Das Boxbuch »Die artige Kunst«

Vierhundert Runden Schuhputz

Der kleine Berliner Berenberg-Verlag hat nach über 50 Jahren das brillante Boxbuch »Die artige Kunst« von A.J. Liebling wieder veröffentlicht.
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Gleich nach dem Gong zum Vorwort von »Die artige Kunst – Joe Louis, Rocky Marciano und die klassische Ära des amerikanischen Boxkampfs« macht A. J. Liebling seinen Lesern mit einer blitzschnell geschlagenen Kombination klar, dass sie mit einem Meister des Essays über die nächsten 168 Seiten gehen werden – kenntnisreich in der Sache, selbstironisch und stilistisch versiert: »Ich boxte immer zum Vergnügen, wenn es sich nur machen ließ, bis ich sechsundzwanzig war und dreiundsechzig Dollar die Woche als Reporter des Journal and Evening Bulletin in Providence verdiente. Noch viele Jahre boxte ich gelegentlich. Ich kannte mich aus drinnen, wie die Jungs sagen. Jedes Mal ließ ich die Runden kürzer werden. Das letzte Mal war etwa 1946, und der Junge, mit dem ich anfing, sagte schließlich, er könne mich nicht k.o. schlagen, wenn ich nicht Runden zuließ, die länger waren als neun Sekunden.«
A. J. Liebling (1904–1963) gilt als einer der großen US-amerikanischen Journalisten des 20. Jahrhunderts. Als Sohn eines in die Staaten ausgewanderten österreichischen Kürschners studierte er Mitte der Zwanziger ein Jahr lang an der Sorbonne, um danach bei verschiedenen Tageszeitungen über »Low-Life«-Themen zu arbeiten, wie einer seiner Verleger es nannte, also »über die Gosse und so«, wie Liebling selbst es bezeichnete.
1935 begann Liebling, für den New Yorker zu schreiben, das Blatt, dem er bis zu seinem Tod verbunden bleiben sollte. Nach einigen Jahren als Kriegskorrespondent (u.a. nahm er an der Landung in der Normandie teil) kam er in die USA zurück und wandte sich mehr und mehr drei Themenbereichen zu, die zu seinem Markenzeichen werden sollten: der Stadt New York, der Restaurantkritik und dem Profiboxen.
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre entstand so für den New Yorker eine Reihe von Essays zum Profiboxen, die erstmals 1956 unter dem Titel »The sweet science« bei Viking Press erschien. Seit wenigen Jahren bemüht sich nun der kleine Berliner Berenberg-Verlag darum, Lieblings Werke dem deutschsprachigen ­Leser zugänglich zu machen. 2007 brachte man Lieblings nostalgische Essays über seine Zeit in Paris und seine dort erwachte Leidenschaft fürs Schreiben über Essen und Trinken heraus (»Zwischen den Gängen«, im englischen Original »Between Meals«).
Nun folgen die Boxessays. Unter einem reichlich ungeschickten Titel. Gleich in den Vorbemerkungen entschuldigt sich Übersetzer Joachim Kalka dafür, dass ihm für den Originaltitel keine bessere Übertragung als »Die artige Kunst« eingefallen ist. Dem Verkauf des Buches wird das nicht helfen. Was schade ist. Sports Illustrated nannte »The sweet science« »das beste Sportbuch aller Zeiten«. Nicht ganz uneigennützig, weil Liebling zuweilen auch für dieses Blatt schrieb. Doch je länger man liest, desto weniger Gegenargumente fallen einem zu diesem Urteil ein.
Die neun Essays entstanden alle zwischen 1951 und 1956. Liebling hatte schon vor dem Krieg zuweilen über Boxen geschrieben, es dann aber gelassen. »Es gab keinen besonderen Grund, dass ich mich wieder dem Boxen zuwandte. Es war so, wie einem einfällt, dass man eine alte Flamme gern wieder besuchen würde – nicht un­bedingt die Art Einfall, der man immer folgen sollte.«
