Auf dem Küchentisch
»Nennt mir eine Klinik, aber schnell. Meine kleine Schwester ist schwanger. Hier ist meine E-Mail-Adresse.« »Mein Freund will nicht zahlen, aber ich will nicht, dass es weiter wächst. Ich bin in der sechsten Woche, also beeilt euch.« Die verzweifelten Äußerungen der Frauen, unter ihnen auch »hoffnungslose Mütter von Töchtern aus der Hauptstadt«, sind Reaktionen auf einen Artikel, der in der chilenischen Tageszeitung El Ciudadano erschien und in dem eine junge Frau mit dem Decknamen Julia ausführlich von ihrem illegalen Schwangerschaftsabbruch in einer Privatklinik berichtet. Obwohl das Interview bereits Ende 2006 veröffentlicht wurde, kommen noch immer fast täglich Kommentare im Netz hinzu.
Jenseits der anonymisierten Kommunikation im Internet herrscht gesetzlich verordnetes Schweigen. Denn Chile ist neben El Salvador und Nicaragua eines der wenigen Länder Lateinamerikas und weltweit, in denen Schwangerschaftsabbrüche selbst in Ausnahmefällen untersagt sind. Seit 1931 gab es zwar die Möglichkeit einer legalen Abtreibung aus »therapeutischen Gründen«, also wenn das Leben der Frau durch die Schwangerschaft in Gefahr war, aber 1989, gegen Ende der Diktatur Augusto Pinochets, wurde dieses Gesetz geändert. Seitdem darf »keine Handlung durchgeführt werden, die ein mögliches Ende der Schwangerschaft zur Folge haben könnte«. Seit dem Ende der Diktatur wird das Land zwar von einer Mitte-Links-Koalition regiert, doch hat keine der gewählten Regierungen die Revision dieser Gesetzesänderung in Betracht gezogen. Auch die derzeitige sozialdemokratische Präsidentin Michelle Bachelet ist eine entschiedene Gegnerin von Abtreibungen – unter allen Umständen.
Die Folgen sind fatal. Denn obwohl »therapeutische Abtreibungen« in der Vergangenheit sehr selten waren, verschlechtert das uneingeschränkte Verbot die Lage aller Chileninnen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. »Frauen aus der Ober- und Mittelschicht zahlen etwa 1 500 Dollar, um in einer privaten Klinik oder im Ausland abtreiben zu lassen. Genaue Zahlen darüber gibt es nicht, und juristisch belangt werden sie auch nicht«, sagt Rosa Yañez von der chilenischen Frauen- und Gesundheitsorganisation Foro de Salud. »Ganz anders sieht es bei den armen Chileninnen aus. Sie treiben ab mit der Hilfe von unqualifizierten Personen, ohne hygienische Voraussetzungen, und laufen Gefahr, sich zu infizieren oder sogar an den Folgen der Abtreibung zu sterben.«
Man geht davon aus, dass jährlich 120 000 Chileninnen auf dem Küchentisch oder im Bett, mit einer Sonde oder diversen Mitteln, die Blutungen einleiten, dafür sorgen, dass ungewollte Schwangerschaften ein Ende haben. Frauen, die nach einem missglückten Abtreibungsversuch ins Krankenhaus müssen, werden dort schlecht behandelt und in der Regel von den Ärzten angezeigt. »Denn sollte diese Frau im Krankenhaus nach der Abtreibung sterben, die die Ärzte nun vornehmen müssen, haben sie ein Problem. Außerdem sind die meisten Ärzte so eingestellt, dass sie nicht einfach ›Frühgeburt‹ in die Akte schreiben wollen«, sagt Yañez. Ein illegaler Schwangerschaftsabbruch kann mit fünf Jahren Haft bestraft werden, über die Zahl der wegen einer Abtreibung inhaftierten Frauen gibt es keine gesicherten Daten.
Auch die Sexualerziehung in Chile ist rückständig, der Zugang zu Verhütungsmitteln wird eingeschränkt. »Die katholische Kirche, die weiterhin großen Einfluss auf die Politik hat, verbietet den Frauen zu verhüten. Die kostenlose Ausgabe der ›Pille danach‹ in Krankenhäusern wurde im April vergangenen Jahres vom Obersten Gerichtshof untersagt, und aufgeklärt werden die Kinder im Internet oder indem sie ihr Halbwissen untereinander austauschen«, erklärt Yañez. Die politischen Forderungen der Frauenbewegung gleichen angesichts dieser katastrophalen Lage und der konservativen Hegemonie einer Schadensbegrenzung. Man hofft auf Parlamentarier, die die staatliche Sexualerziehung verbessern wollen, und organisiert vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Dezember dieses Jahres eine Lobby für die Wiedereinführung der Möglichkeit einer »therapeutischen Abtreibung«. Außerdem läuft derzeit vor dem UN-Menschenrechtstribunal eine Anhörung, die das Verbot der »Pille danach« als Menschenrechtsverletzung deklarieren und wieder rückgängig machen soll.
Wenig besser sieht die Situation für die Frauen im Nachbarland Argentinien aus. Auch hier entscheidet der Geldbeutel, wie sicher und hygienisch eine Frau abtreiben kann, auch hier kursieren erschreckende Zahlen, denen zufolge eine Frau pro Tag an den Folgen einer illegalen Abtreibung stirbt. Anders als in Chile sind in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche in Ausnahmefällen straffrei, »wenn die Abtreibung mit dem Ziel durchgeführt wurde, ein Risiko für das Leben und die Gesundheit der Frau zu vermeiden und dies nicht durch andere Verfahren und Mittel möglich ist« (therapeutische Abtreibung), und »wenn die Schwangerschaft aus dem unzüchtigen Angriff auf eine geistig behinderte oder geistig verwirrte Frau oder der Vergewaltigung einer solchen hervorgegangen ist«.
Doch bis eine Frau vor Gericht nachgewiesen hat, dass sie eine dieser Bedingungen erfüllt, ist es meist zu spät, denn die Justiz arbeitet langsam. Häufig ist ein Nachweis überhaupt nicht möglich, etwa weil der Vergewaltiger unbekannt ist und der Fall nicht abgeschlossen werden kann. »Die Frauenbewegung setzt deshalb im Moment darauf, dass die straffreien Fälle von Abtreibung nicht mehr vor Gericht nachgewiesen werden müssen, auch wenn das natürlich nur ein kleiner Schritt in Richtung einer vollständigen Legalisierung ist, die wir eigentlich fordern«, sagt die argentinische Soziologin und Geschlechterwissenschaftlerin Alejandra Oberti.
Die Chancen auf Erfolg stehen nicht schlecht, denn das Land hat ein relativ progressives Gesundheitsministerium und eine engagierte Öffentlichkeit, die Fälle wie den der krebskranken Ana María Acevedo vor knapp zwei Jahren immer wieder heftig kritisiert. Die junge Frau musste wegen der Schwangerschaft ihre Medikamente absetzen und starb. Die »therapeutische Abtreibung« hatten ihr mehrere Ärzte des öffentlichen Krankenhauses aus »Gewissensgründen« verweigert. Nun müssen sich die Mediziner zumindest wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten.