Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: »Im Zweifel ohne«

Das Kreischen der Rezeptoren

Der legendäre Berliner Suchtarzt Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel hat ein philosophisches Büchlein mit seinen Kolumnen veröffentlicht.

Was lesen Suchtkranke? Man weiß es nicht. Mit Literaturtipps sollte man sich also zurückhalten. Beim Schreiben sieht es anders aus. Zum Beispiel ist der Berliner Arzt Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel als Kolumnist tätig. Aber der ist doch nicht süchtig, sondern Suchttherapeut?
Stimmt. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Salloch-Vogel, heute pensioniert, war viele Jahre lang Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitskranke am Jüdischen Krankenhaus Berlin. In dieser Zeit begann er unter dem Pseudonym »Rolf Zweifel« Texte in der Berliner Zeitschrift Trokkenpresse zu veröffentlichen. Im Umfeld dieser Zeitschrift wurde ein Verlag gegründet, der Salloch-Vogels Kolumnen nun als Buch publiziert.
Tagsüber Suchtkranke therapieren, abends selber trinken – der Autor wusste, was er tat. Er habe gedacht, seine Sucht bemerke niemand, schreibt er. Aber dann: »Schwuppdiwupp war der Alkohol zur Stelle und damit erst mal Schluss mit Mutters Gerede und Gottes Gesetzen.«
Das feuchte Thema kann zur trockenen Materie werden, das kann manchen anöden. So lehrt der Chefarzt, dass die Differenzierung in weiche und harte Drogen ein Märchen sei.
Der Chefarzt schreibt nicht nur unter Pseudo­nym, sondern treibt die Distanzierung noch weiter und schreibt über sich in der dritten Person. Das liest sich dann so: »Rolf Zweifel hört im Radio, es gebe 2,5 Millionen Abhängige von Drogen in der Europäischen Union. Davon seien wiederum soundsoviel Prozent von weichen Drogen abhängig. ›Maria sei Dank, nur weiche Drogen!‹ denkt die Oma beim Bügeln.«
Nein, das ist nicht Popdiskurs, das ist ein sehr unhippes Thema. Drogengebrauch wirft verrückte Stories ab, Abstinenz nur harte Worte: »Durch die chronische Drogeneinnahme bin ich unfrei. Meine Bedürfnisse, Aktivitäten, Beziehungen, mein ganzes Leben werden auf meine Sucht ausgerichtet. Die Egozentrik nimmt zu.«
Eine harte Droge ist der Alkohol. Weich hingegen Cannabis. »Was macht einen Joint für die Benutzer eigentlich so interessant? Zweifel hat verstanden, dass es Jungen und Mädchen gibt, für die der erste Joint zunächst eine Art befreiende Medizin ist, weil sie solche Gewalterfahrungen hinter sich haben, dass einem beim Zuhören glatt übel wird.«
Das dürfte ihm dann wohl öfters passiert sein. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der minderjährigen Patienten in der Psychiatrie um 800 Prozent gestiegen. Mögliche Ursache: »weiche« Drogen. Der Praktiker Salloch-Vogel hat sich darüber seine Gedanken gemacht. Was hätten die Betroffenen in der Birne, wenn sie keine Drogen konsumierten? Es würde wenig besser aussehen. Nur anders. »Das Gefährliche an jedem Irrtum ist das Körnchen Wahrheit, das in ihm steckt«, schreibt Salloch-Vogel.
Welche Themen muss ein suchtkranker Suchttherapeut in seinem Buch behandeln? »Lebenslüge«, »Scheintiefsinn«, »Besoffene Vorbilder« heißen die Überschriften der knapp gehaltenen, an Aphorismen erinnernden Texte. »Der Mensch als Laborratte«, »Überleben«, »Alttestamentarische Gefühle« – die Titelgebung lässt die religiöse Dimension des Themas erahnen: Sucht, das kommt von Suchen. Suchen nach »Liebe«, der »Gruppe« und der »Aufgabe«. Aber welche Aufgabe sollte einer haben, wenn es ums reine Überleben geht?
Salloch-Vogel antwortet mit einem Beispiel aus seiner Lebenspraxis. »Zweifel ist morgen in der 5. Klasse einer Grundschule eingeladen. Sein Enkel hat das Ganze angeleiert und der Lehrerin gesagt: ›Mein Opa ist Alkoholiker, und der erzählt bestimmt gerne was darüber.‹«