Für das Auftauchen eines brillanten Boxanalytikers konnte es allerdings kaum einen besseren Zeitpunkt geben. 1951 befand sich das US-amerikanische Schwergewichtsboxen, das damals gleichzeitig den Gipfel des Weltboxens bildete, in einer seltsamen Erstarrung. Im Jahr zuvor hatte Joe Louis nach 16 Jahren seinen Titel verloren, an Ezzard Charles, der ihn wenige Monate später an Jersey Joe Walcott abgeben musste. Zwei ziemlich schwache, ziemlich alte Champions, die das Boxen vor dem Krieg gelernt hatten. Neue Talente waren kaum auszumachen. Liebling gibt daran dem Fernsehen die Schuld, das nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Siegeszug begann. »Einen Boxkampf im Fernsehen anzuschauen, das ist mir immer als armseliger Ersatz für das Zuschauen am Ort erschienen.« Außerdem, so Liebling, würde es die kleinen Boxclubs ruinieren, wenn die Leute Kämpfe kostenlos in die Wohnstube geliefert bekämen. Eine der wenigen Fehleinschätzungen des Autors, die damals aber von vielen geteilt wurde. Erst wenige Jahre später war nicht mehr zu übersehen, dass TV-Übertragungen nicht nur für besetzte Fernsehsessel, sondern gleichzeitig auch für volle Hallen sorgen.
Die Boxwelt wartete auf eine neue Kraft. Sie kam 1950 aus Brockton, Massachussetts und hieß Rocky Marciano. Jung, ziemlich klein, technisch ziemlich limitiert, aber mit einem unbändigen Siegeswillen ausgestattet, schaffte er es bis 1955, alle drei Vorgänger k.o. zu schlagen und mit Archie Moore den ernsthaftesten Konkurrenten seiner Generation zu besiegen. Als er danach als erster Schwergewichtsweltmeister ungeschlagen abtrat, war das Boxen in der Nachkriegsära angekommen. Folgerichtig lässt der Autor sein Buch mit dem Kampf Marciano gegen Moore enden.
Wenn man die Texte von Liebling liest, stellt man nach wenigen Seiten fest, dass die eigentlichen Kampfbeschreibungen erstaunlich kurz sind – zusammengenommen machen sie kaum mehr als ein Zehntel des Buches aus, und nicht selten finden sich Formulierungen wie »über den Ausgang des Kampfes haben Sie vielleicht schon in der Tagespresse gelesen«. Liebling interessiert sich für andere Dinge. Die Taxifahrten durch die Mengen, die sich zum Madison Square Garden oder zum Yankee Sta­dium drängen. Das Gewisper der Fans in den Kneipen. Er berichtet darüber, wie die Champions im Trainingslager durch endlose Kartenspiele oder gar das Tragen dämlicher Kopfbedeckungen von übermäßiger Konzentration auf den Kampf abgehalten werden. Und er leidet mit einem Schuhputzer, der pro Paar 25 Cent bekommt und der 100 Dollar auf Jersey Joe Walcott bei dessen Titelfight gegen Rocky Marciano gesetzt hat. »Wenn der Gong am Ende der zwölften Runde kommt, kassier ich«, hatte der Mann gesagt. »Mir schien es, als würde er eher vierhundert Runden Schuhputz verlieren.«
Wie jeder wirklich große Champion weiß auch A. J. Liebling, in welcher Tradition er steht. Immer wieder beruft er sich auf die Methoden und Arbeiten des frühen britischen Boxhistorikers Pierce Egan (ca. 1772–1849), eines Mannes, der ebenso mit London verwachsen war wie Liebling mit New York. Von 1812 bis 1831 berichtete Egan in einer Sammlung von letztlich fünf Bänden unter dem Titel »Boxania« nicht nur über die großen Kämpfe seiner Zeit, sondern auch über das Publikum, das zum Teil tagelang zu Fuß zu den oft verbotenen Kämpfen anmarschierte, über die Auseinandersetzung und Sauf­ereien und die manchmal stundenlangen Schlag­wechsel im Ring.
Bei der Lektüre von »Die artige Kunst« bekommt man also nicht nur einen Blick auf die Kämpfe der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern retro­spektiv einen ebensolchen auf den Pugilismus des frühen 19. Jahrhunderts.
Wenn man das Buch zuschlägt, stellt sich noch einmal die Frage, ob man nicht vielleicht wirklich das beste Sportbuch aller Zeiten gelesen hat. Oder zumindest das beste Boxbuch aller Zeiten? Im Vergleich mit anderen berühmten Kollegen schreibt Liebling jedenfalls genauso kenntnisreich wie sein heutiger Kollege Thomas Hauser, beispielsweise in dessen Buch »The Black Lights«. Und, wie wir nach der Lektüre wissen, genauso blumig wie sein britischer Vorgänger Pierce Egan. Er hat die stilistischen Fähigkeiten einer Djuna Barnes in »­Meine Schwester und ich bei einem Preisboxkampf«, und er gibt sich nicht den Klischees hin, denen Joyce Carol Oates in »On Boxing« des Öfteren aufsitzt. Es kann also sein, dass die Sports Illustrated mit ihrer Einschätzung nicht übertrieben hat.

A.J. Liebling: Die artige Kunst. Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka. Berenberg, Berlin 2009. 168 Seiten, 19 Euro