Über den Film »Stellet Licht«

Ein stilles Gebet

Carlos Reygadas zeigt eine Dreiecksbeziehung unter Mennoniten und die beeindruckende Landschaft Nordmexikos, vergibt die Hauptrolle in seinem neuen Film »Stellet Licht« aber vor allem an die Kunst.

Stellet Licht« hat einen buchstäblichen Anfang und ein ebenso buchstäbliches Ende. Der Film schließt mit einem Sonnenuntergang und be­­ginnt mit einem langen, sehr langen Sonnenaufgang. Noch ist es stock­dunkel, nur ein paar kleine Lichter funkeln am Himmel. Doch allmählich kommen sche­men­haft gewaltige Baumkronen in einer weiten, menschenleeren Landschaft zum Vorschein, Gril­len zirpen. Das Licht breitet sich immer wei­ter aus, die Tiere wachen auf und machen sich bemerkbar, man hört Gezwitscher und Gemuhe. Als der Tag endlich angebrochen ist und im Son­nenlicht erstrahlt, rücken schließlich die Menschen in den Vordergrund. Sie werden schwei­­gend eingeführt, beim stillen Ge­bet.
Der Plot von Carlos Reygadas’ neuem Film ist einfach und schnell erzählt. Der mit Esther (Miriam Toews) verheiratete Johan (Cornelio Wall Fehr), Bauer und Vater von sechs Kindern, hat sich in eine andere Frau verliebt, Marianne (Maria Pankratz), und gerät deshalb in eine exis­tenzielle Krise. Er leidet, und auch die beiden Frauen leiden. Faszinierend ist diese Geschichte nicht, weil sie besonders interessant erzählt wäre, sondern weil sie in einer Mennonitengemeinde spielt und in dieser fremdartigen Umgebung das universelle Drama plötzlich anders aussieht, so als hätte man es zuvor noch nie auf einer Leinwand gesehen. Die Mennoniten gehören einer reformierten Glau­bens­gemeinschaft an, die sich im 16. Jahrhundert in Süddeutschland und der Schweiz formiert und dann bis nach Holland ausgebreitet hat. Bald wurde die Bewegung wegen ihres strengen Pazifismus verfolgt, es gab Auswanderungen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich nach Kanada und in die Vereinigten Staaten. Ab 1922 siedelten viele Mennoniten nach Mexiko über und ließen sich vor allem in der Provinz Chihuahua nieder. Zurzeit leben in Mexiko über 100 000 Mennoniten; ihre Sprache ist Plautdietsch, ein deutscher Dialekt, der mit dem Flämischen und dem mittelalterlichen Holländisch verwandt ist. Sie leben in einer Gemeinschaft mit eigenem Bildungs- und Rechtssystem, überwiegend wird auf moderne Errungenschaften verzichtet. Sie fahren Auto, verzichten aber auf moderne Kommunikations­mittel wie das Internet und das Telefon und tragen altertümliche Kleidung. Ihre Gesichter haben etwas Schroffes und scheinen auf den ersten Blick nicht in die Umgebung zu passen. Alle Rollen werden ausnahmslos von mennonitischen Laiendarstellern gespielt oder besser gesagt: verkörpert. Sie agieren steif, geradezu statisch, als kämen sie direkt aus Gemälden hol­ländischer Meister. Und sie sprechen, was jedoch eher selten vorkommt, in äußerst knappen Sätzen. Der Schmerz wird still ertragen, »arme Esther« oder »arme Marianne«, das muss ausreichen, um die emotionalen Konflikte zu beschreiben. Als Zuschauer betrachtet man die Figuren ein bisschen wie fremdartige Tiere, man bleibt bis zuletzt auf Distanz zu diesem ge­dämpften, fast hypnotischen Dreiecksbeziehungsdrama.
Natürlich muss man sich fragen, was Reygadas an den Mennoniten interessiert. Offensichtlich hat er keine wie auch immer geartete ethnographische Perspektive. Einen Einblick in die Lebensgewohnheiten dieser religiösen Min­derheit erhält man jedenfalls nicht – der dargestellte Alltag aus Mittagspause im frisch gemähten Feld oder Familienbad im See wirkt idyllisch, verklärt und nicht ganz frei von Exotismus. Und wenn einmal die moderne Welt in Form eines Fernsehgerätes in diese Parallel­welt hereinbricht, flimmert nicht etwa ein Footballspiel oder Britney Spears über den Bildschirm, sondern ausgerechnet der Chansonsänger Jacques Brel, der gerade das Lied »Les Bon­bons« trällert.