In der Hoffnung, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge, hat der Autor den Enkel befragt, ob dem das denn nicht peinlich sei, wenn der Großvater vor der Klasse zu dem Thema spricht. Das Kind antwortet: »Weiß doch sowieso jeder, dass du Alkoholiker bist, habe ich doch schon jedem erzählt.«
Auch die Lehrerin insistierte. Ob er denn bis 10.45 Uhr sprechen wolle oder nur bis 9.50 Uhr. »Und ihm kommt der Gedanke, dass er da vielleicht doch willkommen sei.« Und dass der Enkel froh ist, einen Großvater zu haben, der derzeit übers Saufen nur Auskunft gibt, während die halbe Klasse über Eltern verfügt, deren Besoffenheitsgrad sowohl um zehn vor zehn als auch um viertel vor elf eine runde Promilleangabe her­gibt.
Zweifels Kolumnen spiegeln auch einen gewöhnlichen Alltagshorror, indem sie vom Horror­alltag berichten: »Am Ende seiner Trinkerzeit empfand er nur noch ein einziges Gefühl: Angst. Da konnte er auch nicht mehr unterscheiden, ob die Angst wegen der Trinkerei oder wegen der Abschiedsgefühle tobte.« Mit Abschied meint er den Abschied von sich selbst, die Möglichkeit, »sich völlig unbeobachtet abzufüllen«.
An anderer Stelle nimmt er die Therapiepolitik als solche aufs Korn. In »Landjugend« beschreibt er, wie er nach Sotterhausen in Sachsen-Anhalt unterwegs ist. Dort liegt der »Therapiehof«, die »einzige Einrichtung für jugendliche Drogen­abhängige und junge Erwachsene im ganzen Bun­desland – mit 35 Plätzen«.
30 Prozent der Patienten sind unter 20 Jahre alt. Man erfährt, dass ein Mädchen mit sieben Jahren zu rauchen anfing, mit neun Jahren kiffte, mit elf Crystal Speed und mit 14 Heroin und Koks nahm. »Auf meinen Körper habe ich immer aufgepasst«, sagt die junge Dealerin.
Wenige Tage später wird sie entlassen, allerdings könne man ja immer noch Feuerzeuggas und Eisspray einatmen oder Tee aus den Blüten des Trompetenbaumes kochen. In diesem Leben ist das Recht auf Rausch zur Pflicht zum Rausch geworden. »Zweifel ist platt und wird immer stiller. Nur 40 Prozent der Patienten stehen die ganze Therapiezeit durch – aber dann spricht man schon von einer guten Haltequote. Sechs von zehn ›Kindern‹ hauen also ab. Abitur hat eines von hundert.« Die Hälfte habe wiederum süchtige Eltern, einem 18jährigen seien 15 Kilogramm Cannabis und fünf Kilo Heroin oder Crack »über das Gehirn gegangen«.
Bleibt die Frage nach der Verantwortung: Hat die überhaupt einer? Hat nicht jeder selbst für sich zu sorgen?
Wenn in dieser Art Literatur, die einen extremen Bereich des Lebens beschreibt, ein Vorwurf mitschwingt, an wen richtet er sich: an Funktionsträger, Verantwortliche in der gesellschaftlichen Hierarchie oder gar gleich an die ganze »Gesellschaft« – wo doch der Autor selbst ein solcher »Entscheidungsträger« ist, der als Arzt an zentraler Stelle gesessen hat, nur um selbst drogenkrank zu werden? Anders gefragt: Kann man jemandem eine solche elementare Schwäche vorwerfen?
Man möchte wissen, ob es überhaupt möglich ist, aus der Sucht Erkenntnis zu gewinnen, ob Krankheit Weisheit hervorruft. Einen freien Willen mag man dem Menschen jedenfalls nach der Lektüre nicht mehr so einfach attestieren. Statt dessen ist vom »Kreischen der Rezeptoren« die Rede: »Nichts am Menschen ist hierarchisch gegliedert, besonders seine Sucht nicht.«
Salloch-Vogels Buch ist so gesetzt, dass sich Sinnsprüche und Zeichnungen auf der linken, die Kolumnentexte auf der rechten Seite befinden. »Jemand, der einen Süchtigen liebt, wird seelisch deckungsgleich krank«, schreibt der Autor.
Jeder mag sich ausmalen, was das für die Selbstliebe bedeutet. Drogen bezeichnen nach Salloch-Vogel einen Mangel. In den Worten seines Alter Ego Rolf Zweifel: »Dann muss ich mich irgendwo abgeben, um überleben zu können.«

Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Im Zweifel ohne. Mit Illustrationen von Dagmar Heidt-Müller. Trokkenpresse-Verlag, Berlin 2008. 120 S., 6,20 Euro