Heiner Müller: »Werke. Band 10–12«

Sich weigern zu siegen

In seinen Gesprächen aus drei Jahrzehnten zeigt sich Heiner Müller als Verteidiger der Vernunft gegen ihre falschen Freunde.

Heiner Müller hat seinen Tod nicht lange überlebt. Ende Januar dieses Jahres, als er 80 Jahre alt geworden wäre, ließ sich das Feuilleton, das sonst kein Jubiläum un­gewürdigt verstreichen lässt, allenfalls zu einigen knappen Epitaphen hinreißen. Der wohl berühmteste DDR-­Dramatiker, dessen Souveränität gegen­über der so­zialistischen Obrigkeit ihn in der Bundesrepublik als eine Art Zonen-Beckett hat erscheinen lassen, steht zwar noch immer auf den Spielplänen, ist aus dem Alltagsbewusstsein des gesamtdeutschen Literatur- und Theaterbetriebs aber längst verschwunden. Die drei voluminösen Interviewbände, mit denen der Suhrkamp-Verlag nun seine Müller-Werkausgabe abschließt, kommen da gerade recht. Sie präsentieren den Autor als schwarz­humorigen und illusionslosen Polemiker, der im Gespräch mit seinen oft namhaften Diskussionspartnern den Alltag im geteilten und später vereinigten Deutschland ebenso prägnant kommentiert wie die internationale Politik, die These vom Ende der Geschichte, den ­neokonservativen Rollback seit den frühen neunziger Jahren oder die Phantasien der postmodernen Medienästhetik. Eben hierin liegt aber auch die Schwierigkeit von Müllers umfangreichem Interviewwerk. Da er über fast alles etwas Intelligentes zu sagen weiß, wird sein Einfallsreichtum mitunter beliebig und verliert die individuelle Verve, die sein literarisches Werk bis zum Ende auszeichnet.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich einen Weg durch die drei Bände zu bahnen. Wer sich für die Genese von Müllers intellektueller Physiognomie interessiert, kann sich an seinen Gesprächspartnern orientieren – von Horst Laube und Werner Mittenzwei über Harun Farocki, Alexander Kluge und Erich Fried bis zu Frank Castorf. Wer seine poetische Entwicklung von der Orientierung an Brechts epischem Theater über die Rezeption von Artaud und Beckett bis hin zu einer »postmodernen« Zitat- und Collage-Ästhetik verfolgen möchte, kann sich an die Erwähnung der entsprechenden Kronzeugen im Register halten. Wer schließlich die Wandlungen in Müllers politischem Selbstverständnis nachvollziehen will, kann nachschlagen, was er im Laufe der Jahrzehnte über Adorno, Ernst Jünger oder Botho Strauß zu sagen hatte. Unabhängig vom gewählten Weg stellt sich Müller als Verfasser eines work in progress dar, als jemand, dessen Äußerungen kaum je abschließende Urteile enthalten, sondern die Arbeit an einem Steinbruch fortsetzen, in dem sich der Autor mitunter selbst verliert. Das unterscheidet ihn von Brecht, der zwar ebenfalls stets den Projektcharakter seiner Arbeiten betont, sich jedoch nur selten in den Labyrinthen seines Werks verirrt hat.
Schon in seinen frühen Interviews, denen man die Rücksichtnahme auf die Vorgaben der offiziellen DDR-Ästhetik zum Teil deutlich anhört, äußert sich Müller zwiespältig über Brecht. Bereits hier kommen Antonin Artaud und Samuel Beckett als Gegenentwürfe zur ­Didaktik des epischen Theaters ins Spiel. In einer 1975 beim Wisconsin Workshop anlässlich der amerikanischen Uraufführung von »Mauser« geführten Diskussion über die Poetik des Geschichtsdramas, an der unter anderem Jost Hermand teilnahm, bekundet Müller Bewunderung für Artauds Versuch, dem Theater seine »vitale Funktion« zurückzugeben, und kritisiert den dürren Rationalismus der traditionellen Linken, der die massenpsychologischen »Triebkräfte«, die zum deutschen Faschismus geführt hätten, nicht angemessen analysieren könne. Im gleichen Atemzug bezeichnet er Becketts Stücke als ästhetisches »Extrem«, deren politischer Gehalt provozierender sei als die übliche »engagierte« Dramatik. Mit Blick auf »Godot« formuliert er sogar das selbst scheinbar absurde Diktum: »Wenn man ein Stück von Beckett wirklich intensiv ansieht, dann kann man eigentlich nur noch den Schluss ziehen, dass man am nächsten Tag in die Kommunistische Partei eintreten muss.«
