Attac-Kongress in Berlin

Mehr Propaganda, mehr Lärm!

Die Teilnehmer des Attac-Kongresses »Capitalism – No Exit?« fanden nicht nur eine, sondern viele Alternativen zum »Neo­liberalismus«. Die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft gehört nicht dazu.

Heiner Flassbeck, Chefvolkswirt der United ­Nations Conference on Trade and Development in Genf, versteht nicht nur theoretisch etwas von Ökonomie, er weiß sie auch zu praktizieren. In seiner Eröffnungsrede auf dem Attac-Kongress kommt er mit einem einzigen Gedanken aus: Die von den Politikern beförderte Gier der Banker habe uns die Finanzkrise beschert; schließe man das »Casino«, komme die Welt wieder in Ordnung. Die 2 000 Zuhörer, die sich im Auditorium der Technischen Universität Berlin drängen, spenden begeistert Applaus. Ein würdiger Auftakt für ein Wochenende des Grauens.
Die Globalisierungskritiker machen weiter wie gewohnt, obwohl ihre Rhetorik von der einer Angela Merkel kaum mehr zu unterscheiden ist. Auch Flassbeck bemüht die alten Werte des bodenständigen Kapitalismus gegen die luftigen Ge­schäfte des »Neoliberalismus«, der »nicht produktiv« gewesen sei, wie er unermüdlich wiederholt. »Arbeit ist langweilig, Arbeit ist uninteressant«, sei die verheerende Botschaft der neoliberal berauschten Politik gewesen, nicht nur die Banker, wir alle seien von der Gier infiziert worden. Angesichts des Scherbenhaufens ruft der Sozialdemokrat zur geistig-moralischen Wende auf, aus jedem Satz seiner Rede dringt der Appell, wieder die bewährten Tugenden von Arbeit, Fleiß und Anstand zu pflegen. Das nationale »Wir« ist ihm zur zweiten Natur geworden und scheint niemanden zu stören. Erst als Flassbeck dem Kongress-Motto »Capitalism – No Exit?« entgegen­hält, dass es an Kapitalismus und Marktwirtschaft überhaupt nichts auszusetzen gebe, wird das Publikum, das die Ausführungen des Mannes bis dahin offenbar für Kapitalismuskritik gehalten hat, hellhörig. Es kommt zu Gemurre und Zwischenrufen.

Aus Kongressen wie diesem geht man dümmer heraus, als man hinein gegangen ist, obwohl oder gerade weil sich unter den zahllosen Referen­ten vereinzelt kritische Geister befinden und hier und da ein richtiger Satz fällt. Die repressive Toleranz, die das Ganze durchherrscht, macht jeden vernünftigen Gedanken augenblicklich zunichte, jede Erkenntnis ist von vornherein nur unverbindliche Meinung. Was ist ein Workshop über marxistische Staatskritik wert, wenn im Nebenraum freiwirtschaftliche Geldpfuscher über »Entstehung und Mechanismen der kapitalistischen Geldökonomie und die Antwort biblischer Theologie und buddhistischer Philosophie« sinnieren, um »interreligiös nach gemeinsamen Ansätzen und Handlungsmöglichkeiten für das Leben aller Menschen und der Erde zu suchen«, gefolgt von einem Seminar über »Geld und Wucher im Renditekapitalismus« (»›Wucher‹ ist keine historisch überkommene, sondern eine für den Kapitalismus zentrale Kategorie«)?
So konnte man am vergangenen Wochenende in Echtzeit die traurige Dialektik des Pluralismus verfolgen: Er tritt im Namen freier Wahrheitsfindung an und sabotiert diese zugleich, weil dogmatisch festgelegt ist, dass immer alle gleichermaßen Recht haben, die »Brechung der Zinsknechtschaft« also ein ebenso akzeptables Programm ist wie die Aufhebung der Warenproduktion.
Immerhin hatte die Konfusion, die aus diesem Pluralismus ohne Schmerzgrenzen resultierte, auch ihren Unterhaltungswert. So lieferte sich et­wa Robert Kurz mit dem Linkskeynesianer Joachim Bischoff und einem Bernhard Emunds, »Lei­ter des Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik und Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen«, einen Schaukampf über die Regulierung der Finanzmärkte. Kurz, der als kritischer Überwinder eines angeblichen »Klassenkampffetischs« der Linken zu Prominenz gelangte, sich seit dem AEG-Streik vor seiner Nürnberger Haustür jedoch offenbar eines Besseren besann, klang an diesem Morgen wie ein Verfechter der Klassenautonomie, also durchaus vernünftig. Es brauche eine »autonome, grenz­überschreitende Bewegung«, die für Tagesforderungen wie höhere Löh­ne und die Abschaffung von Hartz IV kämpfen müsse, dies angesichts der Krise jedoch überhaupt nur tun könne, wenn ihr die Finanzierbarkeit ihrer Anliegen und der ganze Weltmarkt »scheißegal« seien. Das aber fand Emunds ganz und gar »unverantwortlich«: »Wir brauchen kleine Ban­ken, die nah an der Realwirtschaft sind. Da müssen wir zu einer Innovation kommen.« Bischoff wiederum hatte etwas am Umbau der Hamburger Sparkasse auszusetzen, fand die schlampige Steuerfahndung in Deutschland »unglaublich« und wollte »hin zu Roosevelt«. Kontroversen, die die Welt nicht braucht.

