Irland vor der Staatspleite

Licht aus im Wunderland

Irland ist einer der EU-Staaten, die am meisten von der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen sind. Steht das einstige europäische Musterland vor der Staats­pleite? Am Beispiel Irland zeigen sich mehrere Aspekte der globalen Krise und die Perspektive deutscher Stärke.

Es war die größte Demonstration, die Dublin seit Jahrzehnten erlebt hat. 120 000 Menschen gingen am vorletzten Wochenende auf die Straße, um gegen die Sparpolitik der Regierung zu demonstrieren. Die Liste der Maßnahmen, gegen die sich die Wut richtete, ist lang und soll nach dem Willen des irischen Premierministers Brian Cowen dafür sorgen, dass 15 Milliarden Euro in den Staatskassen bleiben. Neben Einschränkungen sozialer Leistungen sind vor allem Stellenstreichungen und ein Sonderbeitrag zur Rentenversicherung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst vorgesehen, die Investitionen in Infrastrukturprojekte und regionale Strukturhilfen sollen eingestellt werden. Irland ist damit eines der Länder, die keine andere Wahl mehr haben, als anti-antizyklisch zu handeln und öffentliche Ausgaben radikal zu reduzieren. »Konjunkturpakete«, wie sie in vielen anderen Staaten derzeit verabschiedet werden, verbieten sich angesichts der bereits existierenden 9,5 Prozent Neuverschuldung – immerhin das Dreifache dessen, was der EU-Stabilitätspakt zulässt.

Dabei galt Irland noch vor wenigen Jahren als herausragendes Beispiel sowohl gelungener deregulierender Wirtschaftspolitik als auch der EU-Strukturpolitik. Ein über 15 Jahre andauerndes durchschnittliches Wachstum von acht Prozent bescherte einem der früher ärmsten Staaten Europas ein höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner als Deutschland, Frankreich und – für das nationale Selbstbild besonders wichtig – Großbritannien. Mit 4,6 Prozent hatte der Inselstaat noch 2007 eine der geringsten Arbeitslosenquoten in Europa und auch der Haushalt war ausgeglichen. Viele der Beamtenstellen und Infrastrukturprogramme, die nun wegfallen sollen, wurden in den Boomzeiten seit Mitte der neunziger Jahre geschaffen bzw. beschlossen.
Jetzt aber ist Schluss mit dem Wirtschaftswunder. Die Arbeitslosigkeit hat sich auf fast zehn Prozent verdoppelt und steigt unvermindert weiter, das Haushaltssaldo ist tief in den roten Zahlen, und die Staatschulden sind mit 54,8 Prozent des BIP nur noch knapp unter der von der EU vorgegebenen Rate von 60 Prozent. Vor allem aber bekommt der Staat kaum noch günstige Kredite, seit die beiden großen Rating-Agenturen Standard & Poor’s und Moody’s angedroht haben, die Bonitätsnoten für Irland drastisch herabzusetzen. Derzeit muss Cowens Regierung an den Kapitalmärkten immerhin zwei Prozent mehr an Zinsen zahlen als beispielsweise Deutschland. In keinem der alten EU-Länder hat die Finanzkrise ähnlich dramatische Ausmaße erreicht. Dabei sind die Ursachen dieser Krisenerscheinungen die gleichen, die Irland seinen Boom beschert haben. Hier finden sich alle Faktoren der derzeitigen weltweiten Krisenerscheinungen.
Da ist zunächst die Struktur der irischen Wirtschaft. Das traditionelle Agrarland bekam seit Beginn der neunziger Jahre nicht nur viel Geld aus dem EU-Strukturfonds, sondern wegen des geringen Lohnniveaus gab es auch Investitionen ausländischer Konzerne. Vor allem der mit 12,5 Prozent international kaum zu unterbietende Unternehmenssteuersatz machte aus Irland einen Industrie- und Dienstleistungsstandort. Zuletzt wurden 70 Prozent der irischen Wertschöpfung durch ausländische Investitionen erwirtschaftet. Neben den sprichwörtlichen Call-Centern verlagerten vor allem IT-Konzerne ihre Produktion nach Limerick oder Cork. Gerade bei ihnen zeigt sich aber die kurze Laufzeit einer rein von ausländischen Investitionen abhängigen Nationalökonomie. »Im Zeitalter der Globalisierung«, so bilanziert Will Hutton von der Londoner Beraterfirma Work Foundation, »zieht die Karawane rasch weiter und sucht sich billigere Standorte.« So haben sich IBM, Apple und Microsoft bereits vor Jahren billigere Standorte gesucht und ihre Werke aus Irland abgezogen. Nun hat Dell als letzter verbliebener IT-Konzern angekündigt, auch das Licht ausschalten zu wollen. Die Produktion soll ins billigere polnische Lodz verlagert werden.
Der Wegfall sicher geglaubter Jobs hat auch das Ende des in Europa lediglich mit Spanien vergleichbaren Baubooms beschleunigt. Auf dem Höhepunkt der irischen Immobilienblase 2006 wurden fast 15 Prozent der Wirtschaftsleistung im Bausektor erwirtschaftet. 300 000 Menschen – das entspricht immerhin rund acht Prozent ­aller Jobs – waren in diesem Bereich beschäftigt. Die Hauspreise stiegen um 300 Prozent. Nun stehen dem Dubliner Economic and Social Research Institute zufolge knapp 300 000 Wohnungen und Häuser leer. Tausende von Bauarbeitern reihen sich in die Schlangen vor den Arbeitsämtern ein, und selbst in den schicken Quartie­ren am Ufer des Liffey fallen die Preise, die noch vor kurzem auf Londoner Niveau waren, ins Bodenlose.