Man geht wohl fehl, wenn man solche Kurzschlüsse, die sich in den frühen Gesprächen häufig finden, einfach als Versuche deutet, das absurde Theater für den sozialistischen Realismus zu retten oder das Interesse für als »dekadent« verfemte Literaten parteipolitisch zu ra­tionalisieren. Vielmehr artikuliert sich in ihnen bereits der für Müllers spätere Dramatik grundlegende Impuls, den Gegensatz zwischen Brecht und Beckett, zwischen politischem Engagement und Ästhetik des Absurden, durch die Formgestalt seiner Stücke aufzuheben.
In diesem Zusammenhang ist auch Müllers Be­geisterung für Artaud zu verstehen, die wenig mit gängigen deutschen Irrationalismen zu tun hat. Auch Artauds Versuch, die Trennung von Bühne und Zuschauerraum in einem Akt dionysischer »Grausamkeit« aufzuheben, wird von Müller nicht gegen den aufklärerischen Anspruch des epischen Theaters ausgespielt, sondern mit ihm zusammengedacht: »Wenn ich mit Artaud etwas anfangen kann oder wenn ich etwas mache, was davon inspiriert ist, dann auf jeden Fall als jemand, der auch Brecht vertraut hat.« Während Brecht den Widerspruch zwischen dem aktivistischen, auf die Zerstörung kontemplativer Betrachtung gerichteten Impuls seiner Stücke und ihrer Bindung an die Form der Guckkastenbühne nie habe auflösen können – Brecht, so Müller, »brauchte diesen Kasten«, seine Dramen seien »Tableaus« –, habe Artaud diesen Widerspruch ohne Rücksicht auf didaktische Ansprüche sprengen wollen. Artaud und Brecht, wie auch Brecht und Beckett, werden nicht als Antagonisten ­begriffen, sondern als Repräsentanten zweier Aspekte derselben Problematik, die es aufeinander zu beziehen gilt.
Vor dem Hintergrund dieses unorthodoxen Verständnisses von Engagement klären sich manche Widersprüche, die in den späteren Gesprächen formuliert werden. Dass Müller insbesondere in seinen Wortbeiträgen seit 1989 mitunter wie ein Apologet der »selbstbewussten Nation« klingt und mit politischen Geschmacklosigkeiten kokettiert, spricht jedenfalls nur teilweise für eine Veränderung seines politischen Selbstverständnisses. Zweifellos lassen sich seit den späten achtziger Jahren Verschiebungen in seinen ästhetischen und philosophischen Interessen ausmachen – am deutlichsten erkennbar an seiner Begeisterung für postmoderne Medientheorien, die sich in vermehrter Berufung auf Virilio, Baudrillard und andere übliche Verdächtige niederschlägt. Gleichzeitig wird aber deutlich, daß der passionierte Zyniker mit dem wolkigen Optimismus des posthistoire nichts anzufangen weiß. Im Gegenteil interpretiert er die postmoderne Verabschiedung des Subjekts ideologiekritisch: »Das ist der Versuch, den Anschluss an die Maschine zu bekommen, zu Fuß rennen sie der Maschine hinterher.« Wenn Müller solcher Abfeierung der eigenen Ohnmacht mit der Maxime begegnet, man müsse sich »weigern zu siegen«, und diese wiederum in den »Gescheiterten« der Dramen Becketts verkörpert sieht, mag man darin eine Nähe zu Adorno ausmachen, den Müller ansonsten eher despektierlich abfertigt.
Freilich hätte Adorno den Postmodernen wohl auch nie vorgeworfen, sie hätten »Angst, nicht zu den Siegern zu gehören, sondern zu denen, die ins KZ – im intellektuellen Sinne – kommen«. Solch launiger Rückgriff auf die KZ-Metapher, der sich bei Müller leider mehr als einmal findet, mag sich der Abneigung gegen die gesamtdeutsche political correctness verdanken, gegen die Müller in den späten Gesprächen häufig polemisiert. Er zeugt aber auch von der Gefahr, im Kampf gegen den verkürzten Rationalismus der »Maschinenwelt« ungewollt selbst ins Lager der irrationalistischen Maschinenstürmer überzulaufen, für die Auschwitz allenfalls als vage Metapher der Moderne fungiert und zu denen längst auch Botho Strauß zählt, dessen nationalistische Größenphanta­sien Müller leider in seinen späten Interviews verteidigt, obwohl er ihn früher so treffend als »Fotografen der Bundesrepublik« auf seinen ästhetischen Platz verwiesen hatte. Solche Fehleinschätzungen zeugen bei Müller aber letztlich eher vom intellektuellen Mut zum Irrtum als von jenem geistigen Niedergang, der seine westdeutschen Kollegen spätestens nach Erreichen des Rentenalters regelmäßig zu ereilen pflegt.

Heiner Müller: Werke. Band 10–12 (Gespräche 1–3, 1965–1995). Hg. v. Frank Hörnigk. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009. Jeder Einzelband umfasst etwa 800 Seiten, 38 Euro je Band.