Wie die russische Regierung mit »Extremisten« umgeht

Schlimmer als der Jihad

Terroristen gibt es nach Ansicht der russischen Regierung kaum noch, doch wachse der »Extremismus«. Eine weit gefasste Definition erlaubt es, fast alle Dissidenten als Extremisten einzustufen.

Tschetschenische Separatisten haben als Feindbild in Russland womöglich bald ganz ausgedient. Die lange Jahre andauernde antiterroristische Ope­ration solle eingestellt werden, kündigte Ramzan Kadyrow, der Präsident der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien, Ende März an. Er prophezeit, dass die 70 in den Bergen verbliebenen Kämpfer in einem Monat erledigt sein werden.
Nach Angaben der Sicherheitsdienste handelt es sich allerdings um knapp 500 Guerilleros, zumal es nach wie vor junge Menschen aus Protest gegen Kadyrows Regime in die Berge zieht. Als Vergeltung lässt der Präsident Häuser von Ver­wand­ten der Kämpfer anzünden. Seit dem vorigen Sommer hat die Menschenrechtsorganisation Memorial 26 solcher Fälle registriert.
Auch im Kreml teilt man den Optimismus des tschetschenischen Präsidenten wohl nicht gänzlich, doch offene Kritik gibt es nicht. Denn die der­zeitige Wirtschaftskrise fordert ihren Preis. Die dauerhafte Stationierung ständig einsatzbereiter Truppen in Tschetschenien lässt sich nicht mehr finanzieren, daher ist es naheliegend, die Operation zumindest offiziell als siegreich beendet zu betrachten. Selbstsicher preist Kadyrow seine Erfolge im Antiterrorkampf und bietet an, seinen reichen Erfahrungsschatz mit anderen Regionen zu teilen. Man kann nur hoffen, dass es so weit nicht kommen wird.

Die Regierung hat bereits neue Sorgen. »Extremis­mus wird eine immer ernstzunehmendere soziale Erscheinung«, sagte der russische Präsident Dmitrij Medwedjew Anfang Februar bei einem Treffen im russischen Innenministerium. »Von seinem Zerstörungspotenzial her kommt er der terroristischen Bedrohung gleich, unter bestimm­ten Umständen übersteigt er sie sogar.«
Den Präsidenten beunruhigt neben der Radikalisierung Jugendlicher und den Aktivitäten faschistischer Gruppierungen insbesondere die wachsende Kriminalität unter Migranten, die infolge der Krise ihre Arbeit verloren. Zwar eignen sich erwiesenermaßen auch russische Staatsbürger immer häufiger Waren ohne Bezahlung an, aber dafür bringt man in Russland eher Verständnis auf. Das Justizministerium plant bereits, den Wert gestohlener Waren heraufzusetzen, der überschritten werden muss, damit Diebstahl mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Schließ­lich sind die Gefängnisse bereits überfüllt.
Für die Extremismusbekämpfung wurde bereits unter Medwedjews Vorgänger Wladimir Putin eine rechtliche Grundlage geschaffen. Die erste Fassung des Antiextremismusgesetzes stammt aus dem Jahr 2002. Beabsichtigt war vor allem die Bekämpfung sich verstärkender islamistischer Aktivitäten im Nordkaukasus. Das Gesetz wurde in den folgenden Jahren vor allem gegen islamistische Gruppierungen angewendet, auch gegen die in Deutschland verbotene Hizb al-Tahrir. In den Jahren 2006 und 2007 verabschiedete die Duma eine zweite und dritte Fassung, in der die Extremismusdefinition um etliche Nuancen erweitert wurde. Weitere Modifizierungen sollen folgen.
Das Gesetz ist nicht als Ergänzung zum russischen Strafgesetzbuch angelegt, sondern funktioniert nur in Kombination mit ihm und dem sogenannten Kodex für administrative Gesetzesverstöße, nach dem in Russland Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. Liegt beispielsweise der Straftatbestand Verleumdung vor, kann ein Extremismusvorwurf erschwerend hinzukommen. Von einer klaren juristischen Definition kann indes keine Rede sein. »Wegen der schwammigen Formulierungen im Gesetzestext stöhnen selbst die mit Ermittlungen wegen Ex­tre­mis­mus­vor­wür­fen beauftragten Beamten«, sagte Alexander Werchowskij, der Direktor des Moskauer Informations- und Analysezentrum Sova, der Jungle World.

