auf, aber danach ist auch klar, dass Vater und Tochter ihre ab­geschottete Zweisamkeit, die natürlich nicht frei von Komplikationen ist, bald für immer aufgeben werden. Denn bei aller Harmonie liegt schon von Beginn an eine gewisse Enge in ihrer Beziehung. Der Reiskocher wird hierbei zum Inbegriff für die überstrapazierte gegenseitige Rücksichtnahme. Vater und Tochter kaufen unabhängig voneinander einen Topf, und als Lionel seinen als erster auspackt, verzichtet Joséphine darauf, ihren Kauf überhaupt nur zu erwähnen. Sie will diesen Moment nicht kaputtmachen. Und auch die liebevolle Fürsorglichkeit des Vaters könnte jeden Augenblick in Kontrolle umschlagen, wie etwa die prüfenden Blicke auf Joséphines Verehrer deutlich machen.
Es kommt zu einem ersten kleinen Streit, der etwas aufzubrechen verspricht zwischen den beiden, doch genau in diesem Moment zieht Denis einen regelrechten Schnitt durch den Film. Plötzlich befinden wir uns mit Vater und Tochter auf einer deutschen Autobahn, es geht an die Ostsee, nach Lübeck. Lionel und ­Joséphine besuchen die Schwester der verstorbenen Mutter, die von der divenhaften Ingrid Carven gespielt wird. Carven plaudert ungebremst über dies und das und wirkt dabei fast ein bisschen irre, und manchmal wirkt ihr Auftritt auch so, als hätte sie sich versehentlich in einem Fassbinder-Film verirrt (»Man könnte meinen, die ganze Welt hätte Angst vor einem Schmerz«). Danach braucht man eine Weile, bis man sich von dieser exzentrischen kleinen Revue erholt hat und wieder in den Rhythmus des Films zurückfindet.
Für die Figuren bedeutet dieser eher schrullige Ausflug in die Vergangenheit eine Bewegung heraus aus der engen Begrenzung von Arbeitsplatz und Wohnblock. Denn auch wenn es niemand ausspricht: Insgeheim sehnen sich alle danach wegzugehen, woanders zu sein, selbst wenn bis zuletzt die Öffnung gegenüber der Außenwelt nicht richtig funktioniert. Ein politisch aktiver Kommilitone Joséphines kommt bei seinen zaghaften Annäherungsversuchen ­jedenfalls nicht sehr weit, und auch für die anderen Figuren ergeben sich keine Verbindungen, die außerhalb ihres vertrauten sozialen Terrains liegen würden. Einmal sagt Lionel: »Eigentlich gibt’s hier alles. Warum woanders danach suchen?« Ob das nun gut oder schlecht ist und ob die Aufgehobenheit in den vertrauten Verhältnissen den Autonomiebedürfnissen vorzuziehen ist, mag man für sich selbst vielleicht gerade noch beantworten können, für die Figuren in »35 Rum« aber kaum.

»35 Rum« (Frankreich 2008). Regie: Claire Denis. Darsteller: Alex Descs, Mati Diop, Grégoire Colin, Nicole Dogué, ­Ingrid Carven. Kinostart: 5. März