Johanna Adorján: »Eine exklusive Liebe«

Bis dass der Tod uns scheidet

Johanna Adorján skizziert die Lebensgeschichte ihrer jüdischen Großeltern.

Dieses Buch ist eins über Verfolgung, Flucht und Emigration. Dabei handelt es nur vordergründig von einem einzigen Paar und dessen Überleben, ein fortwährendes Überleben bis in den gemeinsamen Tod. Man weiß von Anfang an, wie die Geschichte endet: »Am 13. Oktober 1991 brachten meine Großeltern sich um. Es war ein Sonntag. Eigentlich nicht der ideale Wochentag für Selbstmorde.« Was so lapidar dahingeschrieben scheint, sorgt jedoch im Verlauf des Buches für eine ungeheure Intensität und Spannung.
Beinahe atemlos verfolgt man Adorjáns Bericht über den Selbstmord ihrer Großeltern väterlicherseits. Das alte, in Kopenhagen lebende Paar hat beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, hat sich dafür Medikamente beschafft, gibt den Hund in gute Hände ab, hört noch ein bisschen Musik (Bach und Schumann), raucht, trinkt erst Kaffee, dann Tee – und bringt sich dann um. Man findet die beiden Toten erst zwei Tage später, nebeneinander im Ehebett liegend. Näheres weiß der in solchen Fällen fällige Polizeibericht. Das könnte kitschig sein oder Stoff für einen Krimi. Es ist beides, aber immer nur in Nuancen, und selbstverständlich macht einen Teil der Spannung aus, dass man erfährt, es handelt sich nicht um einen Roman, sondern um eine in Grundzügen wahre Geschichte.
Über den Selbstmord von Menschen zu berichten, die einem nahe standen, ist ein gewagtes Unternehmen. Adorján lässt sich auf keine Debatte um Sterbehilfe oder ethische Grenzziehungen ein; sie berichtet, was sie erkundet hat, und erzählt, wie sie sich die letzten Lebensstunden ihrer Großeltern vorstellt. Es geht, was die Tat betrifft, allein um diese beiden Menschen und deren Entscheidung. Sie behalten bei allen Intimitäten, die in diesem Zusammenhang zu berichten sind, eine großartige Würde.
Eine solche Würde tritt auch in jenen Passagen des Buches zutage, in denen es nicht um den gemeinsam ausgeführten Selbstmord geht. Johanna Adorján stellt in groben Zügen die Lebensgeschichten der Eltern ihres Vaters vor. Der Buchtitel »Eine exklusive Liebe« mag auf den ersten Blick irreführend wirken, ist es aber überhaupt nicht, denn in der Tat ist hier von einer beinahe einschüchternd wirkenden Beziehung, die kaum anders als exklusiv bezeichnet werden kann, die Rede. Von einer ganz besonderen Liebe und Nähe zwischen zwei Menschen.
Das Paar, zwei ungarische Juden, heiratet 1942, überlebt den Holocaust, findet sich 1945 wieder, liebäugelt mit den Ideen der Kommunisten, flieht 1956 aus Budapest beziehungsweise Ungarn und landet, politisch verfolgt, in Dänemark. Dort führt es – der Arzt und die Gattin – bis ins hohe Alter ein hinreichend gutbürgerliches Leben mit Eigenheim und Hund, Enkelbesuchen und allerlei Marotten. All dies böte sicher Stoff genug für einen umfangreichen biografischen Roman. Adorján beschränkt sich jedoch auf das – in ihren Augen – Wesentliche. Es sind kleine Episoden, manchmal auch Berichte und Erinnerungen von alten Freunden des Paares oder kleine Fetzen von Wissen in der Familie. Die Autorin erinnert sich: »Auftritt meine Großeltern aus Kopenhagen. Aus einer Wolke von Parfum und Zigarettenrauch tritt ein elegantes Paar hervor, das aussieht, als hätte es eben den Oldtimer um die Ecke geparkt. Sie haben die tiefsten Stimmen, die man je gehört hat, ihr Deutsch hat einen fremdländischen Akzent, und sie sprechen mit mir, als wäre ich eine kleine Erwachsene. Magst du Ballett, interessierst du dich für Opern, hältst du außerirdisches Leben für vorstellbar. Meiner Großmutter wäre es im Traum nicht eingefallen, mit uns Enkeln auf den Knien durchs Kinderzimmer zu rutschen, um nach einer verloren gegangenen Playmobil-Haarkappe zu suchen, die doch irgend­wo sein musste. Dafür ging sie mit uns in die Oper. Und mein Großvater ließ mich, als ich fünf Jahre alt war, an seiner Zigarre ziehen – als ich daraufhin schrecklich husten musste, erschrak er sich fürchterlich und kaufte mir ganz schnell ein Eis. Sie kamen mir vor wie Filmstars, anziehend und geheimnisvoll, und dass sie mit mir verwandt waren, meine Vorfahren waren, machte die Sache vollends unwiderstehlich.«
