Daniel Kehlmann: »Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten«

Kehlmann und Brecht

Ein Schulaufsatz nach Tucholsky.

Einleitung
Wenn wir die deutsche Literatur und ihre Geschichte überblicken, so bieten sich uns vorzugsweise zwei Helden dar, die ihre Geschicke gelenkt haben, weil einer von ihnen seit über 50 Jahren tot ist und deswegen im Nebel der Ideologien des letzten Jahrhunderts verfangen. Der andere lebt im Jetzt und ist lieber unideologisch und hat eben wieder ein Buch geschrieben, das heißt »Ruhm« und ist ein Spiegelkabinett. Daher scheint es uns wichtig und beachtenswert, wenn wir zwischen dem mausetoten Brecht und dem mauselebendigen Kehlmann einen Vergleich langziehn.

Erklärung
Um Brecht zu erklären, braucht man nur darauf hinzuweisen, dass derselbe kein Anhänger der Demokratie gewesen ist, so wie Kehlmann es aber ist. Kehlmann hat viele Preise gewonnen sowie das Ansehen der deutschen Literatur in der ganzen Welt und eigentlich auch den Lite­raturnobelpreis, nur hat ihn dann der Franzose bekommen und davor eine Frau.

Begründung
Brechts Werke heißen Marie A. und Kranich und Wolke und Ergebenheitsadressen an Ulbricht. Brecht ist ein Marxstein des deutschen Volkes, auf den wir stolz sein können und um welchen uns die andern beneiden. Noch mehr beneiden sie uns aber um Daniel Kehlmann. Zum Beispiel redet er in einem sehr dünnen Buch, das »Requiem für einen Hund« heißt, mit Sebastian Kleinschmidt sehr gut über sehr viele Themen: Über Tiere und Gott, über Gott und Geschichtenschreiben, über den Tod und Genies und den Tod bei Tieren, über Ausgedachtes und Echtes und Geschichte, über Humor bei einem schlechtgelaunten österreichischen Schriftsteller, Gott und Tieren sowie über Schauspieler und Kindheit und Studium und Arbeit und Schriftstellerei und Tiere. Dabei kommen interessante Sachen raus, die besonders Kleinschmidt fast besser noch als Kehlmann auf den Punkt bringt, zum Beispiel: »Man sollte denken, Hochbegabung sei ein Segen, aber sie ist in vielem ein Fluch«, oder: »Wir fühlen uns ständig im falschen Leben eingesperrt, uneins mit uns selbst. Das Tier kennt diese Selbstentfremdung nicht. Deswegen sind Tiere immer graziös. Grazie heißt, in der Bewegung eins mit sich sein«, das war Kehlmann, nicht Kleinschmidt, und ist auch sehr interessant. Obwohl ich glaube, dass der Lisas bekloppten fetten Chihuahua noch nie gesehen hat. Sehr gut aber wieder Kleinschmidt zum Komischen und zur Schieflage: »Der Begriff der Schieflage gehört zur Ontologie des Komischen.« Kleinschmidt erklärt dem Kehlmann auch, dass er, der Kehlmann, den zur Ontologie des Komischen gehörenden Begriff der Schieflage in der »Vermessung der Welt« sehr gut verstanden und angewendet hat: »Ich brauche nicht daran zu erinnern, welche Fülle komischer Szenen Ihr Buch bietet.« Macht er dann aber doch, zur Sicherheit. Kehlmann hat in demselben Buch auch tolle Einfälle, aber die sind schwieriger zu verstehen als die von Kleinschmidt. Zum Beispiel der mit den Gespenstern: » … natürlich gibt es für einen Wissenschaftler methodisch gesehen keine Gespenster. Man könnte aber hinzufügen, für ein Gespenst gibt es auch keine Wissenschaftler.« Das ist schon ein etwas komplizierterer Gedanke, weil man ja nicht weiß, von welchem Gespenst der Kehlmann das hat, dass es nicht an Wissenschaftler glaubt, wenn es denn keine gibt. Also Gespenster, meine ich jetzt, nicht Wissenschaftler. Aber am Ende ist ja die Hauptsache, dass er das weiß.

Beispiel
Wie sehr Kehlmann Brecht überragt, kann man vor allem an seinem letzten Buch sehen, dem oben­genannten Erzählbuch »Ruhm«. Themen dieses Buches sind: »Hybris und Macht des Schriftstellers« (FAS), »die Fragilität von Ruhm wie Leben« (Die Zeit), »der postmoderne Mensch, der nicht mehr daheim ist im Ich« (NZZ), sowie »die Kommunikationstechnologie und ihr Versagen« (Kehlmann). Das allein sind schon vier Themen. Eigentlich aber gab es noch viel mehr: Es gab noch Tod und Verlangen, Angst und Mut, Spiel und Ernst und Gott und die Welt. Tiere gab es eigentlich keine. Dafür ist es ein zersplitterter, multiperspektivischer Roman und ein Experiment in Struktur. Das sagt Kehlmann, weil das Buch aus neun ganz verschiedenen Geschichten besteht, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben, irgendwie dann aber doch. Zum Beispiel: Eine von den Figuren schreibt gleichzeitig auch einige von den Geschichten, in denen manchmal dieselben Leute mitspielen, und manche von ihnen fangen an, mit dem, der die Geschichten schreibt, zu sprechen. Das ist wieder wahnsinnig kompliziert, zum Glück aber wird dafür im Buch erklärt, was es heißen soll: »›Wir sind immer in Geschichten (…) Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt.‹« Das ist ein guter Gedanke, auf den ich deswegen noch mal zurückkomme. Außerdem ist das Buch formal hinfortgeschritten, nämlich das formal Av-an-cier-tes-te, was er je gemacht hat, sagt Kehlmann. Und das stim­mt: Es sind wirklich alle Erzähltechniken drin, außerdem ist es ganz voll mit literarischen Querverweisen. Einige sagen trotzdem, dieses Buch ist nicht so gut wie sein letztes, weil zum Beispiel die Figuren flach liegen bleiben und das Ganze des Romans nicht funktioniert, aber aus der FAZ weiß ich, dass das nur daran liegt, dass das Buch eben so sehr gut ist. Ein Schwede soll gesagt haben, dass es andere deutsche Schriftsteller zu Wandtelefonen macht, d.h. es macht sie unmodern. Und das stimmt, dieses Buch ist ganz modern. Modern ist zum Beispiel dieser Einfall mit dem Erzählen, jetzt komme ich wieder darauf zurück: Der Mann aus der zweiten Geschichte in dem Buch ist ein bekannter Autor, der dann selbst die dritte Geschichte in dem Buch schreibt, in der eine alte Frau vorkommt, die eigentlich sterben soll. Dann beginnt sie aber, mit ihm darüber zu streiten, ob sie wirklich sterben muss, aber der Schriftsteller will sie nicht leben lassen, weil das seine Geschichte kaputt machen würde. Er versucht, ihr zu erklären, dass sie ja nur aus Wörtern und Gedanken und Bildern besteht, nämlich aus seinen, aber sie antwortet: »›Ich will nicht. Ich habe Schmerzen. Auch dir wird es so gehen, und auch dir wird dann irgendwer sagen, daß du nicht existierst.‹« Und er antwortet: »›Rosalie, das ist ein Unterschied. Ich existiere.‹« Und das ist jetzt interessant, weil wir ja wissen, dass es den Autor der Geschichte in Wirklichkeit gar nicht in echt gibt, sondern er nur von Kehlmann ausgedacht ist. Der Autor, also der ausgedachte von Kehlmann jetzt, nennt seine Geschichte wo­anders, aber innerhalb ihrer selbst (!) eine theologische, und ich glaube, damit ist gemeint, dass ja vielleicht Kehlmann und damit ja wir alle nur so Figuren in Geschichten sind, und dann ist die Frage, wer sich das alles ausgedacht hat … na? Das ist doch mal modern! Auch natürlich: Wo gehen wir alle hin, wenn die Geschichte zu Ende ist.
Außerdem ist das Buch lustig, »vor Witz funkelnd«, steht in der NZZ. Es funkelt zum Beispiel in der siebten Geschichte, wo ein doofer Internet-Nerd, der kein eigenes Leben hat und noch bei seiner Mutter wohnt und nicht schreiben kann und eigentlich auch nicht sprechen und total fett ist, sich auf so einem Kongress total zum Gollo macht. Obwohl, ich wohne auch noch bei meiner Mutter. Dafür bin ich nicht fett.

Schluss
Nachgewiesen werden konnte hier endgültig, dass Brecht ein Autor ist, auf den wir stolz sein können, aber kein Demokrat, Kehlmann hingegen Demokrat und Autor, auf den wir stolz sein können, in einem ist und dabei noch modern und formal lanciert. Nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Figuren flach liegenbleiben und der Roman kein Ganzes ist.

Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 224 Seiten, 18,90 Euro

Daniel Kehlmann/Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund. Matthes und Seitz, Berlin 2008. 129 Seiten, 12,80 Euro