Maximilian Dorner: »Mein Dämon ist ein Stubenhocker«

Immer an der Wand lang

In »Mein Dämon ist ein Stubenhocker« führt Maximilian Dorner das von der Kritik hoch gelobte, aber streckenweise etwas langweilige Tagebuch eines MS-Kranken.
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Im Jahr 2006 stellte der damals 33jährige Münchner Romancier und Verlagslektor Maximilian Dorner fest, dass er plötzlich beim Joggen stolperte und Schwierigkeiten beim Treppensteigen bekam. Außerdem wich ihm zeitweise das Gefühl aus den Händen. Manchmal versagte sogar sein Blasenschließmuskel den Dienst, bevor er es zur Toilette schaffte.
Nach einigen neurologischen Untersuchungen bekam Dorner den Befund: Er war an Multipler Sklerose (MS) erkrankt. Bei der MS handelt es sich um eine chronische Nervenerkrankung. Durch winzige, beim Ausheilen verhärtende Entzündungen im Gehirn wird die Reizleitung der Nerven zu den Muskeln behindert oder unmöglich gemacht. Niemand kann bislang genau sagen, wo und warum die Entzündungen im Hirn auftreten. Die Ausprägungsformen der MS sind unzählig, aber oftmals wird der Bewegungsapparat in den Beinen oder der Gleichgewichtssinn betroffen.
»Jeder Schritt ist eine Qual, den Fuß hoch­heben, nach vorne schlanzen, das Gleichgewicht verlagern. Es ist ganz großes Theater, ­allerdings nur in meinem kranken Kopf«, schildert Dorner einen Spaziergang durch die Stadt.
Er tut das in seinem Buch »Mein Dämon ist ein Stubenhocker«, einen Tagebuch, das er zu verfassen begann, als er ein Jahr nach der Diagnose bereits auf einen Stock für seine immer kürzer werdenden Spaziergänge angewiesen war. Es beschreibt über einen Zeitraum von vier Monaten den Alltag eines Behinderten mit einer Krankheit, von der bis heute kaum jemand eine Vorstellung hat – außer den Erkrankten selbst.
Die Besprechungen des – mittlerweile in der dritten Auflage erschienenen und nachträglich mit dem Aufdruck »Bestseller« versehenen – Buches waren von Spiegel bis Bild der Frau durchweg positiv, fast hymnisch. »Furios«, »souverän« und »total ehrlich« sei das Buch, der Autor ohnehin »ein Könner«.
Bleibt die Frage, ob auch alle Kritiken »total ehrlich« waren. Ist es möglich, das Tagebuch eines Behinderten ohne positive Vorurteile zu lesen? Ohne im Geiste schon beim Aufklappen Bonuspunkte für die angebliche »Tapferkeit« zu vergeben, die chronisch Kranken so gerne unterstellt wird? Und wenn es Schwachstellen im Buch gibt, wer darf sie benennen, ohne unbarmherzig oder behindertenfeindlich zu erscheinen?
Ein anderer MS-Kranker vielleicht? Keine schlechte Idee. Dann sei verraten: Mir selbst wurde die Krankheit im Jahr 2003 diagnostiziert. Seit zwei Jahren gehe auch ich am Stock, und Laufstrecken über einen Kilometer versuche ich höchstens noch mit vielen Pausen an entspannten Urlaubstagen. Die Gefühllosigkeit in den Händen – im Jargon der MS-Kranken »Handschuhe« genannt – ist mir bislang erspart geblieben, ebenso wie Inkontinenz. Dafür kann ich mich ab 38 Grad Fieber nur noch kriechend fortbewegen und neige dabei zu seltsamen hysterischen Anfällen. Mittlerweile habe ich einen Schwerbehindertenausweis. Schadensklasse 60 Prozent. Wenn ich will, kann ich im Bus Senioren von ihren Sitzen vertreiben! Von vielen Betroffenen wird MS auch die »Roulette-Krankheit« genannt. Keiner kann wirklich prognostizieren, was sie morgen für ihn auf Lager hat.
Um es vorwegzunehmen: Die 160 Seiten von Dorners Buch habe ich an einem einzigen Tag gelesen. Interessiert und schnell. Weil ich mich spiegeln wollte in dem Schicksal eines etwas Jüngeren, der einem ähnlichen Beruf nachgeht wie ich. Über die ersten zwei Drittel habe ich mich dabei manchmal geärgert, und manchmal habe ich mich gelangweilt.