Wie in den USA zieht der zusammenbrechende Immobilienmarkt aber vor allem den Bankensektor mit in den Abgrund. Bis 2011 rechnet beispielsweise die zweitgrößte Bank des Landes, die Bank of Ireland, die zuletzt fast 70 Prozent ihrer Geschäfte im Immobiliensektor tätigte, mit Abschreibungen im Wert von sechs Milliarden Euro. Dass in einem vergleichsweise kleinen Land wie Irland solch horrende Summen zusammenkommen können, liegt daran, dass in keinem anderen europäischen Land eine ähnlich laxe Bankenaufsicht existierte. Nicht umsonst siedelten viele europäische Banken Gesellschaften zum Handel mit Finanzderivaten in Dublin an. Auch die mittlerweile völlig marode Pfandbriefbank der Hypo Real Estate, die Depfa, verlegte ihren Hauptsitz nach Irland. Dass sich das rächen kann, erlebt nun auch die irische Regierung. Bereits elf Milliarden Euro musste sie zur Stützung ihrer Banken ausgeben. Die immerhin drittgrößte Bank des Landes, die Anglo Irish Bank, wird derzeit verstaatlicht, nachdem auch finanzielle Zuwendungen ihren Niedergang nicht mehr hatten aufhalten können.
Glaubt man den im Handelsblatt befragten Analysten, so wird Irland nach der Rezession nicht an den Erfolg des »keltischen Tigers« anknüpfen können. Sein Ruf als Bankenplatz ist genauso hin wie die Flucht in den Protektionismus angesichts der geringen eingesessenen industriellen Basis unmöglich. Profitierte Irland in den vergangenen Jahren noch von seiner Lage zwischen ­Europa und den USA, und dies nicht nur geographisch, so liegt die Hoffnung derzeit eher im Osten. Die Stabilität des Euro hat einen Staatsbankrott wie in Island bisher verhindert. Dies sieht auch ­Cowen so. »Wir wären nie mit der Finanzkrise zurechtgekommen«, so der Premier­minister, »wenn wir nicht Mitglied der Euro-Zone wären und die Unterstützung der Europäischen Zentralbank hätten.« Vorschläge zur Rettung des Staatshaushalts kommen derzeit vor allem aus Deutschland. Mitte Februar deutete Finanzminister Peer Steinbrück bereits an, dass Milliarden­hilfen für Irland erwogen würden, auch wenn die meisten seiner ebenfalls krisengebeutelten Kol­legen wenig Begeisterung dafür zeigen. Dass Deutschland politisch als einer der Sieger aus der Krise hervorgehen könnte, deutet sich am Beispiel Irlands bereits jetzt an. Oder wie einer der bekanntesten Kommentatoren der Insel, David McWilliams, es formuliert: »Ob es Herrn Steinbrück nun gefällt oder nicht – er muss Irland behandeln wie eines seiner Bundesländer.«