Das Ergebnis des Kongresses stand ohnehin von vornherein fest: Es gibt nicht nur eine, sondern zwei, drei, viele Alternativen zum »Neoliberalismus«, mindestens ein Dutzend, die der Moderator des Abschlusspodiums jedoch so schnell herunter ratterte, dass ich mir gerade noch »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, »öffentliche Güter«, »freiwirtschaftliche Geldreform«, »EU als sozial-ökologischer Regulierungsraum« und »neu­es Bretton Woods« notieren konnte. Die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft führte der Mann nicht an.
»Welche sollen wir ausprobieren?« wollte der Moderator wissen und meinte dies nicht als Scherzfrage. Und so ging die babylonische Sprach­verwirrung in ihre nächste und glücklicherweise letzte Runde. Frigga Haug sagte, dass man die Alternativen nicht immerzu vom Regierungsstandpunkt aus formulieren solle, was ihr nur spärlichen Applaus einbrachte. Hans-Jürgen Urban von der IG Metall wollte immerhin die »Illusion von der sozialen Marktwirtschaft über Bord schmeißen«, während Heiner Geißler eher Ludwig Erhard, die katholische Soziallehre und den Ordoliberalismus der frühen Bundesrepublik favorisierte, da »Geld und Kapital für sich genommen nichts Falsches« seien. Wieder murrte das Publikum, nur um zu tosenden Beifallsstürmen überzugehen, als derselbe Geißler forderte, Attac müsse »mehr Propaganda machen, mehr Lärm machen«, um »die Menschen« zu mobilisieren. Wogegen, wofür? Egal: Denn es gibt »viele kreative Antworten«, wie Jutta Sundermann von Attac zum Abschluss sicherheitshalber nochmals wiederholte, und der »intensive Lernwille« auf diesem Kongress sei »total klasse« gewesen.
Vom Willen zum Lernen war überhaupt häufig und mit großer Zustimmung die Rede, was damit zu tun haben dürfte, dass das Publikum nach Hochrechnungen der Jungle World zu einem Drittel aus aktiven und mindestens einem weiteren Drittel aus pensionierten Lehrerinnen und Lehrern bestand. Und das ist zugleich die gute Nach­richt: Nachdem jahrelang die beängstigende Meldung die Runde machte, die Jugend sei doch gar nicht »politikverdrossen«, da es sie in Scharen zu Attac ziehe, glänzten Leute unter 30 diesmal durch Abwesenheit.

Möglicherweise haben sie Kongresse dieser Art auf den Gedanken gebracht, dass ihre kleine, private Welt vielleicht doch besser ist als die »andere Welt« von Attac, dass also Piercings, Handys und Shopping – so will es das Klischee – einfach mehr Spaß machen als Vorträge über die Tobin-Tax, Re­gulierungsräume und verbesserte Bilanzierungsregeln. Nicht auszuschließen ist auf der anderen Seite, dass sich der spurlos verschwundene Attac-Nachwuchs, weiterhin vom Bedürfnis nach Veränderung der Welt getrieben, vom leeren Gerede der globalisierungskritischen Experten jedoch ent­täuscht, zu subversiven Plänen verschworen hat. Ob der Nachwuchs nun das eine oder das an­dere getan hat, ist zunächst unerheblich: Beides wäre ein Fortschritt.