Auch, dass diese Verwandten sich zeitlebens siezen. Vera und István Adorján pflegten die alte Sitte eines sehr höflichen Umgangs miteinander. Vor allem aber pflegten sie über die Schrecken und Nöte des früher Erlebten zu schweigen. So als könnten sie den Nachfolgenden und sich selbst damit Schutz bieten.
Enkelin Johanna Adorján ist Jahrgang 1971; sie war also etwa 20, als diese Großeltern sich umbrachten. Die beiden Verstorbenen haben nicht mehr miterlebt, dass aus der jungen Enkelin eine angesehene Feuilleton-Journalistin wurde. Ihre Recherchen in Familienangelegenheiten sind für Adorján mehr als das Gedenken an jene Vera und jenen István, diese etwas exaltierten, sympathischen Weltbürger aus Budapest, mit denen sie verwandt ist. Es gelingt ihr, aus den biografischen Fragmenten, den Rätseln und dem Nichtgesagten, dem Überleben und dem freiwilligen Tod, auch eine moderne jüdische Familiengeschichte zu schreiben.
Das ist zugleich bedrückend und erfrischend. Selten hat man so eindringlich davon gelesen, wie sich Leid, Verfolgung, Flucht und Terrorherrschaft auf die Nachkommen der Überlebenden auswirkten – auch dann, wenn es den Protagonisten später möglich ist, ein »ganz normales« bürgerliches Leben zu führen. Nichts ist wirklich wieder gut geworden, auch wenn es für Außenstehende so aussehen mochte und man sich alle Mühe gab, nicht zu jammern und nicht zu klagen. All die Toten in der ungarischen Familie …  »Meine Großmutter hat nie wieder von ihnen gesprochen. Es hatte sie gegeben, es gab sie nicht mehr, so, und nun sprechen wir von etwas Erfreulicherem.« Das Trauma aber lebt fort, auch wenn man in die Oper geht, ein mehr als ausreichendes Einkommen hat und sich Flugreisen erlauben kann.
»Als ich einmal mit meinen Eltern und Brüdern in Israel war, 1994 war das, wurde mein Vater bei unserer Ausreise vom Sicherheitsbeamten am Flughafen gefragt, ob er jüdisch sei – die Namen seiner Kinder, Johanna, Dávid, Gabriel, alle hebräischen Ursprungs, legten die Vermutung nahe. Zu unserer allgemeinen Überraschung sagte mein Vater, das wisse er nicht. Ihm war von seiner Mutter so oft eingeschärft worden, dass es lebensgefährlich ist, Jude zu sein, dass er es sogar in Israel vorzog, Vorsicht walten zu lassen.«
Johanna Adorján gelingt es auch dann, wenn sie sehr persönlich über ihre eigenen Empfindungen bei dieser Spurensuche schreibt, dies ohne Lamentos zu tun. Sie entdeckt ihre Großmutter erst richtig nach deren Tod. Und sie erlaubt sich sogar, wütend auf ihre Verwandtschaft zu sein, auch wenn sie deren Schweigen zu verstehen sucht. Jüdische Traditionen? Die Großeltern gaben ihren Kindern und Enkeln keinerlei Anregungen. Die Shoah? »Darüber wolle er nicht sprechen«, sagte der Großvater, wenn er nach seiner Zeit im KZ gefragt wurde. Und dabei blieb es. Wie groß die Einsamkeit dieses wundervollen Paares gewesen sein mag in einer Welt, in der es ihnen opportun erschien, mit dem Vergangenen scheinbar perfekt abzuschließen, ahnt man auf beinahe jeder Seite des Buches. Und wie groß die Anstrengung, weiter zu leben.

Johanna Adorján: Eine exklusive Liebe. Luchterhand, München 2009. 184 Seiten, 17,95 Euro