Kreative Lösungen aus Frankreich

Land der Ideen

Der französische Staat ist stolz auf seine Kernenergie. Bei der Wahl der Zwischenlager zeigt er sich kreativ. Wo der massenhaft produzierte radioaktive Müll endgültig bleiben darf, ist aber auch in Frankreich ungeklärt.

»Wir haben zwar kein Erdöl, aber wir haben Ideen«, warb die französische Regierung während der Ölkrisen in den siebziger Jahren. Weil Frankreich im Gegensatz zu den Briten, die damals nach Nordseeöl bohrten, keine eigenen Ölvorkommen anzapfen konnte, unterstrich die französische Regierung die technologische Kompetenz des Landes – vor allem die auf dem Gebiet der Kern­energie, in der Frankreich alsbald führend war. Heute laufen zwischen Rhein und den Pyrenäen 59 Atomreaktoren, die 80 Prozent des französischen Elektrizitätsbedarfs decken.
Ideenreich präsentiert sich Frankreich auch, wenn es um die Entsorgung des Atommülls geht. Das ist nötig, denn davon gibt es eine ganze Menge. Rechnet man alle radioaktiv strahlenden Reststoffe zusammen, brachte es die französische Kernenergie bisher auf eine Milliarde Tonnen nuklearer Abfälle, unter ihnen 300 Millionen Tonnen radioaktiven Abraums aus früheren Uran­minen, die zwischen 1945 und 1991 in Betrieb waren – und das waren bis zu 200. Mitte Februar rief eine Reportage im Fernsehsender France 3 erstmals einer größeren Öffentlichkeit die Lagerstätten der strahlenden Überreste ins Gedächtnis: Aus ehemaligen Uranabbauplätzen wurden Straßen, Spielplätze, ein Sägewerk, Badeseen und andere Erholungsorte. Strahlende Abraumhalden wurden notdürftig umzäumt, und wenn Geigerzähler zur Radioaktivitätsmessung aufgestellt wurden, dann dort, wo die Strahlung am schwächsten ist.

Zur Verharmlosung des Atommüllproblems trägt auch die Behauptung bei, Frankreich erzeuge jährlich 200 Tonnen Atommüll. Diese Angabe umfasst nur die abgebrannten Brennstäbe aus Atomkraftwerken. Hinzu kommen jedoch etwa die radioaktiv strahlenden Abwässer von Reinigungsarbeiten in Kraftwerken oder die Chemikalien, die zur Wiederaufarbeitung – also zur Abtrennung des Urans und des Plutoniums von abgebrannten Brennstäben – in der Anlage im normannischen La Hague benutzt werden. Auch diese müssen mindestens für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende von Menschen möglichst weit entfernt und abgeschirmt aufbewahrt werden.
Jüngst bot sich ein weiterer Anlass zu verstärkter Aufmerksamkeit für das Problem radioaktiven Abfalls. Vorige Woche rollte der bislang größte Atommülltransport aus der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) La Hague zum Hafen von Cherbourg, um von dort nach Japan verschifft zu werden. Das Atommülltransportschiff der britischen Reederfirma Pacific Nuclear Transport Limited wird 70 Tage lang auf den Weltmeeren unterwegs sein – mit 20 Tonnen »Mischoxyd« (Mox) an Bord.
Bei Mox handelt es sich um aus Atommüll hergestellten Brennstoff für Atomkraftwerke, der aus einer Mischung von Uran und Plutonium besteht. Der Einsatz dieses Brennstoffs ist noch umstrittener als der Einsatz von herkömmlichen Brennstäben. Denn das in ihm enthaltene Plutonium strahlt weitaus stärker als das spaltbare Uran 235 oder Uran 238. Und während zumindest niedrig angereichertes Uran (mit geringem Uran 235-Anteil), wie es in sonstigen Brennstäben eingesetzt wird, selbst nicht waffentauglich ist, enthält Mox-Brennstoff atomwaffenfähiges Material. Die 70tägige Fahrt des Atommüllschiffs von Frankreich nach Japan wird auch daher in Begleitung eines Schiffs mit Elitetruppen der britischen Armee stattfinden.

