Das Buch »Underground Economy« von Sudhir Venkatesh

Wie es sich anfühlt, arm und schwarz zu sein

Sudhir Venkatesh betrat das urbane Ghetto von Chicago als Ethnograph und verließ es als hustler. Mittlerweile ist er Professor für Soziologie an der Columbia University in New York.

Wer wirklich etwas über das Leben im Ghetto herausfinden wolle, müsse mit den Bewohnern »abhängen«, statt ihnen dämliche Fragen zu stellen. Diese Methodenlektion bekam der Soziologiestudent Sudhir Venkatesh erteilt, als er 1989 auf der Suche nach Gesprächspartnern das Ghetto von Chicago durchstreifte. Sein späterer Doktorvater William Julius Wilson, Doyen der städtischen Armutsforschung, hatte ihn mit einem standardisierten Fragebogen losgeschickt. Allen Ernstes sollte er zum Einstieg fragen, wie es sich anfühle, schwarz und arm zu sein – gemessen an einer fünfstufigen Skala zwischen »sehr gut« und »sehr schlecht«. Schon seinem ersten Informanten missfiel die Frage. Er sei kein »Schwarzer« und erst recht kein »Afroamerikaner«, sondern ein »Nigger« – ein feiner, aber entscheidender Unterschied, der das Klassengefälle unter Schwarzen markiert. Afroamerikaner wohnen in der Vorstadt, tragen eine Krawatte und haben einen Job. »Nigger« hingegen arbeiten zwar, das aber vor allem als hustler in der informellen, mitunter illegalen Ökonomie – ohne physische, materielle oder gar biographische Sicherheit.
Als Spontanmethodologe glänzte hier pikanterweise der Chef der lokalen »Black Kings«. Der Drogendealer J. T. und seine Gang hielten den Eindringling, der in ihr Territorium kam, prompt für eine Nacht gefangen. Aber Venkatesh kam unversehrt wieder frei – nur um nachmittags mit einem Sixpack Bier unterm Arm zurückzukehren. Von Neugier gepackt, hatte er beschlossen, J. T. beim Wort zu nehmen und mit ihm und seinen Jungs »abzuhängen«. Für die nächsten sieben Jahre sollte der 27jährige Drogenboss zum wichtigsten Menschen im Leben des Jungforschers werden. Was Venkatesh an der Seite von J. T. erlebte, schildert er in dem Buch »Underground Economy«, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt.
Schauplatz der Handlung waren die Robert Taylor Homes in der South Side von Chicago – einst der Welt größte Siedlung des sozialen Wohnungsbaus. Schon bald nach ihrer Fertigstellung im Jahre 1962 galten diese projects als Ort, an dem sich die städtische Armut von Chicago konzentrierte, verfestigte und reproduzierte. Gebaut auf den Ruinen der Baracken des »ersten Ghettos«, das der städtischen Kahlschlagpolitik zum Opfer gefallen war, wurden auch die Hochhäuser des »zweiten Ghettos« bis Anfang 2007 wieder abgerissen und durch ein Mittel- und Oberschichtsquartier ersetzt. Zwar lautet die aktuelle Maxime der offiziellen Politik, die Armen räumlich zu zerstreuen. Faktisch sorgen die gatekeepers des Immobilienmarkts aber für die Entstehung neuer Armutskonzen­trationen in Vierteln, deren Bausubstanz und Instandhaltung frappierend ans erste Ghetto erinnern.
J. T. hatte das College besucht und als Verkäufer im Zentrum von Chicago gearbeitet. Dort stieß er mit seinen Aufstiegshoffnungen an die »gläserne Decke«. Frustriert sattelte er auf eine Karriere im Drogengeschäft um. Dort könne man sich neben einem auskömmlichen Einkommen wenigstens die Anerkennung der Community verdienen, war sich J. T. sicher. Sein Kerngeschäft als Manager einer Gang gestaltete sich jedoch schwierig. Es bestand darin, 2 000 junge Männer dazu zu bewegen, auf der Straße Crack zu verkaufen, sich mit mageren Löhnen zu arrangieren und trotzdem ihr Leben zu riskieren. Venkatesh beobachtete, dass sich die Organisation der Gang stark der hierarchischen Struktur eines Unternehmens anschmiegte, einschließlich der austauschbaren Befehlsempfänger unter und des Board of Directors über J. T.
