Obamas Strategie in Afghanistan und Pakistan

Warten auf die Schneeschmelze

US-Präsident Obama hat eine neue Strategie für Afghanistan und Pakistan angekündigt. Doch seine Möglichkeiten, Einfluss auf die Politik beider Länder zu nehmen, sind gering.

Im August wird selbst im afghanischen Hochland kein Schnee mehr liegen. Bis dahin dürften 17 000 weitere US-Soldaten und möglicherweise auch Truppenkontingente aus anderen Nato-Staaten in Afghanistan angekommen sein. Sie sol­len die Taliban so weit zurückdrängen, dass in den meisten Städten und Dörfern Wahlen stattfinden können. Die Wahlkommission legte deshalb den 20. August als Termin für die Präsidentschaftswahlen fest, obwohl die Verfassung vorschreibt, dass spätestens Ende April gewählt werden muss. Erst ein Viertel der Wahlberechtigten wurde bislang registriert, und nur ein Politiker, Ramazan Bashar Dost, hat seine Kandidatur offiziell angekündigt.
Auch deshalb forderte Präsident Hamid Karzai am Samstag, es müsse auf jeden Fall noch im April gewählt werden. Je schlechter seine Konkur­renten vorbereitet sind, desto größer sind die Chancen Karzais. Seine Amtszeit endet am 21. Mai, danach müsste eine Übergangsregierung die Verwaltung übernehmen. Doch nur als Präsident kann Karzai sich auf ein Patronagesystem stützen und die lokalen Machthaber für sich gewinnen.
Im Jahr 2004 wurde Karzai nach offiziellen Angaben mit 55 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Das Ausmaß der Manipulation ist nie geklärt worden, doch hätte es wohl auch ohne Schummelei für einen Sieg gereicht. Einer telefonischen Umfrage zufolge ist Karzai noch im­mer der beliebteste Politiker, allerdings unterstützen ihn nur noch 15 Prozent der Afghanen. Re­präsentativ ist diese Umfrage nicht, nur eine Minderheit der Afghanen besitzt ein Telefon. Dass Karzai erheblich an Unterstützung verloren hat und es keinen populären Gegenkandidaten gibt, ist jedoch unbestritten.
Überdies gibt es in der Verfassung eine Regel, die für Karzai hilfreich ist. Artikel 62 legt fest, dass der Präsident »nicht die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzen« soll. Das könnte zwei der potenziellen Konkurrenten Karzais von der Wahl ausschließen, denn Ali Ahmad Jalali, der in der Umfrage mit elf Prozent den zweiten Platz belegte, und Ashraf Ghani Ahmadzai sind auch Bürger der USA.
Die US-Regierung, die Uno, die afghanische Wahl­kommission und mehrere Oppositionspolitiker sprachen sich gegen Wahlen im April aus. Allerdings ist auch nicht sicher, ob es bis August gelingen wird, ausreichende Sicherheit für eine Wahl zu schaffen, die als legitim gelten kann. Der International Council on Security and Development stellte im Dezember vergangenen Jahres fest, dass die Taliban im Süden »de facto die regierende Macht in zahlreichen Städten und Dörfern sind«, sie haben »in 72 Prozent Afghanistans eine permanente Präsenz« und sind in der Lage, Kabul »nach Belieben« zu infil­trieren.
Seit der Veröffentlichung des Berichts hat sich die Situation für die Taliban weiter verbessert. Die pakistanische Regierung sah sich zu Zugeständnissen gezwungen (Jungle World 9/09), in einigen Regionen des Nordwestens wurde die Sharia eingeführt, und der nun dort geltende Waffenstill­stand erhöht die Handlungsfreiheit der Jihadisten. Ihr vorrangiges Ziel ist es, die Versorgung der in Afghanistan stationierten Truppen zu unterbrechen.

»Wir haben unsere Angriffe seit Dezember intensiviert und etwa zehn größere Operationen durch­geführt«, sagte Hajj Omar, ein örtlicher Kommandant der Taliban. Meist werde die Ladung der Konvois zerstört, doch sei es seinen Kämpfern auch gelungen, sich zwei Panzer, zwei Humvee-Geländewagen, 1 200 Gewehre und Pistolen sowie mehrere Tausend Sack Weizen anzueignen. Akut gefährdet ist die Truppenversorgung nicht, es gibt Ausweichrouten. Da die Taliban in immer größeren Teilen des Landes operieren, könnten sie jedoch auch Konvois auf diesen Routen angreifen.
Zudem bewies der Anschlag auf die Cricket-Nationalmannschaft Sri Lankas am Dienstag, dass der Waffenstillstand im Nordwesten islamistische Anschläge in anderen Landesteilen nicht ver­hindert. Fünf Polizisten wurden getötet und mehrere Mitglieder des Teams aus Sri Lanka verletzt, als Attentäter in Lahore den Konvoi beschossen. Der Anschlag trägt zur Destabilisierung und zur Isolierung Pakistans bei, bereits zuvor hatten sich viele Sportler aus Sicherheitsgründen geweigert, zu Wettkämpfen anzureisen.
»Wir werden eine neue und umfassende Strategie für Afghanistan und Pakistan entwickeln, um al-Qaida zu besiegen und den Extremismus zu bekämpfen«, versprach US-Präsident Barack Obama in der vergangenen Woche in seiner Rede vor dem Kongress. Der Plan soll Ende April veröffentlicht werden. Es ist unwahrscheinlich, dass er im Hinblick auf den Wiederaufbau über die bereits seit Jahren immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Erhöhung und besseren Koordinierung der zivilen Hilfe hinausgeht. Änderungen dürfte es vor allem im militärischen Bereich und in der Diplomatie geben.
Die Erkenntnis, dass die Taliban nicht besiegt werden können, solange sie ein sicheres Rückzugsgebiet in Pakistan haben, ist nicht neu. Weit­aus stärker als George W. Bush bemüht sich Obama jedoch darum, die Afghanistan- und Pakistan-Politik zu koordinieren. Sein Sondergesandter Richard Holbrooke ist für beide Länder zuständig, in der vergangenen Woche kamen Makhdoom Shah Mehmood Qureshi und Rangin D. Spanta, die Außenminister Pakistans und Afghanistans, zu einer »strategischen Lagebesprechung« mit Hillary Clinton nach Washington.
Doch der US-Einfluss auf beide Länder ist geringer, als meist angenommen wird. In Pakistan bewirkte die Kritik der USA am Abkommen mit den Taliban nichts. Der Druck der US-Regierung trug zwar dazu bei, den Militärherrscher Pervez Musharraf im vergangenen Jahr zum Rückzug zu bewegen, doch die vorgesehene zivile Nachfolgerin Benazir Bhutto wurde ermordet. Präsident wurde ihr für seine Korruption bekannter Ehemann Asif Ali Zardari.
Am Mittwoch der vergangenen Woche entschied das Oberste Gericht, dass Nawaz Sharif, Zardaris wichtigster Konkurrent, und sein Bruder keine politischen Ämter ausüben dürfen, da sie Straftaten begangen hätten. Sharif und seine Anhänger, aber auch die Aktivisten der Demokratiebewegung, bestreiten die Legitimität des Gerichts, dessen Richter Musharraf ernannte, nachdem er ihre Vorgänger wegen politischer Unzuverlässigkeit entlassen hatte. Die Opposition wirft Zardari vor, die Justiz manipuliert zu haben. Anhänger von Sharifs PML-N protestieren und errichten Barrikaden. Die beiden größten zivilen Par­teien des Landes stehen sich nun in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber.
Obama kann wenig tun, um diesen Streit zu schlich­ten. Wenn er sich für die Demokratisierung einsetzt und die Wiedereinsetzung der von Musharraf entlassenen Richter fordert, bringt er Zardaris PPP gegen sich auf. Doch Sharif gilt als wohlwollend gegenüber den Islamisten und würde den Taliban womöglich noch mehr Zugeständnisse machen.