Die erste eindrucksvolle Darstellung gelingt Dorner, als er quälend präzise den Moment schildert, in dem er im Krankenhaus die Diagnose erfährt. Er sieht die schwarzen Folien mit den Aufnahmen seines Hirns. Ahnt schon, was das bedeutet, doch der Verstand mag nicht mitspielen. Und interessiert sich plötzlich für völlige Nebensächlichkeiten. »An den hellgrauen Rändern des Tisches schimmert die Holzmaserung durch«, ist das, was Dorner am deutlichsten vor sich sieht. Dass die Aufnahmen dazwischen seinen Zustand erklären, berührt ihn weniger. Er will nur raus aus dem Krankenhaus. »Ich werde genug Zeit haben, mich damit auseinanderzusetzen (…) Weil es sich um etwas Lebenslängliches handelt.«
Den Leser beschäftigt Dorner allerdings mit ganz anderen Themen. Mit Gesetzgebungen zum Thema Behinderung zum Beispiel, bei denen man den Eindruck nicht loswird, dass sie den Autor selbst nicht richtig interessieren. Eine weitere Auseinandersetzung, die sich durch das ganze Buch zieht, beginnt kurz nach der Diagnose. Da übernachtet Dorner bei Freunden. Findet eine zerfledderte Bibel und blättert sie nach dem Zufallsprinzip durch. »Ich muss laut lachen. Punktlandung bei der ›Heilung des Gelähmten‹«. Diese Geschichte, in der Jesus einem Mann seine Gehfähigkeit wieder gibt, wird zum immer wiederkehrenden Thema des Buches. Ist es wirklich so, dass die Bibel ein sündiges Leben zum Grund für schwere Krankheit erklärt? Dorner spricht darüber mit Theologen und sinniert etliche Seiten. Mir war es beim Lesen ehrlich gesagt egal. Irgendwann begann ich, Seiten zu überblättern.
Lieber hätte ich von den Dingen erfahren, die in der ersten Zeit der Krankheit auf einen einstürzen: Wann und warum hat Dorner sich für seine Medikamentierung entschieden? Er scheint Interferon zu spritzen, schreibt das aber nie explizit. Wie ist er über die Monate gekommen, in denen man noch nicht weiß, welchen Verlauf die Krankheit nimmt? Ob man zu den Patienten zählt, die binnen weniger Jahre sterben müssen?
Vielleicht hat Dorner einen langen Anlauf gebraucht, um im letzten Drittel des Buchs eindrücklich zu werden. Da fällt das Visier, und er schreibt über die Dinge, die einem bei aller Coolness, Selbstironie und Organisationsfähigkeit von der Krankheit geraubt werden: »Inzwischen halten Frauen, selbst Schwangere, mir die Türen auf. Dabei wäre es schön, genauso oft Bitte wie Danke zu sagen.«
Er berichtet über die Scham, Windeln tragen zu müssen. Als Mann, als Liebhaber von vielen Frauen nicht mehr ernst genommen zu werden. »Eine Viertelstunde später bin ich umringt von fünf bildhübschen Frauen. Fünf. Irgendwie wirke ich wohl anziehend und gleichermaßen ungefährlich.«
Auf den letzten Seiten gelingt Dorner eine Passage, die auf wenigen Zeilen verdeutlicht, was jeder MS-Kranke jeden Tag so oder ähnlich hundert Mal denkt und was ihn für immer von ­allen anderen trennt.
»Die sechs Stufen zur Wohnungstür sind (so) breit, dass ich mich an schlechten Tagen zwischen Geländer und Wand mit ausgestreckten Armen einklemmen kann. Links neben der Wohnungstür ist mein Schlafzimmer. Manchmal lasse ich mich mit einer Drehung aufs Bett fallen. Dabei ertappe ich ein streberhaftes Kommandozentrum in meinem Gehirn, das Stürze bereits vorausberechnet, wenn ich erst schwanke.«
Für Leute, die nichts oder wenig von MS wussten, kann »Mein Dämon ist ein Stubenhocker« ein beeindruckendes Buch sein. Der nächste Autor darf nun aber gern ein populäres Sachbuch zum Thema schreiben.

Maximilian Dorner: Mein Dämon ist ein Stubenhocker. Zabert Sandmann, München 2008. 176 Seiten, 16,95 Euro