Jenseits des Drogengeschäfts bot die informelle Ghettoökonomie einen bunten Strauß von Tätigkeiten: Prostitution, Eheberatung, Kinderbetreuung, Steuerberatung, Partyservice, Schneiderarbeiten, Autoreparaturen, Taxiservice, Horoskope, Friseurdienste, Hehlerei. Oft wurden die Transaktionen in bargeldlosen Tauschringen organisiert. Wenn A Mittagessen für B kochte, hütete B die Kinder von A. Während C nach einem Job auch für D Ausschau hielt, suchte D nach einer Wohnung auch für C. Fürs Schmiergeld ans Wohnungsamt legten wiederum alle zusammen, damit bei A der Kühlschrank, bei B der Herd, bei C die Heizung und bei D die Dusche funktionierte. Gekühlt wurde dann bei A, gekocht bei B, sich aufgewärmt bei C und geduscht bei D. Dieses dicht geflochtene Netz informeller Tätigkeiten hielt die Community zusammen, die Gang regulierte es. Da die informelle Ökonomie weder Zivilrecht noch Gewerkschaften noch Verbraucherschutz kennt, gilt: »Jeder hustler muss jemanden haben, der ihm Schutz bietet.« Zentrales Konfliktregulativ war dabei die physische Gewalt durch die Gang.
Community und Gang entwickelten eine symbiotische Beziehung. Wie eine Familie schützte die Gang zwar vor der Unbill des Lebens, erwartete aber auch Gegenleistungen. Wo Schwarzgeld floss, erhob sie Steuern – 15 Prozent etwa für den informellen Automechaniker. Und wie eine Familie kann man sich die Gang im eigenen Viertel nicht aussuchen – auch nicht ihre Methoden. Wer Steuern hinterzog, kein Schutzgeld zahlte oder auch nur die Autorität von J. T. in Frage stellte, wurde verprügelt. »Ich musste tun, was ich tun musste«, lautete seine lapidare Rechtfertigung. Daraus sprach weniger sein Machismo oder seine Paranoia vor einem Putsch der Gang gegen ihn, sondern die Logik der underground economy. Rituell wiederholte Gewaltakte befestigten das Gewaltmonopol, das die Gang als ganze und J. T. als ihr Anführer für sich beanspruchten.
Diese Lektion lernte Venkatesh, als er für einen Tag Bandenchef wurde. Dazu kam es, nachdem er J. T. mit dem Vorwurf provoziert hatte, seine Arbeit sei leicht verdientes Geld. Der hauptamtliche Bandenchef ließ ihn selbst den Gegenbeweis antreten. Für Venkatesh war diese Aufgabe verlockend und beklemmend zugleich, würde sie ihm doch neue Einblicke verschaffen und ihn zugleich in moralische und forschungs­ethische Nöte bringen. Ohne Zögern willigte er ein, weil er, wie er im Rückblick selbstkritisch anmerkt, bereits selbst zum hust­ler geworden war, zum Gauner, der davon lebt, anderen Informationen abzujagen. Als Bandenchef musste er ständig Entscheidungen über den Einsatz von Gewalt treffen. Wie soll der Schutzgeldverweigerer zur Räson gebracht werden? Reicht eine Ohrfeige oder muss es ein Faustschlag sein, um den Streit innerhalb eines Verkaufsteams zu schlichten? Wie soll der Crackverkäufer, der die Ware gestreckt und den Extraprofit unterschlagen hat, bestraft werden? Muss sein Unternehmergeist nicht sogar gefördert werden?
Wenn sich rivalisierende Gangs ins Gehege kommen, wird Konfliktregulierung durch Gewalt dysfunktional. In Bandenkriegen sterben binnen kürzester Zeit unzählige Unbeteiligte und Gangmitglieder. Gleichzeitig stockt das Drogengeschäft, weil die Kunden davonlaufen und die Polizei verstärkt patrouilliert, ohne effektiv zu schlichten. Venkatesh schildert, wie sich in einer solchen Situation eine informelle Schiedskommission bildete, zusammengesetzt aus einer Mietervertreterin, einem Pfarrer, einem Polizisten und einem Jugendclubleiter. J. T. und der Chef der Rivalen akzeptierten schließlich deren Verdikt. Im Grunde waren auch sie, und nicht nur die Community, daran interessiert, ihren Geschäften ohne störende Schießereien nachzugehen.
