Die Welt der Musik-Blogs

Aber die schlechte Musik ist die beste

Vom Iran nach Thailand in den Libanon zurück nach Berlin-Kreuzberg. Andreas Michalke nimmt uns mit auf einen Streif­zug durch die Welt der Musik-Blogs und führt uns zielgenau auf seine eigene Web­site

Musik-Blogs, auf denen Fans ihre Lieblingssachen vorstellen, bieten häufig Mp3s zum Anhören oder als Download an. Die Verbreitung von Copyright-geschützter Musik ist zwar illegal, doch viele Blogs funktionieren ähnlich wie Tauschbörsen. Einen verbindlichen Veröffentlichungs-Codex gibt es nicht, dennoch sind viele Blogger bemüht, ausschließlich nicht mehr im Handel erhältliches Material zu verbreiten.
Manche Blogs sind Supermärkte, andere Archive, Museen oder Schnellimbisse. Mich interessiert die Arbeit der Pop-Archäologen, die ihre Flohmarkt- und Trödel-Fundstücke digitalisieren und damit einer breiteren Öffentlichkeit wieder zugänglich machen.
Entgegen den Behauptungen von Musikindustrie und Gema gibt es nämlich immer noch massig Schallplatten auf dieser Welt, an denen sie keine Rechte haben. Das beweist uns immer wieder Radio Diffusion, ein Blog, der sich mit vergessenem Pop aus den süd-östlichen Regionen der Welt beschäftigt. Jede Woche bereichert Stuart seine Seite durch ein neues Fundstück aus Thailand, Libyen oder dem Iran, immer begleitet von Informationen über die Künstler und die Region. Zumeist sind diese Stücke vorher noch nie im Word Wide Web erwähnt worden. Musik, die noch aus einer internet­losen Zeit stammt und die vor allem regional wahrgenommen wurde, wird damit erstmals auch in der westlichen Welt bekannt gemacht.

Ganz besonders hervorgetan hat sich in dieser Hinsicht der deutsche Schallplattensammlers und DJ Frank mit seinem Blog Voodoo Funk. So konnte man ihn drei Jahre lang auf seiner Schallplattensuche durch West-Afrika begleiten. In regelmäßigen Abständen berichtete er von seinen Abenteuern und präsentierte seine Fundstücke: afrikanischer Soul, Funk und Popmusik der siebziger Jahre. Streckenweise wurde Frank auf seiner archäologischen Reise von einem Film­team begleitet. Der Film ist noch in Vorbereitung, Ausschnitte daraus sind allerdings schon auf Voodoo Funk zu sehen. Neuerdings lebt Frank wieder in New York und veranstaltet dort den monatlichen Voodoo Funk-Club.
Ein Blog, der sich dem Wirken vor allem regional bekannter Amateur-Beat-Gruppen der sechziger Jahre widmet, ist Garage Hangover. Chris Bishop aus Brooklyn aktualisiert seine Seite fast täglich, und oft kommentieren ehe­malige Garage-Band Musiker seine Posts. Viele bisher unveröffentlichte Fotos, Scans der Schallplattenlabels und nach Regionen geordnete, detaillierte Bandgeschichten machen den Blog zum wichtigsten Garage-Band-Archiv des Internets.
Auf hohem musikjournalistischem Niveau wird auf den Blogs Crud Crud, Office Naps, The Devil’s Music, The Hound über Soul, Punk, Country, Blues, Rockabilly und viele andere pop­kulturelle Seitenstränge geschrieben.
Diggin’It ist zum Beispiel ein Blog aus West-Texas, der sich mit regionalen 25-Cent-Fundstücken, vor allem aus dem Country, Rockabilly und Soul beschäftigt
Baikinange ist die einzige weibliche Musik-Bloggerin, deren Blog ich jede Woche lese. Schadenfreudian Therapy präsentiert vor allem Easy-Listening und Calypso LPs. Ihr Leitsatz: Ich mag gute Musik und schlechte Musik, aber ich glaube, ich mag die schlechte einfach ein kleines bisschen mehr.

Im Gegensatz zu Reissue-Labels müssen Blogger keine Märkte bedienen. Veröffentlicht wird, was dem Blogger Spaß macht, ohne Rücksicht auf den Geschmack des Publikums. Als ich vor einem Jahr anfing, selbst einen Musik-Blog zu machen, war ich dafür bekannt, dass ich keine E-Mails beantwortete, kein Handy besaß und um alles Digitale einen großen Bogen machte. Kaum hatte ich mich aber in die Mechanismen des Bloggens eingearbeitet, war ich auch schon abhängig. Hatte ich mich früher mit Freunden zum gemeinsamen Anhören der neuesten Erwerbungen getroffen, postete ich jetzt auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes munter drauflos.Als DJ hatte ich mich oft über die Plattenwünsche des Publikums geärgert. Alle wollten immer nur hören, was sie sowieso schon kannten. Wo blieben da die Neugier und die Kreativität? Das Schöne am Bloggen ist, dass man auch vorgeblich schlechte Platten vorstellen kann. Den so genannten guten Geschmack braucht sowieso kein Mensch. Ohne den Fehler, das Schräge und Falsche gibt es keine Kunst.
Gleich mein erstes Posting im November 2007 war eine Privatpressung zweier Kreuzberger Rock-Bands, »Schlaflose Nächte« und »5 Aus 36«, zugunsten inhaftierter Berliner Häuserkämpfer 1981. Kein Punk und auch kein Underground, sondern konventioneller Rock mit politischen Texten. Klecks Theater-Rock, nicht ganz ohne Grund unveröffentlicht seit fast 30 Jahren. So eine Platte hätte ich als DJ nicht aufgelegt, viel zu konventionell. Niemand hört im vollen Club auf die lustigen, zeittypischen Texte. Auf dem Blog vorgestellt, war die Botschaft aber gut verständlich, und weil ich auch den Comiczeichner Detlev Surrey, der das Cover gestaltet hat­te, kannte, konnte ich einen kleinen Artikel mit vielen Infos schreiben.