Es existiert nicht einmal eine klare Trennung zwi­schen Extremismus und Terrorismus. Doch dieser Mangel an Genauigkeit dürfte beabsichtigt gewesen sein. Extremismus ist ein politischer Kampfbegriff, der gegen fast jede beliebige Gruppe eingesetzt werden kann.
Ende März präsentierte das Zentrum Sova seinen Jahresbericht für 2008 über die unrechtmäßige Anwendung der Antiextremismusgesetz­gebung. Darin werden mehrere auffällige Tendenzen aufgezeigt. Seit dem vergangenen Jahr wird Extremismus weniger häufig Islamisten, dafür jedoch verstärkt gemäßigten Muslimen und ortho­doxen Gruppen vorgeworfen.
Den Autoren zufolge wird das Gesetz immer häufiger als Instrument beim Kampf um die religiöse und säkulare Vormacht auf lokaler Ebene genutzt. So bekämpft auch die russisch-orthodoxe Kirche mit Hilfe des Extremismusvorwurfs abtrünnige Sekten. Als extremismusverdächtig gilt allein schon der Anspruch auf Überlegenheit gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften. Da die Vorstellung, der eigene Glaube sei anderen Konfessionen überlegen, bei den meisten religiösen Gruppen verbreitet ist, können fast alle Konkurrenten der russisch-orthodoxen Kirche als extremistisch eingestuft werden.

Auch wer die russischen Behörden kritisiert, insbesondere Armee und Polizei, geht das Risiko ein, als Extremist abgestempelt zu werden. Immer häufiger kommt es zur Konfiszierung von Flugblättern, Büchern und im Selbstverlag herausgegebener Zeitschriften, die nach Vorlage eines entsprechenden Gerichtsentscheids vom Justizministerium in ein Zentralregister extremistischer Literatur eingetragen werden. Derzeit sind dort 349 Titel erfasst sind, der letzte Neuzugang im März 2009 war eine mehrere Jahre alte Ausgabe der mittlerweile nicht mehr erscheinenden Zeitschrift Proletarische Revolution.
Der Sova-Bericht präsentiert Beispiele für die zu­weilen bizarre Anwendung der Extremismusgesetzgebung. Ein Kapitel ist absurden Fällen wie diesem gewidmet: Im August 2008 ließ ein Gericht im Swerdlowsker Gebiet einen Wahlkampfclip wegen Extremismus verbieten. Darin wurde für einen Kandidaten geworben, der bei den Regionalwahlen gegen die regimetreue Partei Einiges Russland angetreten war. Als Anlass für das Verbot diente der Satz: »Der Satte versteht den Hungrigen nicht.« Das Gericht war der Ansicht, dass mit dieser Aussage soziale Konflikte zwischen Armen und Reichen geschürt werden könnten.
Das Gesetz wird verstärkt angewendet, doch gibt es Sova zufolge weder eine Systematik noch eine klare politische Zielrichtung. »Das Gesetz funk­tioniert längst nicht in vollem Umfang«, sagte die stellvertretende Direktorin Galina Kozhewnikowa der Jungle World. »Das wäre anders, wenn die Behörden wüssten, wie sie das Gesetz im Einzelnen handhaben können.« Oft sei es zudem einfacher, als Extremisten eingestufte Personen zu verurteilen, ohne das entsprechende Gesetz ins Spiel zu bringen. »Die Rhetorik bleibt trotzdem dieselbe.«