Die Mieterbeirätin Ms. Bailey, neben J. T. die zweite Hauptfigur in Venkateshs Buch, repräsentiert die ambivalente Rolle der Community für die Bewohner. Als Schaltzentrale im Netz zwischen Mietern, Gang und Wohnungsamt verfügte sie über eine ungeheure Machtfülle. Fiel im Gebäude eine marode Wohnungstür aus den Angeln, gelang es ihr, eine neue zu organisieren. Dafür musste sie die Wohnungsbehörde bestechen und die Gang einstweilen als Wachschutz mobilisieren. Die Beziehungen, über die sie verfügte, ließ sie sich von den Mietern jedoch teuer vergüten, immer darauf bedacht, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Zugleich operierte sie als fürsorgliche, wenn auch paternalistische Wohltäterin. Vor Weihnachten etwa gelangte sie durch eine Mischung von Spendenakquise und Ringtausch an ein paar Kindermöbel, Jacken, Decken und Heizlüfter. Wer davon etwas bekam, entschied sie selbst – in Abhängigkeit vom Lebenswandel ihrer Günstlinge. Die Kinder von Clarisse etwa fütterte sie durch. »In meinem Gebäude muss kein Kind Hunger leiden. Keines!« Clarisse selbst nahm jedoch Drogen und ging daher leer aus.
Ms. Bailey war eine mindestens ebenso findige Methodologin wie J. T. Der Ethnograph müsse auch die Weißen samt ihrer Institutionen beforschen, weil sie die Lebensbedingungen im Ghetto strukturieren, sagte sie. Problematisch war zunächst die Abwesenheit formeller Institutionen. Weder Polizei noch Krankenwagen kamen mit Gewissheit, wenn sie gerufen wurden. Noch problematischer war dann aber ihre Anwesenheit, denn im Ghetto funktionierten die Mainstream-Institutionen anders als anderswo. Da überfiel die ungerufene Polizei schon einmal eine Party von Drogendealern, beschlagnahmte ihre Autos oder erpresste von ihnen Schutzgelder. Ihre institutionelle Devianz ging so weit, dass ein Sozialarbeiter von der zweiten, noch mächtigeren Ghetto-Gang sprach. Venkatesh erlebte die unkonventionellen Polizeimethoden selbst, als Polizisten ihm offen drohten, er solle nicht zu viel über sie schreiben, und schließlich auf der Suche nach seinen Feldtagebüchern sein Auto aufbrachen. Aber auch Wohnungsamt, Sozialamt und Krankenhaus ticken im Ghetto anders. Selbst die einfachsten und notwendigsten Dinge setzen Gegenleistungen in Form von Schmiergeldern oder sexuellen Dienstleistungen voraus.
Mit Philippe Bourgois und Loïc Wacquant gehört Venkatesh zu den jungen Wilden der US-amerikanischen Armutsethnographie. Wenn sie arme Menschen porträtieren, versuchen sie, die Standardfehler der Pathologisierung und der Heroisierung zu vermeiden. Arme sind weder Schmiede ihres eigenen Unglücks. Das wäre die Figur der Schuldzuweisung an die Opfer. Noch sind sie tapfere Kämpfer unter widrigen Umständen. Diese Perspektive würde letztlich zur Romantisierung der Armut beitragen. Wer über den Lebensmut, die Anstrengungen und das Leid der Armen spricht, soll von ihren Fehlern, Entgleisungen und Gewaltausbrüchen nicht schweigen. Mitunter tragen Protagonisten unsympathische Züge, die die Ethnographie nicht aus einem falsch verstandenen Forschungs­ethos zensieren darf. Nicht zuletzt gilt es, die moralischen Fehltritte des Ethnographen selbst und seine Verstrickungen im »Feld« zu thematisieren. Das passiert, etwa wenn Venkatesh die Episode schildert, in der er selbst zu prügeln begann, oder die, in der er sträflich naiv J. T. und Ms. Bailey die Einkommensverhältnisse anderer Bewohner offen legte. Die Nacherhebung hinterzogener Steuern und die Prügelstrafe für die Hinterzieher folgten auf dem Fuße.
Der Soziologe, der mittlerweile Professor an der renommierten Columbia University in New York ist, verzichtet in seinem Buch vollständig auf einen ausgewiesenen Theorieapparat. Das macht es für Leserschichten jenseits der Wissenschaftsgemeinde zugänglich. Implizit freilich wird den Lesern eine gehaltvolle kritische Analyse des US-amerikanischen Ghettos präsentiert. Die in Reaktion auf die strukturelle Gewalt der Armutslage kulturell erzeugte und institutionell verstärkte physische Gewalt im Ghetto durchdringt jede Lebensäußerung. In der Folge wird der Alltag unkalkulierbar, und abweichende Normen und Institutionen etablieren sich. Wer das Buch liest, wird vielleicht verstehen, warum Stadtforscher immer wieder darauf hinweisen, dass es hierzulande keine Ghettos gibt, sondern lediglich den von Politik und Medien angeheizten Ghettodiskurs.

Sudhir Venkatesh: Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben. Aus dem Amerikanischen von Christoph Bausum. Econ, Berlin 2008. 331 Seiten, 18 Euro