Das Suchen und Finden begann. Im Plattenladen gefragt, wonach ich suchte, antworte ich meist: nach Platten, die ich noch nie gesehen habe, von Künstlern, von denen ich noch nie gehört habe. Ich hasse alphabetisch sortierte Läden, weil ich nie nach etwas Bestimmtem suche. Auch wenn die Fachverkäufer dann meist ratlos sind, gibt es zum Glück in den meisten Plattenläden eine eigene Ramschabteilung. Platten, die die Händler stilistisch nicht einordnen können und für schwer verkäuflich halten, kommen in die 50-Cent-Kisten. Die steuere ich immer zuerst an. Die Vorstellung, dass die wirklich »gute« Musik von etablierten Künstlern gemacht wird, ist Unsinn. Professionelle Künstler müssen Schallplatte auf Schallplatte produzieren, bis jedes bisschen Inspiration aus ihnen herausgequetscht wurde. Die interessanteste Musik kommt daher oft von Amateuren, die ein paar Platten einspielen, um dann in ihrem Brotbe­ruf weiterzumachen wie bisher. Spuren dieser vergessenen Künstler finden sich auf privaten Pressungen, Indie- und Billig-Labels und auf Werbeplatten. Außerdem suche ich ausschließlich nach Singles. Für Pop-Musik ist sie das beste Format, das keine Langeweile aufkommen lässt.
Im Dezember kaufte ich für 50 Cent auf dem Flohmarkt in der Nachbarschaft eine russische Flexi-Disc der Moldawischen Beat-Band Noroc von 1969. Obwohl ich über die Gruppe nichts in Erfahrung bringen konnte, postete ich die Platte. Nach Monaten meldete sich ein russischer Leser und informierte mich über die Band. Der Sänger und Songschreiber Mihai Dolgan, ein moldawischer Frank Farian, war kurz zuvor gestorben.
Ebenfalls im Dezember postete ich den »Gummiknüppelsong« von Lerryn und Dadazuzu und »Schluss mit dem Stuss« von Rocky der Irokese. Der »Gummiknüppelsong« ist ein Stück gegen Polizeigewalt im Frankfurter Häuserkampf 1971, veröffentlicht auf dem Dortmunder Pläne Label. Lerryn war ein politischer Liedermacher, auf dieser Single wird er von einer Rock-Band begleitet. Obwohl gut gemeint, ist dies der sexistischste Polit-Song, den ich kenne, und höchstwahrscheinlich wurde er deshalb bis heute nicht wieder veröffentlicht. Eigentlich wird in dem Stück ein Polizist namens Arich Penitz angepöbelt, aber das Wortspiel mit dem Penitz-Knüppel kommt eher unangenehm rüber.
Rocky der Irokese war ein Hamburger Rocker, dessen Gesicht komplett tätowiert war. 1980 nahm er die Single »Schluss mit dem Stuss« auf, ein überraschend nettes Lied über Toleranz.
Im Februar hatten meine Freundin und ich Besuch aus Warschau, und ich nahm das zum Anlass, einige polnische Beat-Platten der sechziger Jahre zu posten, deren Cover eine polnische Cartoonistin, Anna Goslawska, kurz Ha-Ga, gezeichnet hatte. Diese veröffentlichte ich zusammen mit mehreren ihrer Cartoons, den wenigen Informationen, die ich in meiner eigenen Sammlung finden konnte, und den wenigen Informationen, die das Internet hergab. Zwei Monate später meldete sich mit einem Kommentar bei mir auf dem Blog eine Zuzanna Lipinska, die Tochter von Ha-Ga. Auf der Suche nach Spuren ihrer Mutter im Internet war sie auf meine Seite gestoßen. Sie klärte einige Fehler und Missverständnisse und gab mir weitere Informationen. Sie selbst hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter auch Schallplattencover gezeichnet hatte. Ihre Mutter war bereits 1975 gestorben, und jetzt arbeitete Zuzanna an einer ersten retrospektiven Ha-Ga Ausstellung im Warschauer Karikaturen-Museum. Wir schrieben uns eine Weile, und später lud Zuzanna mich und meine Freundin zur Vernissage nach Warschau ein. Im Mai verbrachten wir dann tatsächlich ein wunderschönes Wochenende in Warschau.

Das Bloggen hat also auch zu ein paar ganz realen Begegnungen geführt, auch wenn die Mehrzahl der Kontakte sich im virtuellen Raum abspielt, was aber ebenfalls okay ist. Schließlich lade ich monatlich 9 000 Leute in mein Wohnzimmer zum Plattenhören ein. Und die kriegt man selbst in einem Kreuzberger Altbau nicht unter.

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