Ohnehin ist das gängigste Druckmittel der westlichen Diplomatie, der Entzug von Hilfszahlungen, in Pakistan kaum anwendbar. Nur ein Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds bewahrte das Land Ende vergangenen Jahres vor der Zahlungsunfähigkeit. Vorübergehend, wie ein Bericht des Atlantic Council feststellt, der min­destens vier Milliarden Dollar zusätzliche Hilfszahlungen fordert. Andernfalls, sagte John Kerry, der Vorsitzende des außenpolitischen Komitees des Senats Ende Februar bei der Vorstellung des Berichts, sei man mit »beängstigenden Aussichten« konfrontiert: »Eine Zuflucht für Terroristen, ökonomischer Zusammenbruch und rasant wachsender Extremismus, alles in einem Land mit einem Arsenal von Nuklearwaffen.« Wäre Pakistan eine Bank, würde man es als »systemrelevant« bezeichnen. Es darf nicht bankrott gehen, wer auch immer es regiert.
Afghanistan ist von der globalen Wirtschaftskrise nicht betroffen, allerdings nur, weil mit Ausnahme von Opium fast nichts exportiert wird und bereits in den Zeiten, als die Banken und Unternehmen noch gut bei Kasse waren, kaum jemand im Land investieren wollte. »Systemrelevant« ist das Land ebenfalls, die Hilfszahlungen, die 90 Prozent des Budgets ausmachen, wer­den weiter fließen, obwohl Karzai auch im Westen an Popularität verloren hat.
Auch in Afghanistan hat Obama wenige Möglichkeiten, das politische Geschehen zu beeinflussen. Zu dem Grundkonzept, die Warlords in ein formal demokratisches System einzubinden, dessen Präsident zwischen den Fraktionen vermittelt, hat die US-Regierung offenbar keine Alternative. Die Korruption ist in einem solchen Sys­tem ein unerlässliches Herrschaftsinstrument. Dass Karzai sie nicht konsequent bekämpft, ist kein persönliches Versagen, sondern die zwangsläufige Folge der politischen Ordnung, die Ende 2001 unter deutscher Führung mit den Warlords und Karzai vereinbart wurde.

Aufatmen können möglicherweise die europäischen Regierungen, die befürchten, Obama werde zusätzliche Truppen von ihnen verlangen. Bei den Debatten im Senat blieb es dem unterlegenen Präsidentschaftskandidaten John McCain über­lassen, das derzeitige »balkanisierte und dysfunk­tionale« Kommandosystem zu kritisieren und die einheitliche »Planung und Koordinierung einer landesweiten Aufstandsbekämpfungskampagne« zu fordern. Zweifellos wäre es effektiver, die komplizierte militärische Zusammenarbeit ei­ner Koalition der Kampfunwilligen durch eine allein von US-Truppen getragene Kampagne zu ersetzen.
Deren Kommandant General David Petraeus lei­tete auch die »Surge«, die Aufstandsbekämpfung im Irak, doch die dort recht erfolgreiche Strategie, örtliche Milizen für den Kampf gegen die Jihadisten zu gewinnen, ist nicht ohne weiteres auf Af­gha­nistan übertragbar. Im Krieg gegen die Taliban verbündeten sich die USA im Jahr 2001 mit den War­lords der Nordallianz. Andere Milizen­führer wurden Ende desselben Jahres kooptiert. Die den irakischen Milizen entsprechenden afgha­nischen Gruppen sind längst integriert. Allenfalls »gemäßigte« Taliban und der islamistische Warlord Gul­bud­din Hekmatyar könnten noch gewonnen werden.
Verhandlungen mit solchen Gruppen seien nur aus einer »Position der Stärke« heraus möglich, sag­te Petraeus. Doch in den vergangenen vier Jah­ren haben die Jihadisten an Stärke gewon­nen. Der­zeit bemühen sich die US-Truppen, die Umgebung Kabuls zu sichern, um eine weitere Infiltration zu verhindern. Und erst mit der Schneeschmel­ze beginnt die traditionelle Frühjahrsoffensive der Taliban.