Für Reygadas’ scheint also vor allem der »spirituelle Mehrwert« ein großes Versprechen zu sein. Denn der Film »Stellet Licht«, der auf dem Festival in Cannes den Großen Preis der Jury gewann, ist weniger ein Liebesdrama oder ein Drama über einen Glaubenskonflikt als vielmehr eine Feier der Spiritualität und Transzendenz. Dabei ist der mexikanische Regisseur mit seinen beiden vorherigen Filmen, »Japón« (2002) und dem wuchtigen »Battle in Heaven« (2005), hauptsächlich durch die aufdringliche Inszenierung des Körpers aufgefallen – vor allem des entblößten, dabei aber merkwürdig aus­druckslosen Körpers beim Sex. »Battle in Heaven« irritierte etwa durch explizite Sexszenen, in denen sehr wohlbeleibte Menschen zu sehen waren, und ein ausgedehntes, religiös-ekstatisches Finale.
In Reygadas’ neuem Film rückt nun die Natur an die Stelle der Körper. Die Positionen sind zunächst vertauscht: Die Natur ist die Hauptfigur, sie ist beeindruckend gewaltig, immer in Bewegung und mit Bedeutung aufgeladen; die Menschen dagegen verharren, und ihre undurch­dringlichen Gesichter verraten wenig über sie. Erst langsam gewinnen sie an Kontur und schie­ben sich in den Vordergrund, während die Natur zunehmend als Ausdrucksmedium für das spirituelle Innenleben der Figuren fungiert. Reygadas’ metaphorischer Einsatz von Landschaft, von Wiesen, Feldern und Licht erinnert immer wieder an die Filme von Terrence Ma­lick, wobei dessen metaphysische Naturbilder autonomer, freier und so doch weitaus magischer anmuten. Die Natur in »Stellet Licht« wirkt dagegen choreographiert, irgendwie »gemacht« und bekommt dadurch etwas Instrumentelles, denn nicht zuletzt wird sie strategisch eingesetzt.
In einer stürmischen, extrem durchkomponierten Szene mischen sich die gewaltige Natur und der Lärm der Zivilisation mit einem emo­tio­nalen Zusammenbruch. In strömendem Regen fahren Johan und Esther mit dem Auto auf einer Schnellstraße entlang, als die Frau plötzlich starke Schmerzen bekommt vom ­Unglücklichsein. Das Auto hält am Straßenrand, Esther läuft über den Grünstreifen in ­einen angrenzenden Wald hinein und erleidet dort einen Zusammenbruch, während sich die Klänge des niederprasselnden Regengusses und der Lärm vorbeidonnernder Lastwagen über ihr ver­zweifeltes Schluchzen legen. Es ist die erschütterndste Szene des Films, doch spätestens hier wird auch klar, dass Reygadas mehr noch als an den Figuren, der Natur und ­ihrer Spiritualität an den vielfältigen Mitteln des Kinos interessiert ist. Er macht dem Zuschauer in jedem Moment bewusst, dass ein Film aus Bildern zusammengesetzt ist, aus Licht und Farbe, Montage und Sound. Und er genießt die Freiheit, einen scheinbar unausweichlichen Handlungsverlauf durch eine Wendung zum Phantas­tischen zu durchbrechen, indem er den Film mit einer Wiederauferstehung enden lässt – ein Zitat aus Carl Theodor Dreyers »Ordet« (1955).
»Stellet Licht« ist langsames und kontemplatives Kino, dabei aber nicht weniger gewaltig als die beiden vorherigen Werke des Regisseurs. Es ist zweifellos ein ungewöhnlich schöner Film. Die weite Landschaft, die in eindrucksvollen Cinemascope-Bildern eingefangen wird, sieht großartig aus, karg, aber trotzdem irgend­wie satt, und die verschiedenen Schattierungen des Lichts sind berauschend. Trotzdem, der Wunsch, ein verführerisches Kunstwerk zu erschaffen, ist nicht zu übersehen. Weder die nordmexikanische Provinz noch die mennonitische Gemeinde hat in diesem Film die Hauptrolle, diese hat allein die Kunst.

»Stellet Licht«. Mexiko/Frankreich/Niederlande 2007. Regie: Carlos Reygadas Im Kino ab 2. April