Die französische Atomfirma Areva behauptet, die Verwendung von Mox sei »Recycling«, das dazu beitrage, die Gesamtmenge des Atommülls zu vermindern. Wer aber Mox herstellen möchte, muss mithilfe chemischer Prozesse für eine Abtrennung der spaltbaren Materialien aus der sonstigen Masse der abgebrannten Brennstäbe sorgen. Dadurch wird die Müllmenge vergrößert. Denn die einzelnen chemischen Substanzen, die in den Brennstäben enthalten sind, werden dabei separiert. Zudem werden alle Substanzen, die bei der Aufbereitung eingesetzt werden, im Laufe des Prozesses radioaktiv. Und auch aus den Mox-Brennstäben wird nach dem Abbrennen wiederum radioaktiver Müll.
Die neuen Reaktoren der so genannten dritten Generation vom Typus »Europäischer Druckwasserreaktor« (EPR) werden zu 100 Prozent mit Mox befeuert, während herkömmliche Atomkraftwerke nur zu höchstens 30 Prozent mit dem Mischoxyd bestückt werden. Frankreich zählt zu denjenigen Staaten, die den Einstieg in die neue Reaktor­generation forcieren. Im normannischen Penly ist ein solcher EPR im Bau, und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy lancierte Anfang Juli vorigen Jahres den Bau eines zweiten. In der letzten Februarwoche vereinbarte Sarkozy mit dem italienischen Premierminister Silvio Berlusconi den Bau von vier EPR-Reaktoren in Italien. Die aktuelle Politik wird also dafür sorgen, dass auch weiterhin eifrig Atommüll produziert wird. Dabei ist noch unklar, was mit dem alten Atommüll passieren soll.

Vor 1969 gab es dafür noch eine simple Lösung: Man kippte den radioaktiven Abfall einfach ins Meer. Alarmierende Messungen im Ärmelkanal sorgten dann dafür, dass dies unterbleiben musste. Daraufhin wurde in der Nähe von La Hague ein Zwischenlager errichtet, in dem von 1969 bis 1994 rund 560 000 Kubikmeter radioaktive Abfälle eingelagert wurden. Als Ersatz für dieses wurde seit 1992 ein anderes in Betrieb genommen: In einem ausgedehnten Waldstück im Département Aube (Region Burgund). Dort stehen 90 kubikförmige Betonbehälter, in denen Atommüll von einer Granulatsubstanz eingeschlossen ist, buchstäblich im Wald.
Diese als »schwach« und »mittel radioaktiv« eingestuften Abfälle müssen nur für rund 700 Jahre im Auge behalten werden. Aber was mit den hoch radioaktiven Abfällen passieren soll, ist bislang ungeklärt. Ein Gesetz von 1991 – die Loi Bataille – sah vor, dass innerhalb von 15 Jahren durch Forschungen in den drei Gesteinsformationen Granit, Ton und Salzstock ein potenzieller Endlagerstandort bestimmt werden solle, der auch über lange Zeitraum hinweg als sicher gelten könne. Bei der Endlagersuche kam es jedoch vielerorts zu starkem Widerstand, so dass die erforderlichen Forschungen unterblieben.
Allein in Bure, einer kleinen Kommune in Ostfrankreich in rund 130 Kilometern Entfernung von der deutschen Grenze, kamen die Forschungen voran. Hier wurde in eine Ton-Lehm-Mischung immerhin 500 Meter tief gebohrt, aber ernsthafte Untersuchungen blieben Kritikern zufolge aus. Vielmehr war der politischen Führung daran gelegen, die Arbeiten bis zum gesetzlich vorgegebenen Stichdatum im Jahr 2006 »erfolgreich« zum Abschluss zu bringen, um der französischen Atomindustrie zu einer Legitimation durch einen »Entsorgungsnachweis« zu verhelfen.
Bis im Jahr 2015 soll nun endgültig der Standort für das Endlager festgelegt werden. Wirklich in Frage kommen dürfte dafür im Augenblick nur Bure. Allerdings nicht aus technologischen, sondern aus politischen Gründen: Das Gebiet um Bure ist relativ dünn besiedelt. Die dortigen Kommunen sind arm, und die Millionenspritzen der für die Endlagerforschung zuständigen Agentur Andra sind den Bürgermeistern daher willkommen. Wegen der geringen Bevölkerungsdichte wird mit geringem Widerstand gerechnet.